BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das Dreieck in Zeiten der Ich-Monster - Gedanken zu Konstruktivismus und TZI» von Christian Hennig
Als PDF-Datei laden

Wie ich zu diesem Thema komme

Im Oktober 2003 nahm ich an einem Seminar von Ken und Mary Gergen teil, in dem es um verschiedene Aspekte des sozialen Konstruktionismus ging. In diesem Seminar (und in den Pausen) wurde darüber nachgedacht, ob die Seminarform den von den Gergens vertretenen frischen Ideen entspräche. Obwohl die Teilnehmenden durchaus die Chance hatten (und auch nutzten), ihre persönlichen Wünsche und Vorstellungen in das Seminar zu bringen und es eine im Großen und Ganzen gute Atmosphäre gab, fragten wir uns, ob man nicht noch weiter von gewohnten Bahnen abgehen könnte; sich in einem solchen Seminar noch mehr als Gruppe eine angenehme gemeinsame Wirklichkeit konstruieren könne, statt größtenteils nur den Gedanken des Stargastes zu folgen (oder auch diese herauszufordern, eigene Erfahrungen zu schildern etc.).

Ich dachte an meine Erfahrungen mit Ruth Cohns Themenzentrierter Interaktion(TZI), die ich als bisweilen umwälzende Form der Gruppenarbeit erlebt hatte, jedenfalls im Universitätskontext. Ich fragte Ken Gergen nach seinen Ideen zum TZI-Postulat «Störungen haben Vorrang». Erwartungsgemäß wusste er aus eigener Erfahrung einige Grundgedanken der TZI zu schätzen, doch gefiel ihm das Wort «Störungen» nicht, da es die Aufmerksamkeit auf einen Mangel lege. Dadurch könne ein Bewusstsein von Mangelhaftigkeit verstärkt oder erst geschaffen werden, und das könne sich negativ auf die Gruppenatmosphäre auswirken. Statt sich auf Störungen zu konzentrieren, wäre es seiner Ansicht nach besser, wenn die Gruppe sich von gemeinsamen guten Gedanken leiten ließe.

Ein weiterer Kontrast zwischen Gergens sozialem Konstruktionismus und der TZI wurde mir beim erwähnten Seminar viel deutlicher, als er es vorher gewesen war. In der TZI geht es um die Gleichgewichtigkeit der drei Elemente «Ich»,«Wir» und «Es» (Gruppenthema) unter ständiger Beachtung des «Globe», also der Umweltbedingungen. Die Stärkung des «Ich», der Identität, ist Programm der TZI: «Ich möchte, dass jeder Mensch ganz ‹Ich› sagen lernt, weil er nur dann seine Erfüllung finden kann.» [1] Cohn, R. C. und Farau, A. (1984) Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Seite 373. Ken Gergen betonte als essenziell für den sozialen Konstruktionismus, sich auf folgenden Gedanken einzulassen: Das «Ich», die Trennung zwischen «innen in mir» und «draußen» ist eine Konstruktion in Sprache, die durch die menschliche Gemeinschaft erst hergestellt wird. Es geht darum, den Gedanken aufzuheben, dass es eine einheitliche «wahre» Identität eines jeden Menschen gäbe, dass sie also «wirklich» irgendwie seien und dieser wahren Wirklichkeit irgendwie gerecht zu werden hätten. Stattdessen wird die fundamentale Rolle betont, den die Kommunikation, die gemeinschaftliche Konstruktion für unsere Welt- und Selbstsicht spielt. Das Pochen auf das Recht der angeblich wahren Identität der postmodernen Einzelnen bei gleichzeitiger Geringschätzung von Gemeinschaft und Kooperation nehmen Gergen und auch die Bochumer Arbeitsgruppe [2] Vgl. dazu Henriette Orheims Traktat «So viel ‹Ich› war nie» als unheilvoll für die postmoderne Gesellschaft, für unser ganzes Leben wahr. [3] Ich verwende den Terminus «postmodern» hier als Bezeichnung für kulturelle Phänomene unserer «spät-» oder «nachmodernen» Zeit, und nicht für eine philosophische oder künstlerische Richtung. Vgl. dazu auch Artur P. Feldmanns Kolumne vom 18.2.2004 Gibt es da noch Platz für eine Stärkung des «Ich», für die Gedanken der TZI?


