BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Abschied von der Aufklärung (4): Die «Bewegung»
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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J.G. Herder oder S.P. Huntington?

In den derzeitigen Debatten und Demonstrationen geht es um eine alte Geschichte: Morgenland versus Abendland, Kampf der Kulturen, Kampf zwischen Zivilisationen. Wer sich über zwei auch heute lebendige Pole in dieser Debatte informieren möchte, lese den wunderbar klaren Bochumer Bericht Nr. 6 von Alexandra Martz, Svea Steinweg und Pia Maria Gerber. Hier ist fast alles gesagt, was gesagt werden sollte.

Und wer noch weiter zurück gehen mag, lese Lessings Ringparabel von 1778/79 [1] NATHAN: «Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr/Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt:/Geht nur! - Mein Rat ist aber der: ihr nehmt/Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von/Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:/So glaube jeder sicher seinen Ring/Den echten. - Möglich; daß der Vater nun/Die Tyrannei des einen Rings nicht länger/In seinem Hause dulden wollen! - Und gewiß;/Daß er euch alle drei geliebt, und gleich/Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,/Um einen zu begünstigen. - Wohlan!/Es eifre jeder seiner unbestochnen/Von Vorurteilen freien Liebe nach!/Es strebe von euch um die Wette,/Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag/Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut/Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,/Mit innigster Ergebenheit in Gott/Zu Hilf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte/Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:/So lad' ich über tausend tausend Jahre/Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird/Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen/Als ich; und sprechen.» , in der nicht der Gehalt der drei großen Religionen (Christentum, Judaismus, Islam) diskutiert und gegeneinander ausgespielt wird, sondern die Aufgaben gezeigt werden, vor denen fromme Menschen jeglicher Couleur im Umgang mit ihren Mitmenschen stehen. Es geht um das Leben von Humanität, Menschenliebe, Herzensgüte, Hilfsbereitschaft und Toleranz. Diese Begriffe, ja, diese Tugenden, definieren für Lessing wirkliche Religiosität.


Kulturkampf von rechts: ‹Die Bewegung›

Die soziale Spaltung nimmt zu, für Millionen Menschen in Deutschland reicht ihr Lohn kaum zum Leben, und die Altersarmut wird für viele erschreckend werden. Es gibt - völlig berechtigt - Abstiegsängste. Daß es nicht allen Kulturinsassen gut geht, ist eine Tatsache, auch wenn unsere Regierung oft das Gegenteil behauptet. Aus all diesem kann ein Gefühl des «Zu-kurz-gekommen-Seins» entstehen, eine Enttäuschung, eine Ahnung, in dieser Welt nur wenig zu gelten. Und dieser Frust kann wütend machen. Mutig wäre es nun, wütend und in einer großen «Bewegung» die weltweite neoliberale Politik und den finalen Kapitalismus anzugreifen, die dafür verantwortlich sind - und nicht Stellvertreter für die Fehlentwicklung zu suchen, die mit dieser nichts zu tun haben. Doch Stellvertreter und Sündenböcke sind leicht gefunden.

Die Anhänger der ‹Bewegung› sehen sich als Benachteiligte, ja als Opfer. Wenn so viele Migranten nach Deutschland kommen, fürchten sie, dass für sie nicht mehr so viel vom Kuchen übrig bleibe. Je mehr Ausländer, desto größer die vermeintliche Angst vor dem Abstieg. Doch die sozialen und ökonomischen Fragen werden gar nicht ausgesprochen, sondern nur erahnt, gefühlt.

So richtet sich der Haß der «Wir sind das Volk!» Rufer eben nicht gegen die Mächtigen (von denen wollen sie nur beachtet werden), sondern gegen Flüchtlinge, also die Schwächsten der Schwachen, und gegen Andersgläubige. Den Fremden, den anders Aussehenden, den Andersgläubigen für die eigenen Ängste verantwortlich zu machen, ist nicht mutig, sondern feige. Die ‹Bewegung› tritt also nach unten und fühlt sich gut dabei.

Die ‹Bewegung› ist mit ihrem deutlichen Überfremdungsgerede, mit ihrer Wahl der vermeintlichen Sündenböcke und mit ihren eklatanten Leerstellen im Wissen und Denken eine schaurige Ansammlung von Mittelmäßigkeit und eine Absage an den aufgeklärten Westen mit seinen grundlegenden Ideen und Idealen, nennen wir sie Menschenrechte, Toleranz, Aufklärung und Liberalität. Man muß aber auch sehen, daß dies eine Tradition hat: National-konservative Leute haben sich schon 1789 und 1848 vehement gegen die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgelehnt.

