BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Arzt (oder Apotheker)»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2014)
von Helmut Hansen
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Einführung

«Die Medizin: Geld her und Leben!»
(Karl Kraus)

Ich weiß, ich weiß, liebe Freunde und Freundinnen des Skepsis-Reservates, der Titel dieses Traktates klingt etwas seltsam. Soll es in Zukunft vielleicht keine Ärzte (oder Apotheker) mehr geben? Das wäre ja Unsinn! Und was wird denn dann aus uns!? Also halten wir gleich zu Anfang fest: Natürlich wird es auch weiterhin Ärzte und Ärztinnen geben (oder Apotheker). Punkt. Nur: Handeln diese auch weiterhin als Ärzte und Ärztinnen (oder Apotheker)? Sind sie daran interessiert, Patienten wieder gesund zu machen? Wie, Sie meinen, diese Fragen seien in der Merkatokratie des finalen Kapitalismus doch längst beantwortet? Und überhaupt: Mit diesem Abschieds-Traktat seien wir ziemlich spät dran und würden einem Trend nur noch hinterher schauen? Stimmt.

Wir haben in der Redaktion des ‹Skepsis-Reservates› einen virtuellen Ordner, der eine Fülle von Plänen und Entwürfen für Texte aller Art enthält. Und seit Jahren lungert dort auch ein Entwurf herum mit dem schönen Titel ‹Abschied vom Eid des Hippokrates›. Während der letzten Redaktionskonferenz zog unser Sachbearbeiter Dr. Feldmann nun genau diesen Text aus dem virtuellen Ordner und hielt ihn mir mit der Bemerkung vor die Nase: «Der ist überfällig!» Nun, sein Wunsch ist uns Schreiberlingen allzeit ein Befehl. Schauen wir uns also an, liebe Leser und Leserinnen, was aus der Profession des Arztes heute geworden ist. Und beginnen werden wir mit einem Blick zurück.


Der Eid des Hippokrates

Dieser Eid, den Schulmediziner noch heute zu schwören meinen und den kein Laie im Wortlaut kennt, ist wahrscheinlich um 400 vor Christus entstanden und vermutlich ist Hippokrates (460 bis ca. 370 v. Chr.) nicht einmal der Urheber. Nach einer längeren Rezeptionsgeschichte ist der ‹Eid des Hippokrates› zu einem ethischen Bollwerk mutiert. Kaum bekannt dürfte sein, daß er eigentlich in erster Linie die Beziehung zwischen einem ärztlichen Lehrer und seinen Schülern regelte und die Verpflichtung enthielt, ärztliches Wissen nicht an Dritte weiter zu geben und sich nicht in die ärztlichen Bemühungen anderer Professionen einzumischen:
«Denjenigen, der mich diese Kunst gelehrt hat, werde ich meinen Eltern gleichstellen und das Leben mit ihm teilen; falls es nötig ist, werde ich ihn mit versorgen. Seine männlichen Nachkommen werde ich wie meine Brüder achten und sie ohne Honorar und ohne Vertrag diese Kunst lehren, wenn sie sie erlernen wollen. Mit Unterricht, Vorlesungen und allen übrigen Aspekten der Ausbildung werde ich meine eigenen Söhne, die Söhne meines Lehrers und diejenigen Schüler versorgen, die nach ärztlichem Brauch den Vertrag unterschrieben und den Eid abgelegt haben, aber sonst niemanden.» [1] Diese und die folgenden Übersetzungen sind von Axel W. Bauer.
Ein für die Rezeptionsgeschichte wichtiger Punkt ist auch die folgende Verpflichtung:
«Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch keinen entsprechenden Rat erteilen; ebenso werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen.»
Schon können wir zusammenfassen:
«In wie viele Häuser ich auch kommen werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintreten und mich von jedem vorsätzlichen Unrecht und jeder anderen Sittenlosigkeit fern halten.»
Es geht jedoch weiter:


Das Genfer Gelöbnis

Angesichts des scheußlichen Verhaltens deutscher Ärzte im tausendjährigen Reich beschloss der ‹Weltärztebund› im Jahr 1949 folgende Deklaration, die in den folgenden Jahren mehrfach revidiert wurde:
«Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein. Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.» [2] Quelle: Die Internetseite der Bundesärztekammer.


Medizin heute

«Nervenpathologie:
Wenn einem nichts fehlt,
so heilt man ihn am besten von diesem Zustand,
indem man ihm sagt, welche Krankheit er hat.»
(Karl Kraus)

Nun, das war das ‹Genfer Gelöbnis›, das war der ‹Eid des Hippokrates›. Und bereits ganz geringfügiges Nachdenken bringt uns zu der Einsicht, daß diese beiden hehren Ethikkataloge nicht nur knapp an der postmodernen Wirklichkeit vorbei gehen, sondern völlig. Wie das?