Warum Konstruktivismus und TZI vielleicht doch ganz gut zusammenpassen

Abgesehen vom von den sozialen Konstruktionisten ungeliebten «Ich» habe ich den Eindruck, dass TZI und Konstruktivismus sich im Grunde sehr gut ergänzen können bzw. auf ganz ähnliche Ideen hinauslaufen. Mit «Konstruktivismus» meine ich hier einen erkenntnistheoretischen Oberbegriff,der so ungefähr jede Ideenwelt umfasst, in der es wichtig genommen wird, dass es keine Beobachtung ohne Beobachter geben kann, dass die Realität nicht davon trennbar ist, was unsere Realitätssicht ist, und dass diese Realitätssicht von uns selber konstruiert wird, in wesentlichem (aber nicht unbedingt ausschließlichem) Maße durch Sprache. Zum Konstruktivismus rechne ich unter anderem den sozialen Konstruktionismus, aber auch den Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld und die mehr oder weniger dazwischen ansiedelbaren Gedankenwelten der Bochumer Arbeitsgruppe, von Heinz von Förster, Humberto Maturana, Francesco Varela, Karin Knorr-Cetina, Ludwik Fleck und anderen.

Ruth Cohn hat sich nicht ausführlich mit Erkenntnistheorie beschäftigt, daher ist es sicher wenig sinnvoll, sie Konstruktivistin zu nennen. Dennoch hat sie in ihren Werken [4] Cohn, R. C. (1975) Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart: Klett-Cotta. Und: Cohn, R. C. und Farau, A., a.a.O. (1984) Hier vor allem Abschnitt 16. einige für mich grundlegende konstruktivistische Prinzipien so klar und einleuchtend formuliert, wie ich sie sonst nirgends gefunden habe. Das beginnt gleich mit dem ersten «Axiom», wie die drei ethischen Leitsätze der TZI genannt werden: «Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit und ein Teil des Universums. Er ist darum gleicherweise autonom und interdependent. Die Autonomie des Einzelnen ist um so größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allem und allen bewusst wird.» [5] Cohn, R. C. und Farau, A., a.a.O. (1984), Seite 357.

Das Verhältnis zwischen Autonomie und Interdependenz ist für mich eine grundlegende Fragestellung des Konstruktivismus. Beide Seiten sind gleichermaßen wichtig: Die Autonomie, die Möglichkeit zur und die Verantwortung für die Konstruktion einer eigenen Weltsicht. Andererseits die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander und von ihrer Umwelt, die Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge, in denen die Menschen zu ihren Vorstellungen kommen, so dass man sie trotz aller prinzipiellen Autonomie auch als unfrei, vorhersehbar beobachten kann. Es ist deshalb kaum sinnvoll, so zu sprechen, als könnten sie sich ihre Gedanken und Gefühle selbst gestalten. Ruth Cohn gibt in diesem Spannungsfeld eine Richtung vor: Autonomie gewinnen -nicht etwa durch Ignoranz oder Leugnung der Interdependenz, sondern durch ihre Bewusstmachung. Der Konstruktivismus postuliert die Verantwortung der Menschen für ihre Gefühle, und Ruth Cohn schildert Aufmerksamkeit und bewusste Anerkennung als Mittel zu ihrer Änderung.

Das dritte TZI-Axiom dreht sich um eine ähnliche Thematik: «Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen; Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.» Es bringt zum Ausdruck, dass wir mit unserem Handeln keine beliebigen Möglichkeiten haben. Wir konstruieren uns unsere Welt so, dass sie uns Grenzen setzt, und diese lassen sich nicht ohne Weiteres ändern. Der erste Teil des Axioms könnte sich an alle diejenigen wenden, die mit Konstruktivismus Beliebigkeit assoziieren, denn der Konstruktivismus erkennt an, dass es Grenzen gibt, dass es eine Grunderfahrung ist, dass wir unsere Welt nicht ohne Weiteres zurechtrücken können, wie wir wollen. [6] Jedenfalls hätte ich gerne, dass der Konstruktivismus das anerkennt und bin der TZI dankbar, dass sie das so klar betont. Der zweite Teil ist jedoch der konstruktivistische Weckruf: Klar, es gibt Grenzen - aber diese sind nicht absolut, man kann sie verändern. Es lohnt sich, sich die Arbeit zu machen, zu entdecken, wie man die eigenen Grenzen ausmanövrieren, hintergehen kann. Nur wer sich die Welt als unveränderlich konstruiert, kann sie nicht verändern. Ruth Cohn plädiert für die Anerkennung der «Autorität der Realität» [7] Cohn, R. C. a.a.O. (1975), Seite 191., und gleichzeitig sagt sie, dass dieses Reale nicht absolut ist, dass es Möglichkeiten gibt, es umzukonstruieren. Aber, und das ist mir wichtig, der Weg führt über Bewusstsein, Anerkennung der Grenzen der interdependent selbstkonstruierten Wirklichkeit.

