BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Verblasste Mythen (4): Gnade»
von Artus P. Feldmann & Albertine Devilder
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«Dem logisch Denkenden ist Gnade völlig unbegreiflich,
sie wirft alle Normen und Würden durcheinander;
um das Ärgste einzugestehen:
sie ist völlig undemokratisch
und in Amerika wahrscheinlich verboten.»
(Erwin Chargaff) [1] Zitiert nach: Erwin Chargaff (1989): Alphabetische Anschläge. Stuttgart, Ernst Klett Verlag. Seite 246.

Einführung

Ja, liebe Leserinnen und Leser, es geht weiter mit den verblassten Mythen. Nach den Gedanken, die wir uns so sehnlichst herbeiwünschen, da allfällige Meinungen uns nur quälen; nach den Informationen, die uns täglich so lautstark belästigen, und bei denen niemand ahnt, daß es sich nur um wohlfeile Wirklichkeitsbehauptungen handelt; und nach dem Feminismus, dessen Mythos ja nicht einmal verblasst, sondern der als ganzes einfach tot ist, beleuchten wir in diesem kleinen Traktätchen ein Wort, dessen Mythos uns mehr als verblasst erscheint: Gnade. Gnade? Was soll das sein? Wozu braucht man die denn? Schalten wir uns einfach irgendwo in eine andauernde Zentralrede ein, achten wir in irgendeinem sozialen Raum einmal ganz kurz auf das Rattern und Knattern der Konversationsmaschine:

«Also, ganz ehrlich jetzt, mein Vermieter hat doch noch immer keine Nebenkostenabrechnung gemacht. Aber jetzt ist Feierabend, Schicht, da kenn ich – ganz persönlich jetzt – keine Gnade: Jetzt wird die Miete gekürzt. Das kann man. Das ist rechtlich ok. Habe ich neulich erst gelesen. Gut für mich!»


Gnade

Mit diesem sehr gewöhnlichen, überdefinierten und jederzeit zu erwartenden Diskurs-Exzerpt haben wir bereits auf zwei Dimensionen des Begriffs ‹Gnade› verwiesen, mit denen wir uns im folgenden beschäftigen werden. Zum einen hat hier ein Kulturinsasse betont, er würde – ganz persönlich jetzt – keine Gnade kennen. In diesem Stil dürften sich heute fast alle Äußerungen bewegen, in denen das Wort Gnade vorkommt. Denn es ist absolut unwahrscheinlich, daß das schöne Wort Gnade in diesen Zeiten ‹positiv› verwendet wird.

Zum anderen ist in dem obigen Zentralredenexzerpt ein Gegensatz konstruiert worden zwischen ‹Gnade› und ‹Recht›. Wir alle kennen die Metapher ‹Gnade vor Recht ergehen lassen›, auch wenn niemand sich eine Situation vorstellen kann, in der er – ganz persönlich jetzt – Gnade vor Recht ergehen lassen würde. Nun ja. Man muß sehen, wo man bleibt. Wir kriegen ja auch nichts geschenkt, gelle?

Doch der Reihe nach, lege artis. Schauen wir auf die Konnotationshöfe des Wortes ‹Gnade› [2] Wie immer gilt unser großer Dank dem Duden - Synonymwörterbuch, 3. Aufl. Mannheim 2004.:

Die ersten Assoziationen und Konnotationen bewegen sich in einem Bedeutungsraum, der mit den Wörtern «Achtsamkeit, Edelmut, Entgegenkommen, Freundlichkeit, Geneigtheit, Gewogenheit, Gunst, Güte, Wärme, Wohlwollen und, ja, Huld» umschrieben werden kann.

Ein zweiter Konnotationsraum öffnet sich mit den Wörtern «Barmherzigkeit, Erbarmen, Fürsorglichkeit, Großmut, Herzensgüte, Milde, Mitgefühl, Nachsicht, Vergebung und Verzeihung». In der Geschichte des Wortes ‹Gnade› ist auch oft von einer Schonung eines Besiegten, von Milde und Mitleid gegenüber einem Unterlegenen, Verurteilten oder Untergebenen die Rede.

Und wenn einem Menschen Gnade erwiesen wird, wenn jemand zu einem anderen Menschen gnädig ist, dann legt sich ein dritter Bedeutungsraum auf die beiden vorhergehenden, um eine wirklich wunderschöne Schnittmenge zu bilden. Und die Wörter hier sind «Behagen, Freude, Hilfe, Rast und Ruhe».

Wir sehen: Wenn jemand uns eine Gnade erweist, einen gnädigen Akt erfahren läßt, dann sind wir wohl aufgehoben, denn unser Mitmensch ist uns gegenüber achtsam und freundlich, barmherzig und milde, und damit gewährt er uns nicht nur eine Hilfe, sondern eine Gelegenheit, zu unserer Ruhe zurück zu finden.