Nun, blicken wir uns zur Einstimmung kurz um: Wenn im finalen Kapitalismus etwas aus dem Ruder läuft, sagen wir, die Einkommensunterschiede zwischen armen und reichen Mitbürgern werden immer größer, erfinden die ‹Herren des Wörterbuchs› flugs das Fach ‹Wirtschaftsethik›, besetzen es mit einem ‹eingebetteten› Professor für ‹Wirtschaftsethik› und lassen diesen ex cathedra – gleichsam aus dem Lehrstuhl heraus – versichern, nirgendwo stehe geschrieben, eine bestimmte ‹Klasse› von Menschen dürfe nicht das mehrhundertfache eines Facharbeitereinkommens ‹verdienen›. Der Münchener ‹Wirtschaftsethiker› Karl Homann drückt das in seiner absoluten wissenschaftlichen Unabhängigkeit so aus: «Ich kenne keinen einzigen Lehrsatz in der Ethik, aus dem sich eine Gehaltsobergrenze ableiten ließe.» [3] Süddeutsche Zeitung vom 21. Mai 2003, Seite 2. Vgl. auch das Arbeitspapier Nr. 14, Seite 48. Klar. Was sonst?

Je mehr aus dem Ruder läuft, desto mehr Ethik-Kommissionen werden eingerichtet, die sich gut bezahlt immer wieder treffen, um dann die Vorschläge zur Biotechnologie oder zur Hochrisikotechnologie zu machen, die die ‹Herren des Wörterbuchs› erwarten. Klar. Was sonst?

Zurück zur Medizin. Da sich der alles entscheidende Auftrag des Arztes (oder Apothekers) in der Postmoderne völlig gewandelt hat, sind Ethik-Kommissionen in der Medizin, sind Rekurse auf den Hippokratischen Eid sehr vonnöten. Sie lassen uns daran glauben, in der Medizin ginge es um die Ausübung der hehren Heilkunde, ginge es um etwas Höheres. Geht es aber nicht. In unserem Arbeitspapier Nr. 11 auf Seite 6 schreiben wir:
«Wir denken, daß das Haupt-Motto der Postmoderne ist: Es geht um nichts! Alles ‹Höhere› wie Anspruch, Moral, Sinn, Normen, Grenzen, Werte (z. B. Solidarität), Botschaften, politische Ziele, menschliche Ziele, Berücksichtigung von späteren Folgen etc. interessiert nicht mehr. Statt dessen geht es um die in jeglichem Sinne vorteilhafte Inszenierung der eigenen Person im akuten Hier und Jetzt, auch auf Kosten anderer, wenn sich’s halt ergibt. Obwohl vermutlich nicht Anti-Sozialität im Mittelpunkt steht, sondern eher A-Sozialität, Nicht-Sozialität, d. h., soziale Zusammenhänge außerhalb der eigenen Systemgrenzen sind irrelevant. Darüber hinaus hat sich die Postmoderne mit dem finalen Kapitalismus und dessen Auswirkungen bis in alle Lebensbereiche hinein abgefunden. Oder anders: Die Postmoderne ist wirklich gewordener, intensiv gelebter Final-Kapitalismus.»
Jetzt brauchen wir nur noch unsere Vorstellung von einer Überhöhung des ‹Ichs› und einem intensiv gelebten Final-Kapitalimus zusammenzufügen, und, voilà, wir hören das Motto der Jetzt-Zeit. Es lautet: ‹Und was habe ich davon?› Natürlich könnten wir auch sagen: ‹Unterm Strich zähl ich!› Klar. Was sonst? Und jetzt verstehen wir, warum eine Kassenärztliche Vereinigung eine Fortbildungsveranstaltung für Ärzte anbietet zum Thema: «Erfolgreich verkaufen in der Arzt-Praxis!» Klar. Was sonst?


Gesundheit als Ware, Patienten als Kunden, Ärzte als Verkäufer

«Wie nennt Ihr das Übel,
Doktor, das unseren Freund angefallen hat?
Paßt hier keiner von den dreitausend Namen,
mit denen Ihr Eure Unwissenheit ausputzt?»
(Johann Wolfgang von Goethe)

Diese Überschrift faßt so etwa zusammen, um was es heute dem Arzt (oder Apotheker) geht. Ziel des Einzelunternehmers Arzt kann es nicht sein, dem ‹Eid des Hippokrates› zu folgen oder ethischen Duseleien nachzugehen, sondern die Herausforderung anzunehmen, an dem von ihm gewünschten Wirtschaftsstandort ein Gesundheits-Unternehmen aufzubauen und damit Gewinne zu machen. Ein postmoderner Arzt versucht, sein Einkommen aktiv selbst zu beeinflussen, ziemlich unabhängig von den Leiden seines ‹Patientenguts›.