Dass in der TZI überhaupt ethische Grundsätze formuliert werden (das zweite Axiom lautet «Respekt gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum»), hat mich immer beeindruckt. Im Konstruktivismus bekommen die Menschen Verantwortung für ihre Weltsicht. Man kann sich nicht auf objektive Wahrheiten zurückziehen. Damit gewinnen ethische Vorstellungen, Wertentscheidungen an Bedeutung. Der Konstruktivismus ermutigt zum Formulieren von Werten und insbesondere zum Bezug aller Handlung und Forschung auf Werte: Warum tue ich das? Warum finde ich das gut? Was erhoffe ich mir, dass durch meine Handlungen bewirkt wird? Schöne Wissenschaft könnte Wissenschaft sein, die mit ethischen Überlegungen beginnt. Theorie und Praxis von Ruth Cohn tun es.

Zum Thema «Lernen und Bildung» sind der konstruktivistische Ansatz und die TZI verwandte Gegenentwürfe zur Idee des Nürnberger Trichters. Im Konstruktivismus geht es wesentlich darum, dass es kein objektives Wissen gibt. Der radikale Konstruktivismus betont vor allem, dass sich der Lernende sein Wissen selber konstruieren muss, was eigene Aktivität voraussetzt. Lehrer können anregen und Raum geben, sie sind jedoch keine Transporteure überpersönlicher Fakten. Der soziale Konstruktionismus thematisiert die Rolle des Diskurses. Eine Gruppe von Lernenden könnte gemeinsam Themen von Interesse aushandeln und bearbeiten, statt mit «von oben» als relevant konstruiertem Stoff und einem durch Leistungsdruck und Notengebung erzeugten Konkurrenzsystem konfrontiert zu werden.

«Solange sich Menschen dem Gesetz des Siegens und Verlierens unterwerfen anstelle des Zusammenspiels in Konsensus und Kompromiss, kann vernünftiges Denken und kooperatives Handeln kaum zustande kommen.» [8] Cohn, R. C. a.a.O. (1975), Seite 174. Das könnte von Ken Gergen stammen, ist aber von Ruth Cohn. Aus der Sicht der TZI könnte man die konstruktivistischen Entwürfe als Stärkung der Elemente «Ich» und «Wir» gegenüber dem in der traditionellen Schule und Universität übermächtigen Thema «Es» interpretieren.

Ruth Cohn stellt die Elemente der TZI als ein gleichseitiges Dreieck in einem Kreis («Globe») dar. Mir ist an dieser Darstellung vor allem wichtig, dass die drei Elemente verbunden sind. Insbesondere kann das Thema nur funktionieren, wenn es an die Erfahrungen und Gefühle der Lernenden Ichs anschlussfähig ist. Nicht nur Übergewichtigkeit des Themas ist ein Problem, sondern auch Ablösung des Themas von den Menschen, die sich damit befassen wollten bzw. sollten. Das «Wir», die Gruppe, steht ebenfalls in wechselseitigem Zusammenhang mit dem Thema. Die Beschäftigung mit einem gemeinsamen, alle Teilnehmenden berührenden Thema ist ein wichtiges Element in der Gruppenbildung. Umgekehrt muss das Thema immer wieder im Gruppenprozess hergestellt, aktualisiert, akzentuiert, neu definiert werden. «Lebendiges Lernen» ist Ruth Cohns Schlagwort; und lebendiges Lernen wird in der TZI nicht durch witzige, anschauliche oder sonstwie attraktive frontale Didaktik erreicht, sondern durch die Aufforderung an jeden einzelnen Teilnehmenden und die Gruppe als Ganzes, sich den Lernprozess zu eigen zu machen - mit anderen Worten: die eigene Bildung zu konstruieren.