Doch daneben trifft der Haß auch zum einen die sog. Gutmenschen, die Flüchtlinge, dieses «Viehzeuch(!)» und «Gelumpe» [2] Originalzitate eines ehemaligen «Führers» der ‹Bewegung›. , auch noch bei uns willkommen heißen, und zum anderen die sog. «Lügenpresse». Ja, wenn man wirklich fast alles liest, was die Kommentarspalten in der sog. «Lügenpresse» überquellen läßt, dann ist es immer wieder auch dies: Es geht gegen die Gutmenschen! Denn Gutmenschen glauben an die Aufklärung, an die Gleichheit aller Menschen unabhängig von Herkunft, Glaube, Geschlecht oder sexuellen Orientierung. Die Gutmenschen sähen die großen Gefahren nicht, heißt es immer wieder. Und diese Gutmenschen beherrschten die sog. «Lügenpresse».

Dieser Gutmenschen-Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen, diesem unbedingten Aufruf zur Toleranz und Mitmenschlichkeit wird nun der Kampf angesagt mit einem «Das wird man ja noch wohl sagen dürfen!» Die ‹Bewegung› meint, Mut zu zeigen und schwenkt dabei Deutschland-Fahnen. Als ob Mut dazu gehört, gegen die Gleichheit aller Menschen zu demonstrieren und sich offensiv von der Aufklärung zu verabschieden. Die neue ‹Bewegung› hat eine menschenfeindliche Grundhaltung ohne jede Empathie und Altruismus, und versteht sich dabei gleichzeitig als Opfer. Das muß man erst einmal hinkriegen.

Nach allen Kommentaren zu urteilen, die die Anhänger der ‹Bewegung› in der einschlägigen sog. «Lügenpresse» hinterlassen haben, identifizieren sie sich mit einem rechtskräftig verurteilten Straftäter, der dieselben Straftaten begangen hat, für die er unliebsame Ausländer gerne abschieben möchte. Und dieser Mann wurde nach der Entdeckung seiner Sprachwahl (siehe oben) und seinem Rücktritt als «Führer» der ‹Bewegung› mit allen Mitteln verteidigt. [3] Ein Originalzitat: «Endlich hat die Macht es geschafft, hat die Macht (Politik, Medien, Geheimdienste) es geschafft, endlich hat sie etwas gefunden um die Bewegung zu schaden um sie kalt stellen. Man konnte einfach erahnen das Kräfte damit beschäftigt waren etwas gegen di Bewegung zu unternehmen dass nichts mit Argumenten zu tun hat. Wer weiß wie viele Leute hiermit beschäftigt gewesen sind. Weshalb soviel Aufwand ? Weil die Bewegung, obwohl sie eigentlich sehr klein ist, potenziell die größte Bedrohung der Macht darstellt seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Ob man es mag oder nicht, jeder weiß dass sehr viele Deutsche so denken wie die Bewegung. Und diese Deutsche befinden sich in alle Parteien. Diejenigen die glauben dass sie hiermit auch nur ein Problem in Deutschland gelöst haben, irren sich ! All die vielen Menschen die so denken wie die Bewegen bleiben so denken und werden in ihr Denken nur noch gestärkt wegens des Druckes der herrschende Mächte. Die Gegner spielen mit Feuer!» Erstaunlich? Nein. Warum? Was ist das Argument? Es erinnert mitsamt seinen Verschwörungstheorien an die Exkulpation eines Idols. So schlicht ist das. Immer wieder.


Zur Psychologie des Schlechtmenschen

Fangen wir mit dem Schlimmsten an. Wir haben uns ja an die stetig zunehmende Dummheit und Belanglosigkeit von Äußerungen in allen sog. sozialen Medien schon länger gewöhnt, dennoch trifft es uns immer wieder, wenn wir sehen, wie etwa die Kommentarspalten der einschlägigen Medien von Menschen frequentiert werden, die außer einer bornierten Selbstreferentialität und einer informationellen Geschlossenheit nichts zu bieten haben. Und dazu immer der Gestus der Empörung und der Besserwisserei. Erstaunlich, wie die Grundannahmen systemischen Denkens allerorten beispielhaft und in vivo vorgeführt werden, und kaum einer merkt es.

Autopoiese, informationelle Geschlossenheit und Selbstreferentialität werden in der Systemtheorie und im radikalen Konstruktivismus schon seit längerem diskutiert. Im Bochumer Bericht Nr. 5 werden die Grundlagen erläutert.