So haben Ärzte ‹Leistungen› erfunden, die – angeblich – von den Krankenkassen nicht erstattet werden, und ‹Praxis-Manager› kümmern sich darum, diese gegen Bargeld an die Kunden zu verkaufen. So haben Firmen aus dem Gesundheitssektor Computerprogramme erfunden, die dem Unternehmer in seiner Praxis in jedem einzelnen Verkaufsfall zeigen, was sich weiter noch an diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen abrechnen ließe, welche Abrechnungs-Positionen bereits überbelegt sind, welche zusätzlichen Maßnahmen Erfolg versprechend verkauft werden können etc. Selbstverständlich haben diese Praxis-Programm-Empfehlungen nichts mit einer wie auch immer gearteten medizinischen Notwendigkeit zu tun, und selbstverständlich arrondiert das Programm auch Leistungen und Verkäufe, die gar nicht erbracht wurden.

In der Postmoderne ist der Arzt (oder Apotheker) zum homo oeconomicus geworden, seine Aufgabe als Heilkundler oder Helfer ist nicht mehr wichtig. Sie spielt nur noch eine Rolle bei der Konstruktion seiner ‹corporate identity›.


Wer?

«Eine der verbreitetsten Krankheiten ist die Diagnose.»
(Karl Kraus)

Wenn wir das Problem, unser Unbehagen, die offensichtliche Unumkehrbarkeit des Medizinwesens im finalen Kapitalismus ganz genau benennen wollen, dann können wir dies sagen:

Wenn wir heute in einer gesundheitlichen Notlage einen Arzt aufsuchen, dann wissen wir nicht mehr, mit wem wir es zu tun haben: Will uns dieser Mensch wieder gesund machen? Oder will er an uns verdienen. Steht mir ein Arzt gegenüber, oder ein Unternehmer. Wird er zu meinem Wohl handeln, oder zu seinem? Abschied vom Arzt? Ja.

Nur ein Beispiel:
Eine Hautarztpraxis, die nur mit Terminvergaben arbeitet. Der Patient ist fünf Minuten vor dem Termin da. Diese fünf Minuten nicht mitgerechnet wartet er genau 29 Minuten. Dann wird er in ein winziges Behandlungszimmer gerufen und wartet erneut sechs Minuten. Dann kommt ein Arzt und sieht sich etwa vier Sekunden lang die Hautveränderung im Gesicht an. Der folgende Dialog wurde getreulich aufgezeichnet:
«Also, das hier ist nix. Gibt es in Ihrer Familie denn viele Hautveränderungen?»
«Nein.»
«Wann haben Sie das letzte Mal ein Ganzkörper-Screening gemacht?»
«Vor Jahren.»
Arzt setzt sich an einen Computer: «Dann trage ich Sie jetzt mal ein.»
«Nö. Muß nicht sein.»
«Das ist sehr wichtig! Ich trage Sie jetzt mal für die Untersuchung ein!»
«Nein.»
Arzt blickt erstaunt auf und schaut zum ersten Mal dem Patienten in die Augen:
«Sind Sie Arzt?»
«Nein.»
«Was denn?»
«Philosoph.»
«Das ist ja noch schlimmer.»
Der Diskurs zwischen Arzt und Patient währte kaum mehr als eine Minute. Auf der Wochen später verschickten Rechnung stand neben einer ‹ausführlichen Beratung›, einer ‹Dermatoskopie unter erschwerten Bedingungen› und einer ‹fachspezifischen Untersuchung› auch ein ‹Ganzkörper-Screening›. So geht das.

Jetzt sollten Sie, lieber Leser, liebe Leserin, noch einmal weiter oben das Genfer Gelöbnis lesen. Und dann – in Ruhe – sich an all das erinnern, was Sie selbst in diesem Zusammenhang erlebt haben.