TZI und Konstruktivismus treffen sich auch darin, keine konkreten Handlungsanweisungen, «Patentrezepte» zu bieten. Die TZI fordert von ihren Leitern (und in etwas geringerem Maße von den Teilnehmenden) Aufmerksamkeit: Was für eine Atmosphäre erzeugt der Umgang der Gruppenmitglieder miteinander? Sind die räumlichen Bedingungen so, dass die Beschäftigung der Gruppe mit dem Thema und die Erfüllung der Bedürfnisse der Einzelnen unterstützt werden? In welcher Weise spielt das Umfeld in den Gruppenprozess hinein? Es soll ein Rahmen bereitgestellt werden, innerhalb dessen die Gruppe günstige Bedingungen aushandeln und herstellen kann - passend für genau die Gruppe, genau die Einzelnen, die da sind, nicht nach Vorgaben über allgemein gute Bedingungen. Das passt mit Gergens Konzeption vom «gemeinsamen Tanz» [9] Gergen, K. J. (2002) Konstruierte Wirklichkeiten. Stuttgart: Kohlhammer. Seite 185. zusammen, der Vorstellung, dass Bedeutungen nicht festgelegt sind, sondern relational, im Dialog entwickelt werden, immer wieder neu, in neuen sozialen Konstellationen. TZI und Konstruktivismus öffnen Räume, doch die Menschen selber müssen diese Räume füllen.


Die Balance finden oder: Was sich der Konstruktivismus von der TZI nehmen kann

Die vielleicht wichtigste Kontroverse im Konstruktivismus besteht zwischen dem sozialen Konstruktionismus und dem radikalen Konstruktivismus in der Frage, auf welcher Stufe es primär interessant ist, Konstruktion von Realität zu analysieren. Von Glasersfeld sagt: «Wenn ich kein Modell habe, wie die Einzelnen funktionieren, dann hängt alles Gerede über Gesellschaft in der Luft.» [10] von Glasersfeld, E. (1997) Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seite 348. Gergen schreibt: «Für Konstruktivistinnen und Konstruktivisten ist der Prozess der Konstruktion der Welt ein psychologischer; er spielt sich im Kopf ab. Für Sozialkonstruktionistinnen und -konstruktionisten ist dagegen das, was wir für real halten, eine Folge sozialer Beziehungen.» [11] Gergen, K. J. , a.a.O. (2002), Seite 293. Im selben Buch, über mentale Erfahrungen: «Ob mentale Konzepte wahr sind, z.B. Erfahrungen oder freie Entscheidungen, ist eine Frage, die keine Antwort erfordert. Die für Konstruktionistinnen und Konstruktionisten wichtigere Frage ist, welche Konsequenzen die Verwendung dieser Begriffe im kulturellen Leben hat.» [12] Gergen, K. J. , a.a.O. (2002), Seite 279. Es geht, wie Gergen auch im oben erwähnten Seminar meinte, also nicht um die Leugnung der persönlichen Erfahrungen, aber es geht darum, dass diese nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. Es wird vom Diskurs her gedacht.

Die TZI ist unter anderem aus der Erfahrung entstanden, dass in vielen Gruppen, insbesondere in hierarchisch organisierten, die persönlichen Erfahrungen, vor allem die Gefühle, keine Rolle spielen und vom Gruppenprozess, z.B. durch eine autoritäre Leitung, ignoriert und unterdrückt werden. Beim «Ich» geht es darum, auf diese inneren Erfahrungen zu achten, und die beiden TZI-Postulate «Sei deine eigene Leitperson» und «Störungen haben Vorrang» dienen dazu, sie mit dem Gruppenprozess zu verbinden. Ich denke, es ist in der TZI auch wichtig, dass die inneren Erfahrungen und Erlebnisse nicht alle sagbar sind. Die Sprache reicht nicht aus, um angemessen über Gefühle und Körperbefindlichkeiten zu berichten; wir können mehr empfinden und aufnehmen, auch mehr konstruieren, als wir verbal ausdrücken können. «Achte auf deine Körpersignale und die Körpersignale der anderen» ist eine wichtige Hilfsregel der TZI. Es ist Teil meiner Erfahrung, dass ich Magenschmerzen bekommen kann, wenn ich mich mit dem Ablauf einer Gruppensitzung unwohl fühle. Manchmal sehe ich mich nicht in der Lage, das Gefühl und das Gruppenproblem in Worte zu fassen. Ich kenne auch die Erfahrung, vor allem in Nicht-TZI-Gruppen, auf «innere Tauchstation» zu gehen, mich zu distanzieren und eigenen, vom Gruppenprozess abweichenden Gedanken und Gefühlen nachzuhängen, ohne den Versuch zu machen, diese inneren Zustände wieder in die Gruppe zu bringen. Es erscheint mir aussichtslos, zu fremd ist die Gruppe, und wenn in ihr anscheinend Konsensdruck herrscht, kann man nur unangenehm auffallen. In der TZI sind solche Zustände extrem wichtig, und es geht darum, sie in den Gruppenprozess zurückzuholen, mich mit solchen Gefühlen wieder zu integrieren. Ich habe den Eindruck, dass es ein Fehler des sozialen Konstruktionismus ist, diesem Aspekt - der Autonomie des Einzelnen gegenüber der Gruppe - zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