Am deutlichsten ist die ‹informationelle Geschlossenheit› der Anhänger der ‹Bewegung› zu diagnostizieren. Wer nicht ihrer Ansicht ist, hat zu viel in der sog. «Lügenpresse» gelesen. Dabei bestärken sie permanent ihre eigenen Ansichten, indem sie auf den einschlägigen rechtsgerichteten Seiten im Internet die Zustimmung zu ihrem Kampf gegen die Aufklärung suchen und finden. Die Köpfe sind zu. Punkt. Wer hofft, hier mit sog. Fakten dagegen halten zu können, wird scheitern, denn er hat die Grundlagen der Systemtheorie nicht verstanden.

Und wie ist der dauernde Kampf gegen die sog. Gutmenschen und deren permanente Verächtlichmachung zu erklären? Wir befürchten, daß der ‹Schlechtmensch› [4] Dies scheint uns das einzig angemessene Gegenstück zum ‹Gutmenschen› zu sein! den sog. Gutmenschen hasst, weil er vermutet, daß die Gutmenschen die besseren Jobs, mehr Geld, die größeren Wohnungen und die schöneren Sexualpartner haben. Ja, da ist ein Minderwertigkeitskomplex zu diagnostizieren. Alfred Adler in Reinform?

Und daß so viele Gutmenschen keinen Fernseher im Haus haben, Bio-Produkte kaufen, auf Quälfleisch verzichten, ein Konto bei einer Öko-Bank haben, die Umwelt erhalten wollen oder gar kein Auto besitzen - das macht sie erst recht verdächtig. Verdacht in welche Richtung? Nun, dies ist einfach. Die Rede geht so: Die Gutmenschen seien nicht klar im Kopf. Sie ‹hätten sie nicht alle›. Außerdem meinten sie, sie wären was ‹Besseres›.

Wir befürchten, daß es für Schlechtmenschen erleichternd ist, die sog. Gutmenschen zu diffamieren und zu pathologisieren. [5] Originalzitat: «Was für ein grandioses Gefühl zur Mehrheit, zu den Guten zu gehören. Und immer schön draufhauen auf die Minderbemittelten mit ihren "diffusen" (wunderbares Wort zum Abqualifizieren) Ängsten und Ressentiments.» Wenn wir uns das in der Fußnote wieder gegebene Zitat ansehen, spüren wir die Verzweiflung, die Ausweglosigkeit einer gequälten Seele. Und diese Verzweiflung tut uns weh. Diese empörten, aufgebrachten und offensichtlich unglücklichen und untröstlichen Menschen rühren uns an. Sie sind auf einem falschen Weg. Aber sie wissen es nicht. Wir können ihnen nicht helfen, denn sie hören nicht, was wir sagen.

Leider müssen wir noch einen Punkt erwähnen: Rassismus. Der Name der ‹Bewegung›, ihr Aushängeschild gleichsam, sagt alles. Mit der Äußerung über die Gefährlichkeit des Islam, mit Islamkritik, hat die sog. ‹Bewegung› jedoch nur einen Popanz aufgebaut, nein, es ist leider so, daß in einem xenophobischen Starrsinn anders aussehende Menschen und Andersgläubige abgelehnt, ja, gehasst werden. Um diesen Hass und den dahinter steckenden Rassismus zu verschleiern, wird von einer Kritik am Islam gesprochen. Doch was soll eine angebliche Kritik bewirken? Daß sich alle Muslime vom Islam distanzieren? Zum Christentum konvertieren? Es geht doch nicht um ‹den› Islam, es geht um Menschen, die sich dieser Religion verbunden fühlen.

Wir befürchten, daß bei vielen Menschen, die sich in der ‹Bewegung› aufgehoben fühlen, die unter ihrem Namen demonstrieren, ein tief sitzender Rassismus, ein tief sitzender Hass auf das Andersartige zu finden sein wird. Wenn sie beim Ausleben dieses Hasses keine Konsequenzen zu fürchten hätten, wer weiß, was dann geschehen mag.


Fazit

Unsere Richtschnur bei allem und jedem, insbesondere auch bei der vermeintlichen Rettung des ‹Abendlandes›, sollte die Vernunft sein. Wie leben in einer säkularisierten Gesellschaft. Staat und Kirche sollten getrennt sein und bleiben. Und laut unserem Grundgesetz sind alle Religionen erlaubt. [6] Artikel 3, Abs. 3: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Artikel 4, Abs. 1 & 2: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Aber aus Religionen selbst lassen sich eben für eine pluralistische und säkularisierte Gesellschaft keinerlei Regeln des Zusammenlebens ableiten. Diese Regeln heißen nämlich bei uns Gesetze.

Gegen einen Fundamentalismus, einen Rassismus jeglicher Couleur kommen wir nicht an. Aber wir können es immer wieder versuchen, um damit - vielleicht - das Ende der Aufklärung etwas hinaus zu schieben.



Ins Netz gestellt am 28. Januar 2015
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