Sicher, viele Kulturinsassen können sich bei dem Wort ‹Gnade› irgendwie daran erinnern, daß da mal was war mit einer ‹Gnade der späten Geburt›. Das brauchen wir aber nicht zu beachten, denn da hat sich nur ein ewiger Kanzler was in eine Rede schreiben lassen, das er nicht verstand. Finis.


Ohne Gnade

Nach diesen schönen sprachkritischen Unterscheidungen, nach diesem nominalistischen Gepränge, möchten wir einige Beispiel aus dem täglichen Leben heranziehen, in denen das Wort ‹Gnade› selbstredend keine Rolle spielt.

Schauen wir auf das, was von der Postmoderne übrig blieb und auf Beschäftigungsverhältnisse im finalen Kapitalismus. Jeder kann nachlesen, wie die Zahl der entrechteten Zeit- und Gelegenheitsarbeiter mit ihren Hungerlöhnen zunimmt, wie die Ungleichverteilung von Reichtum und Wohlstand immer deutlicher wird.

Schauen wir auf das christliche bayerische Schulsystem und wie gnadenlos Selektionen hier – und in den verschiedensten Bereichen unseres Gemeinwesens – vorgenommen werden. Das wird so weiter gehen: Kinder werden weiter zurückgewiesen und Armut sichtbarer werden. Und die Gnadenlosigkeit gegenüber Armen, Schwachen und Migranten wird zunehmen. Das muß so sein. Es wird nach rechts gehen. Keine Frage. Und politisch ‹rechts› zu stehen ist ein Synonym für Gnadenlosigkeit gegenüber allem, was schwach oder andersartig ist. Edelmut? Hier? Pfff.

Ein ‹Fall›, ein Beispiel von extremer Gnadenlosigkeit, beschäftigt uns seit längerer Zeit. Hier sind unsere Gedanken dazu.

Da sind zwei Jugendliche, schmuddelig, stinkend, betrunken, unsicher, aussätzig, stolz auf gar nix. Sie sind - obwohl noch keine zwanzig – am Ende ihrer Zukunft angekommen. Niemand will sie haben, keiner braucht sie. Von den Eltern verstoßen, von den Schulen ausgestoßen, also ohne jede Bildung, in einem Heim lebend, verbringen sie ihre Zeit mit Trinken und gelegentlichen Drogenfreuden, falls das Geld reicht. Da es nicht reicht, bedrohen sie hin und wieder Kinder, also Schwache, und nehmen ihnen etwas Geld ab. Da kennen sie keine Gnade. Denn sie haben nie eine Gnade erfahren.

Und da ist ein Manager, gut gekleidet, gut riechend, gebildet, fest und sicher im Auftreten, stolz auf ganz viel. Er beschimpft und bedroht die Aussätzigen, um schließlich einem von beiden mitten in das Gesicht zu schlagen, so daß es blutet. Er kennt keine Gnade gegenüber einem in jeder Hinsicht Unterlegenen und Verurteilten, denn in seinem Beruf als Manager, in welchem das ‹Darwinistische Prinzip›, so wie er es versteht, gilt, hat er nie ein Erbarmen erfahren. Darüber hinaus spürt er in jedem Fitzelchen seines Selbst eine ungeheure Überlegenheit gegenüber diesem stinkenden Abschaum. Betrunken und schmerzensreich wüten die Aussätzigen zurück. Gnadenlosigkeit trifft auf Gnadenlosigkeit. Das Ende ist vorhersehbar.

Selbstredend muß ein gut gekleideter, gut riechender, gebildeter, und fest und sicher auftretender Jemand, dessen kapitalistische Lebenswelt ohne Gnade und ohne Erbarmen ist, und der deswegen einem anderen – gar aussätzigen – Jemand keine Gnade und kein Erbarmen einräumen kann, vor der Prüfung aller ‹Tatsachen› ein Bundesverdienstkreuz bekommen – und nach der Prüfung aller ‹Tatsachen› ein Denkmal.

Gnadenlose Zeiten? Oh ja. No mercy!



Kommentare:


Lieber Dr. Artus P. Feldmann, liebe Albertine Devilder!

Ihr Traktätchen zur Gnade spricht mir wieder aus der Seele! Vielen Dank. Gnadenlosigkeit ist wirklich eine treffende Beschreibung von ‹politisch rechts›. Ich habe diese Haltung bisher immer als Mangel an Empathie und &xnbsp;Phantasie angesehen, den ich übrigens bei FDP-Mitgliedern am häufigsten zu beobachten meine. Ich denke, Gnadenlosigkeit rührt von diesem Defizit her.
Der wohlriechende Manager war bestimmt auch in der FDP!

Gnadenlosigkeit ist aber auch ein Mangel an Respekt, was ja wörtlich Rücksicht bedeutet. Bedeutet Respekt vielleicht: Ich schaue auch auf mich zurück und stelle fest, dass die Anderen und ich die gleichen Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Ansprüche haben?