Eine soziale Konstruktionistin könnte entgegnen, dass der Einzelne, auch wenn er abweichend vom Gruppenprozess denkt, seine Gedanken im Zusammenhang mit anderen sozialen Prozessen - in Elternhaus, Schule usw. - geformt hat. Damit wären sie auch soziale Konstruktionen, nicht rein persönliche. Man bekommt die Sprache und die soziale Abhängigkeit nicht aus der persönlichen Realitätskonstruktion, aus Gefühlen und Gedanken herausgefiltert. Es geht sicherlich konform mit sozial-konstruktionistischen Ideen, unterdrückten Stimmen Raum zu verschaffen, sich zu äußern. Dennoch fühle ich mich von der TZI mehr eingeladen, meine Besonderheiten in den Gruppenprozess einzubringen, auf das nicht Sagbare zu achten und mich so der vollständigen Überformung durch Sprache wenigstens ein bisschen zu entziehen, und die anderen als einzigartige Menschenwesen zu sehen.

«Ich, Wir und Thema sind gleich wichtig.» Ruth Cohn plädiert dafür, gegenzusteuern, wenn ein Element Übergewicht gewinnt. Eben habe ich das «Ich» gerühmt, doch Glasersfelds Sichtweise erscheint mir ebenso verkürzt. Ich finde den sozial-konstruktionistischen Ansatz ganz richtig, sich bewusst zu machen, dass das «Ich» selbst eine sprachliche Konstruktion ist, wir nur durch Sprache begrifflich analysieren und, wie Glasersfeld möchte, «Modelle, wie die einzelnen funktionieren», machen können. Man könnte also mit dem gleichen Recht sagen, ohne Gesellschaft und Sprache hängt alles Gerede über die einzelnen in der Luft - genauer: Es kann gar nicht mehr stattfinden. Ich kann mir Glasersfeld gut als einen Anwalt des «Ich» vorstellen, den das «Wir» nicht besonders interessiert; Ideen, wie das Potenzial einer Gruppe über die Summe ihrer Mitglieder hinausreichen kann, findet man bei ihm nicht. Gergen akzentuiert andersherum. Ich halte es mit Ruth Cohn: «Gleich wichtig». Ich glaube, die Frage nach der primär interessanten Ebene von Konstruktion, «Ich» oder «Wir», ist wie die Frage nach Henne und Ei. Keines ist ohne das andere denkbar.

Ähnlich sieht es aus mit der Umwelt, dem «Globe». Wir können die Umwelt als unsere Konstruktion betrachten, und doch sehen wir sie, die Erde, die Natur, als Vorbedingung unserer Existenz. Nicht: Die Welt ist unsere freie Erfindung, sondern die Welt ist gleichzeitig unsere Erfindung, wie wir das Produkt der Welt (so wie wir sie erfinden) sind. Es, das Thema, könnte man in diesem Zusammenhang als einen Fokus unseres Interesses, eine Entwicklungsrichtung, einen Wert interpretieren. Die vollständige Übertragung des TZI-Modells auf Erkenntnistheorie ist aber ein bisschen abenteuerlich, denn es ist für den Kontext der Gruppenarbeit gedacht. Ich stelle mir vor, das Modell etwas verbiegen zu müssen, würde ich die Analogien weiter treiben, und das tue ich jetzt nicht.


