BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kunst des Verstehens (1): Nachtstück, erhellt»
von Bethchen B.
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«Bitte verstehen sie mich nicht zu schnell.»
(André Gide)

Nachtstück, dunkel

Durch die vom Text nicht erfüllten Erwartungen und die damit einhergehende Auslösung kreativer Verstehensprozesse im Erkenntnisapparat der Leser wird das «Nachtstück» von Lisa Blausonne zu beachtenswerter Literatur sensu Oswald Wiener, weil es sich den elementaren Mechanismen des Verstehens zuwendet. [1] Oswald Wiener (1998a): Wer spricht? In: Literarische Aufsätze, Wien: Löcker.Die Geschichte ist bemerkenswert, da sie den bereitwilligen Leser auf eine Sinnsuche schickt, die durch die Verweigerung von im Text zur Verfügung gestellten Interpretationsankern nur zu den eigenen Sinnproduktionsmechanismen zurückführen kann. Dieser Weg ist es vermutlich, den Gabriele ausdrücken möchte, wenn sie in ihrem ‹Kommentar› blümerant skizziert, wie sie ihr Denken beruhigt, indem sie passende Wörter findet.


Exkurs: Erkenntnisautomaten

Die elementaren Mechanismen des menschlichen Erkennens und Verstehens werden von Oswald Wiener in literarischen Experimenten erprobt [2] Oswald Wiener (1972): die verbesserung von mitteleuropa. Reinbek: Rowohlt. Siehe auch: Evo Präkogler (id est Oswald Wiener) (1990): Nicht schon wieder… ! München: Matthes & Seitz. und in theoretischen Schriften analysiert. [3] Oswald Wiener (1996): Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York: Springer. Und: Oswald Wiener (1998b): Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien, New York: Springer. In einigen ‹Literarischen Aufsätzen› [4] Oswald Wiener (1998c): Warum überhaupt Kunst? ‹Klischee› als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität. In: Literarische Aufsätze. Wien: Löcker. bemüht er sich, seinen automatentheoretischen Ansatz einem im Umgang mit Formalismen nicht geschulten Publikum zugänglich zu machen. Zur Überwindung sprachlicher Barrieren eignet sich Wiener zentrale Begrifflichkeiten Jean Piagets genetischer Erkenntnistheorie an: Schema, Assimilation, Akkomodation. Das ist angemessen, da sich Piagets wie Wieners epistemologisches Interesse ausdrücklich auf die Organisationsformen des menschlichen Geistes als Voraussetzung und Inhalt menschlichen Erkennens und Verstehens richtet. [5] «Wenn das Wahre eine Organisation der Wirklichkeit ist, kommt es […] vor allem darauf an zu verstehen, wie sich eine Organisation organisiert.» (Jean Piaget (1992): Biologie und Erkenntnis. Frankfurt: Fischer.) Oswald Wiener spricht dies (in 1998b, vgl. Fußnote 3) so aus: «hin zu einer Besinnung auf die unserem Verstand überhaupt gegebenen Möglichkeiten.»

In der gebotenen Kürze kann weder eine Einführung in Oswald Wieners Maschinen-Metaphorik, noch in Piagets Erkenntnistheorie gegeben werden. Der geneigte Leser sei an die einschlägigen Arbeiten verwiesen. Als vorläufige Darstellung muss an dieser Stelle genügen, dass ein Schema eine gegebene Struktur (‹Automat›‚ ‹Maschine›, ‹Programm›) des Erkenntnisapparates darstellt. Ein einzelnes Schema ist nur in Ausnahmefällen isoliert aktiv, gemeinhin sind mehrere solcher Programme in einer ‹Laufumgebung› organisiert und wirken wechselseitig aufeinander ein. Die Assimilation entspricht im weitesten Sinn der Integration der Ergebnisse der Aktivität parallel aktiver Schemata (‹Signalfolgen›, ‹Zeichenketten›, unscharf: Information, auch aus der Umwelt) an ein gegebenes Schema. Akkomodation ist die Reorganisation eines Schemas – oder einer Anordnung von Schemata –, bedingt durch die Ergebnisse gleichzeitig aktiver Schemata. Ein Produkt der Aktivität von Schemata wird als Vorstellungsbild ‹bewusst› repräsentiert, wenn mehrere Schemata in einer gegebenen Laufumgebung das gleiche Resultat produzieren, wobei der Grad der Tiefe des ‹Bewusstseins› auf die Anzahl und Art der konvergierenden Schemata bezogen ist.