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen,

Ihre Lisa R. aus B.

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Lieber Artus, liebe Albertine,

euer Text zum Wort ‹Gnade› hat mich zuerst verstört und beunruhigt, aber nach einer Weile hatte ich plötzlich den ganz klaren Gedanken, warum dies schöne Wort – im eigentlichen Sinn – im aktuellen Diskurs und im Miteinander in den Nullerjahren keine Rolle spielt und keine Rolle spielen kann. Ich hole etwas weiter aus.

In der Postpostmoderne und im zugespitzten finalen Kapitalismus stellen sich die Besiedler dieses Landes – im Rahmen ihrer seltsamen Ego-Überzeugungen – bei allen ihnen widerfahrenen Ereignissen nur eine Frage: «Und was habe ich davon?» Das führt in fast allen sozialen Räumen zu einem ‹Unbehagen in der Kultur›, zu einer albernen Dauerempörung, einem permanenten Sich-Beschweren, Jammern und Beklagen, zu den beliebten Rechtshändeln, der Gier und somit zu der ununterbrochenen Jagd nach dem ‹günstigsten› Preis, den zu entdecken und auf ihm zu bestehen als grosse individuelle Leistung gilt. Die vom finalen Kapitalismus aufgefressenen ‹Ichlinge› können sich eine Aktion, eine Begebenheit, in der sie mal nicht auf ihren – ganz persönlichen – Vorteil achten, kaum mehr vorstellen. Sie haben den zerstörerischen Grundgedanken des Kapitalismus verstanden, wissen aber nicht, daß sie unter eben diesem leiden.

Und nun kommt das alte Wort ‹Gnade› daher, welches die postpostmodernen ‹Ichlinge› ausschließlich im Zusammenhang mit «Also, da kenn ich jetzt keine Gnade ...!» kennen, und behauptet aus seinen Konnotationen von Edelmut, Wohlwollen, Milde, Güte und Erbarmen heraus, daß es auch Akte ohne jede Gegenleistung geben kann! Ohne jede Gegenleistung!?

Ein postpostmoderner und vom Kapitalismus völlig besetzter ‹Ichling›, dem diese Konnotationen erst ganz mühevoll erklärt werden müssen, reagiert auf die Vorstellung, daß es Akte ohne jede Gegenleistung geben könne, gänzlich ungehalten: «Ja, wo kämen wir denn dahin, wenn jeder ... ?» Eine gute Frage, die sich aufteilen läßt: «Wenn jeder was?» Und: «Ja, wohin kämen wir dann?»

Antworten auf die letztere Frage werden wir nicht mehr erleben.

Liebe Grüße von

Ella B. aus B.

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Lieber Artus,
was Ella da schreibt ist ja gut und schön und durchaus einleuchtend. Ich bleibe aber dabei, dass es ein Mangel an Vorstellungsvermögen ist, der die Gnadenlosigkeit der postmodernen ‹Ichlinge› verursacht, nicht nur bezüglich dessen, was passieren würde, wenn jeder...

Es handelt sich hier wohl um die Unfähigkeit, sich vorzustellen, in eine Lage geraten zu können, in der man selbst einmal auf Akte ohne Gegenleistung, auf Gnade, angewiesen sein könnte. Und ich frage mich: Woher kommt nur dieses Wähnen in Sicherheit, dieser unerschütterliche Glaube an die eigene Leistungsfähigkeit und diese Überheblichkeit denen gegenüber, die aus welchen Gründen auch immer nicht so leistungsfähig erscheinen wie diejenigen, die immer penetrant behaupten, Leistung müsse sich wieder lohnen?

Etwas müde aber freundliche Grüße, am absoluten Ende der Leistungsfähigkeit!

Ihre

Lisa R.

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Lieber Artus, liebe Albertine,

ich habe mit einiger, wachsender Beklommenheit Euren Traktat zur Gnade gelesen: Hat es die denn je gegeben? Ist das nicht einer der großen romantischen Träume? Ist das vermeintlich menschliche, und nach meinem Verständnis mithin gnädige Wesen (denn in meinem Verständnis ist das eine vom andern nicht zu trennen, ist schlicht ein und dasselbe Molekül wo nicht Atom), also gnädige menschliche Wesen unserer Spezies nicht allzeit allzu schnell unter die Räder geraten? Unter die weichen Räder des Komforts und des darin sich räkelnden Ichs?

Ach, es ist so weit nicht her mit den Menschen. Und der sog. zivilisierte Mensch nuanciert diese Unzulänglichkeit noch einmal auf besonders perfide und perverse Weise. Mehr nicht.

B. aus E.



Erstellt: 14. September 2010 – letzte Überarbeitung: 14. September 2010
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