Ausblick

«Findet euer Arzt nicht gut, daß ihr viel schlaft oder Wein trinkt
oder diese und jene Speise eßt - seid unbesorgt.
Ich will euch leicht einen finden, der anderer Meinung ist.»
(Michel de Montaigne)

Kommen wir zum Schluß. Schauen wir nicht nach Norwegen oder Schweden, wo der Staat es als seine Aufgabe ansieht, ein kostenloses Gesundheits- und Bildungssystem aufrechtzuerhalten. Nein, schauen wir auf das blühende Deutschland: Unsere Energieversorgung und die ganz wesentlichen ehemaligen Staatsaufgaben wie Verkehr, Post, Telefon und Kommunikation sind weitestgehend privatisiert. Und das heißt, es geht nicht um eine sichere und preiswerte Versorgung aller Bürger, sondern es geht darum, daß irgendjemand an diesen Leistungen verdient. Und so ist mittlerweile auch abzusehen, was aus unserem privatisierten Gesundheitswesen werden wird. Denn daß das Kapital sich den medizinisch-industriellen Komplex je wieder aus den Händen nehmen läßt, ist völlig unwahrscheinlich. Es gibt mittlerweile Konzerne, die hunderte Krankenhäuser betreiben.

Die großen ‹Medizinischen Versorgungszentren› – in Bochum gibt es schon zwei – weisen den Weg. Anonyme Investmentgesellschaften kaufen zig Kassenarztsitze (das ist im Kapitalismus natürlich erlaubt) und besetzen diese mit lohnabhängigen Ärzten oder Psychotherapeuten. Da diese dann keine Unternehmer sind und recht wenig verdienen, dürfte nicht nur klar sein, wer diese Jobs ausfüllen wird, sondern auch, in welcher Qualität hier ‹Gesundheitsleistungen› erbracht werden. Die Ökonomie killt den ‹Hippokratischen Eid›. Für immer?

«Vor einhundert Jahren, als in Deutschland das System der Krankenversicherung erfunden wurde, hätte es man sich wohl nicht vorstellen können, dass Pflichtgebühren, die als Beitragssätze für die gesetzlichen Krankenkassen erhoben werden, nicht in die Entlohnung der in der Krankenversorgung Tätigen einfließen, sondern als Gewinne auf Konten von Investoren enden.» [4] Paul U. Unschuld in der SZ vom 27./28.12.2008,Seite 20.

So ist es, aber alle anderen Vorstellungen würden bei uns im blühenden Deutschland von allen eingebetteten Journalisten sogleich als ‹Sozialismus› gebrandmarkt und verlacht.

Ach ja, und was ist jetzt mit dem Apotheker? Das, liebe Leserinnen und Leser, müssen Sie selbst herausfinden!



Kommentar:

Lieber Helmut Hansen!

Ihr Text gefällt mir. Aber ich lese ihn ungern, weil er ein fürchterliches Unbehagen reaktiviert. Dieses Unbehagen ist vielleicht so etwas wie das „Leiden der Ärzte“. Ich leide auch darunter. Denn ich bin Arzt.

Gelegentlich habe ich meinen Assistenten gesagt, dass wir unsere Situation selbst gewählt haben – wir hätten ja auch einen anständigen Beruf lernen können – Dachdecker zum Beispiel. Oder ich stelle einfach fest, dass die Medizin auch nicht besser geworden ist, seit die Juristen, die Ökonomen und die Software-Spezialisten sich darum kümmern. Auch, dass ein guter Arzt ist, wer die Selbstheilung nicht behindert oder dass häufig bei interdisziplinären Besprechungen das Ziel nur ist, die Inkompetenz mit einigen Kollegen zu teilen und sie damit erträglicher (für den Arzt) zu machen. Immerhin hat die Marketingabteilung unseres Krankenhauses jetzt eine Sportveranstaltung gesponsort – man nützt die Gelegenheit, dort für „Kunden“ zu werben. Für Kunden, die eine Zusatzversicherung abgeschlossen haben. Wenn das kein Fortschritt ist!

Vor über 20 Jahren habe ich in einer Psychosomatikklinik meine erste Stelle gehabt. Ob es damals wirklich viel besser war, weiss ich nicht. Aber es gab keinen Moment, wo man den Druck der Abteilung „Finanzen und Controling“ spürte. Wir waren einfach Ärzte und haben keinen Gedanken an Budgets oder Kostenstellen verschwendet. Und klar: Manches hätte man aus heutiger Sicht medizinisch besser machen können.