Nachtstück, beleuchtet

Anhand des «Nachtstücks» soll dieser einigermaßen abstrakte Prozess veranschaulicht werden: Eine Laufumgebung dominanter und untergeordneter Schema organisiert sich beim Lesen der ersten Zeilen eines Textes. Das hierarchisch am höchsten anzusiedelnde Schema entspricht in der Literatur der Gattung einer Erzählung. Stilformen wie Kriminalroman, wissenschaftliche Abhandlung, Theaterstück, mathematische Gleichung oder Gedicht haben eine etablierte Struktur. Das Wissen um die Erzählform initiiert eine Erwartungshaltung über Inhalt und Fortschreiten der Handlung. Die Elemente einer traditionellen Konventionen verpflichteten Erzählung – die untergeordneten Schemata, i. e. Personen, Motive, Reimform, Ableitungen etc. – bewegen sich in dem durch die übergeordnete Form vorgegebenen Rahmen. Am einfachsten nachzuvollziehen ist dies am klassischen Liebesroman: Figuren werden vorgestellt, Beziehungen entwickeln sich und die Konstellation der Beziehungen löst sich am Ende im Guten, Bösen oder gar nicht auf. Das angenehm verstörende an Lisa Blausonnes «Nachtstück» ist ihr elegantes Spiel mit eben dieser Erzählform: Die Erzählung weckt anfänglich alle Erwartungen einer Liebes- oder, besser, Beziehungsgeschichte. Begegnung von Frau und Mann, ein erster Abend in ihrer Wohnung, es wird gesprochen. Die Ereignisse scheinen den Leser irgendwo hin zu führen, eine erotische Geschichte vermutlich, Rauschmittel werden konsumiert. Doch die angedeutete Beziehung kommt nicht einmal dazu sich zu entwickeln, sie verliert sich irgendwo in einem vagen Gefühl von Verlassenheit, das sich träge zwischen den Figuren ausbreitet. Der Leser bleibt zurück mit einem doppelten Gefühl der Verstimmung: Auf inhaltlicher Ebene findet die Beziehung zwischen den Figuren nicht statt, und widerspricht damit auf formaler Ebene der Erwartung an den Fortgang einer Beziehungsgeschichte. Zur Verdeutlichung dieses literarischen Kunstgriffs sei eine gewisse Redundanz und die nochmalige naive Trennung von Form und Inhalt gestattet: So wie die Beziehungsbildung zwischen den Figuren auf inhaltlicher Ebene in ihrer Andeutung erstarrt, so gelingt es dem Leser auf formaler Ebene nicht, sich zum Text in Beziehung zu setzen, da nach dem Aufruf des Schemas ‹Beziehungsgeschichte› weitere Elemente zur Bestätigung des aktivierten Schemas nicht nur weitgehend ausbleiben, sondern die Angemessenheit des Schemas darüber hinaus durch das Ausbleiben der erwarteten Beziehung wesentlich in Frage gestellt wird.


Kunst des Verstehens: Sinnproduktion

Die Dissonanz zwischen der übergeordneten Erzählstruktur (‹Beziehungsgeschichte›) und dem ihr untergeordneten Element (‹Scheitern des Beziehungsaufbaus›) erzeugt bei empfänglichen Lesern eine Ergriffenheit, und versetzt so den Erkenntnisapparat in höchste Aktivität: Sinnproduktion, kreatives Verstehen beginnt. [6] «Mir scheint, dass ich am stärksten ergriffen bin, wenn in einem mir vertrauten Schema ein ungewohntes Element auftritt, das ich diesem Schema aber noch subsumieren kann. […] Sozusagen versucht das Schema, dieses Element zu interpretieren, ein Kampf findet statt zwischen den alten Tendenzen und dem sperrigen Element, welch letzteres eben zugleich die Erwartung verzerrt, wenn der Beobachter dies zulässt.» (Oswald Wiener in: 1998c, vgl. Fußnote 4) Im ersten Schritt versucht das übergeordnete Schema das inkongruente Element zu assimilieren. Dies muss im vorliegenden Fall scheitern, weil eine Beziehung notwendige Voraussetzung für eine konventionelle Beziehungsgeschichte ist. Da die Assimilation an das aktive Schema nicht gelingt, wird erprobt, ob das Element an andere Schema assimiliert werden kann. Dies die ‹Suche nach einem Wort›. [7] «Ein Wort ist ein ‹Name› eines Schemas, das heißt […] eine Zeichenkette, die ein ‹von ihr bezeichnetes Schema› direkt aktualisiert.» (Oswald Wiener in: 1998c, vgl. Fußnote 4) Gelingt auch die Assimilation an alternative Schemata nicht, bleibt ‹nur› die Akkomodation des aktiven Schemas, also die sich in die neuen Gegebenheiten fügende Reorganisation des Schemas. Im Fall des Nachtstücks ist eine Akkomodationsmöglichkeit das Schema ‹Beziehungsgeschichte› dahingehend zu erweitern, dass auch ein beziehungsloses Nebeneinander der Figuren assimiliert werden kann, als eine Art gemeinsamer Verlassenheit. Eine andere Möglichkeit ist es, die Laufumgebung umzuorganisieren, also wie Gabriele in ihrem Kommentar aus der an den isolierten Text gebundenen Interpretationsarbeit herauszuspringen, um das Schema ‹Autorin› zu akkomodieren. Der Text wird in einen weiteren Zusammenhang gestellt, andere Schema werden aktualisiert, um so das ‹Gesamtwerk› Lisa Blausonnes auf der Folie des Existentialismus zu lesen. Die an den Text gebundene wie die auf die Autorin bezogene Akkomodationsform erzeugen so nicht nur neue Strukturen im Erkenntnisapparat des Lesers, sondern erhellen im Falle einer gewissen Selbstbeobachtungsbereitschaft des Rezipienten gleichzeitig auch die der Bildung neuer Strukturen zugrunde liegenden Mechanismen des Verstehens. Damit hat das Nachtstück das Ziel jeden künstlerischen und literarischen Schaffens erreicht.



Erstellt: 1. Mai 2002 – letzte Überarbeitung: 8. Mai 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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