TZI in der Postmoderne oder: Was sich die TZI vom Konstruktivismus nehmen kann

Es gibt nicht nur gute Assoziationen zu «Störungen haben Vorrang» und «Sei deine eigene Leitperson». Manche Menschen denken bei diesen Regeln an Situationen, in denen einzelne Gruppenteilnehmer sich für ihre eigene Inszenierung einen gewaltigen Raum nehmen, ja, noch dazu ermutigt werden, und sich die Gesamtgruppe an «gestörten Störern» abarbeiten muss. Im Prinzip verfügt die TZI über geeignete Mittel, mit solchen Situationen umzugehen. Es geht darum, das Übergewicht auf dem «Ich»-Element in Richtung Thema und «Wir» zu balancieren. Das Störungs- und Leitpersonenpostulat kann genauso gegen die ständige Beschäftigung mit den Ansprüchen Einzelner angewandt werden, wie diese Einzelnen sich darauf berufen können: «Es stört mich, dass wir uns so lange mit diesem für mich unwesentlichen Problem befassen müssen; ich möchte, dass wir endlich wieder zum Thema zurückkommen.» Oder: «Ich habe den Eindruck, dass nur Frau XY Raum bekommt, aber nicht der Rest der Gruppe.»

Trotzdem stimme ich dem Gedanken zu, den Artus P. Feldmann in einem Schriftwechsel über das Gergen-Seminar geäußert hat: Die TZI ist entstanden in den 60er Jahren, und die damals verbreitetsten Lernformen, zu denen sie eine Alternative bietet, waren hierarchisch, ließen den Menschen keinen Raum zur eigenen Entfaltung. Auch die Erfahrung des Nationalsozialismus hat Ruth Cohn, die Deutschland deswegen verlassen hat, stark geprägt. «Ich möchte, dass jeder Mensch ganz ‹Ich› sagen lernt», schreibt sie unter der Überschrift «Was möchte ich mit TZI?» [13] Cohn, R. C. und Farau, A., a.a.O. (1984), Seite 373. Anscheinend gab es damals noch viel mehr Menschen, die das nicht konnten, die ihre eigenen Ansprüche und Bedürfnisse ignorierten oder unterordneten. Vor allem an sie wenden sich Störungs- und Leitpersonen-Postulat. Heute jedoch: «So viel ‹Ich› war nie.» [14] Vgl. Fußnote Nr. 2. In der Postmoderne wird man ja (mindestens in der «westlichen Welt», wo man es sich leisten zu können meint) an allen Ecken und Enden aufgefordert, «zu sein, wie man ist», keine Kompromisse zu machen und sich insbesondere nicht solch überflüssigen und Arbeitsplätze gefährdenden Unsinn zu leisten wie Zurückhaltung (in Konsum und Selbstdarstellung) oder gar ethische Bedenken. Kann es sinnvoll sein, den von dieser Kultur geprägten Menschen Mut zu machen, ihre Störungen zu thematisieren und sich selbst zur «Leitperson» zu erheben?

Diese Fragestellung wird der TZI nicht ganz gerecht, denn Ruth Cohn hat sich nicht nur von den hierarchischen, an den Bedürfnissen der Einzelnen vorbeigehenden Lerngruppen distanziert, sondern auch von bestimmten Ideen der «antiautoritären» Pädagogik und Psychologie, in denen das unbehinderte Ausleben des «Ich» der Kinder oder Klienten über alles gestellt wurde. «Wenn ich mich ganz auf mich und meine Augen einlasse, sehe ich die Welt, und wenn ich mich ganz auf die Welt einlasse, komme ich zu mir», geht ihr «Was möchte ich mit TZI?»-Text weiter. «Ich», «Wir» und Thema sind gleich wichtig - und der «Globe» darf nie vergessen werden. Auf ein «Ich»-Übergewicht soll in einer TZI-Gruppe damit reagiert werden, das «Wir» und das Thema zu stärken. Zwar kann eine Leiterin dazu viele didaktische Techniken verwenden und Ideen entwickeln (Gruppenarbeiten, Spiele, Blitzlichtrunden, Impulsreferate, Textarbeit, Visualisierung des Themas etc.), doch die Grundlagen der TZI stellen dazu nicht allzuviel Instrumentarium zur Verfügung. Die Postulate und die Mehrheit der TZI-Hilfsregeln dienen dazu, den zu ermutigenden «Ichs» Raum zu schaffen. «Ich bin um so gemeinschaftlicher, je mehr ich meine Eigenart pflege.» [15] Cohn, R. C. und Farau, A., a.a.O. (1984), Seite 375. Wie steht es aber, wenn die «Ichs» sich, wie heutzutage oft, viel Luft machen und Raum nehmen, ohne damit zum «Wir» zu kommen?