Immer wird im Zusammenhang mit Ärzten und Gesundheitswesen das Einkommen thematisiert. Wenn ich mich dazu auch äussere, so wird man mir vorwerfen, dass aus meinen Ausführungen der Neid der Besitzlosen herauszulesen sei. Zweifellos hat aber missbräuchliche Anwendung der Abrechnungssysteme dazu geführt, dass wir als Ärzte (am besten gleich alle, das verschafft Übersicht) als geldgierig wahrgenommen wurden. Und es hat dazu geführt, dass „ökonomisch Denkende“ erkannt haben, dass im Gesundheitswesen Geld zu verdienen ist. Nur muss man es entweder schnappen, bevor es die Ärzte bekommen, oder noch besser, man macht sich diese zu Komplizen, und sorgt dafür, dass man am Verkauf ihrer Leistungen seinen Teil bekommt. – Die Ärzteschaft als Herde von Goldeseln – Die Logik des Systems ist nachvollziehbar. Dumm ist, wer es nicht zu nutzen versteht.

Heute werden Krankenhäuser als Aktiengesellschaften betrieben. Denn nur der Markt kann durch Wettbewerb und Konkurrenz die Qualität garantieren – und den tiefen Preis. Wer das nicht einsieht, versteht einfach nichts vom Geschäft. Alle anderen haben von Aldi etwas gelernt. Zugegeben, wenn der Markt schon in der Finanzwelt, wo er eigentlich auf Laborbedingungen trifft, nicht funktioniert, ist die Illusion vielleicht seit ein paar Monaten etwas getrübt. Aber wollen wir uns wirklich von einer einzigen Krise gleich entmutigen lassen? Wenn die Patienten sich nicht marktgerecht verhalten, so müssen sie dies eben auch noch lernen. Ich möchte gerne einen Kurs anbieten für Grossmütter über 75: „Wie verhalte ich mich marktgerecht auf der Notfallstation?“ Die Lernziele des Kurses sind einfach: Man muss sich nach dem Preis für die Operation der Schenkelhalsfraktur erkundigen. Per Mobiltelefon fragt man den Preis in den umliegenden Krankenhäusern, bei den anderen "Leistungs-Anbietern" nach. Und dann läuft man einem teuren Krämer davon und lässt sich preiswerter andernorts operieren. – Geht doch, oder?

Dass im Gesundheitswesen „der“ Markt nicht funktionieren kann, ist eigentlich allen klar. Dass die betriebswirtschaftlichen Interessen eines Gesundheitszentrums den volkswirtschaftlichen Interessen, im Gesundheitswesen zu sparen, widersprechen, ist offensichtlich. Die Gesundheitspolitiker tun sich aber nicht schwer, sich mit Sparargumenten zu profilieren und gleichzeitig die Gesundheitszentren als Beweis ihrer Wirtschaftsverbundenheit und ihres Qualitätsbewusstseins zu fördern. Wer hier einen Widerspruch hineininterpretiert, beweist nur seine Inkompetenz in diesem komplexen Umfeld. Jetzt will ich aber aufhören mit sarkastischen, ironischen und zynischen Ausführungen.

Mit Ihrem Text „Abschied vom Arzt“ kann keine Illusion mehr zerstört werden. Weil ich sie selber schon längst nicht mehr habe. Es ist zwar noch immer einfach, in der Sprechstunde oder am Patientenbett Arzt zu sein. Der direkte Kontakt mit dem Patienten hilft, gedanklich, emotional den gesundheitspolitischen und –ökonomischen Zwängereien zu entfliehen. Erst wenn man seine Umsatzzahlen, die Anzahl Konsultationen oder die Wartezeiten für die Sprechstunde rechtfertigen muss aber wirklich nicht weiss, wie diese Zahlen erhoben und zusammengestellt wurden, kommt Verzweiflung auf. Es gibt jedoch nichts zu reklamieren! In der Industrie geht es auch so! Die strategischen Vorgaben werden von der Geschäftsleitung gegeben. Wir sind nur für das operative Geschäft verantwortlich. Alles klar?

Ihre Analyse im Traktat beschreibt die Missstände gut. Das Problem ist sichtbar und wird dennoch nicht erkannt. Wie kann daran etwas verbessert werden? Mit welchen Methoden kann man auf diese Entwicklung reagieren? Klagen ist keine Lösung. Resignieren noch weniger. Kämpfen wie ein Michael Kohlhaas möchte ich auch nicht.

Mir ist bewusst, dass es nicht die Aufgabe des Kritikers ist, die Lösung auch noch anzubieten. Dennoch interessiert mich, was Sie dazu denken, wie man die in Gang befindliche Entwicklung beeinflussen könnte. Welche Ideen haben Skeptiker angesichts der Zustände und Entwicklungen im Gesundheitswesen?

Freundliche Grüsse

von Thomas B. aus der Schweiz



Ins Netz gestellt am 17. März 2014
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