In einer Zeit, in der das Werbegeschrei noch nicht so präsent war wie heute, wurde vielleicht der Einfluss, den eine solche Kultur, ein solcher Diskurs auf die «Ich»-Konstruktion der Menschen haben kann, unterschätzt. Wenn das Nicht-Zuhören, das sich gegenseitig Überschreien die herrschende «Wir»-Prägung ist, ist dann ein gutes Wir-Gefühl von «starken Ichs» zu erwarten? Ich stelle mir vor, dass Ruth Cohn, hätte sie die TZI 30 Jahre später noch einmal von Neuem erfunden, vielleicht ein weiteres Postulat hinzugefügt hätte; eine größere Hilfe, das «Wir» oder auch das Bewusstsein für Thema und «Globe» zu fördern. Ich mache einen Versuch: «Halte immer wieder inne und achte auf die anderen (und die Welt).» Ich kenne so viele Gruppen, in denen das nicht passiert, und wo ich es bitterlich vermisse. [16] Und ich tue es für meinen Geschmack selber viel zu selten; eine Erinnerung in Form eines präsenten Postulates könnte auch ich gebrauchen. Ken Gergens oben zitiertes Buch kann man lesen als eine Anleitung, ein gutes Wir zu schaffen - und das können TZIler brauchen.

Es folgt ein weiterer Gedanke zu Störungen. Eine Gefahr in der TZI liegt meines Erachtens darin, dass sich Teilnehmer oder Leiterinnen einreden, es gäbe so etwas wie einen objektiven Störungsbegriff. Ein Herr A fühlt sich gestört von dem Verhalten von irgendeiner Frau B und drängt auf Bearbeitung. Es passiert dann leicht, dass so weitergesprochen wird, als sei damit klar, dass das Verhalten von B tatsächlich (für alle) störend gewesen sein muss. B wird ausgegrenzt, bzw. andere Teilnehmer, denen die Situation ohnedies nie als störend aufgefallen wäre, fühlen sich aufgefordert, Stellung zu beziehen. Ich glaube nicht, dass das von Ruth Cohn so gedacht worden ist. Sie sieht Störungen in der Wahrnehmung, den Gefühlen des «Gestörten»: «Wenn du unfähig bist, dich für die anderen und die jeweilige Aufgabe zu interessieren, wenn du zu ärgerlich, gelangweilt, in Schmerzen oder zu aufgeregt über etwas bist, so dass du dich nicht konzentrieren kannst, akzeptiere es zunächst selbst als Störung. Dann entscheide, ob und wie du es den anderen sagen willst.» [17] Cohn, R. C. und Farau, A., a.a.O. (1984), Seite 361. Störungen sind «Ich-Botschaften» der Teilnehmenden, die sich gestört fühlen, nicht objektive Aussagen über ihre Umwelt. Man könnte sagen, die Störung, die ich wahrnehme, wird von mir konstruiert. [18] So formuliert erscheint es vielleicht zu einfach, sich die Störung selbst «wegzukonstruieren». Es ist ja ein verbreitetes Missverständnis über den Konstruktivismus, dass man sich die Welt ohne Weiteres beliebig konstruieren könnte wie man wollte. Dass die Störung jedoch objektiv im Raume sei, ist ein Missverständnis über TZI, das der Konstruktivismus ausräumen kann. Wird eine Störung geäußert, ist sie im «Wir», sie wird beredet, verhandelt, und dadurch noch einmal neu hergestellt. Am Ende kann sie gelöst worden sein, oder eine andere geworden, oder auch für einige gelöst, für andere verändert oder gar vergrößert worden sein. Ein für TZI-Leiter wesentlicher Aspekt des Umgangs mit Störungen in der Gruppe ist ein Gespür für unterschiedliche Realitätskonstruktionen der Teilnehmenden, und für die Änderung, Bestärkung, Beseitigung der Störung durch den Diskurs. Ähnlich steht es mit der Frage, was das Thema «wirklich» ist, ob bestimmte Beiträge objektiv «zum Thema» sind oder nicht. Diese Diskussionen entstehen, wenn unterschiedliche Sichtweisen nicht anerkannt werden und das Thema als «gegeben» statt als immer wieder im Diskurs dynamisch verhandelt verstanden wird.

Alles das ist meines Erachtens von Ruth Cohn mitgedacht worden - wird aber mangels erkenntnistheoretischen Denkens in der TZI-Praxis gerne vergessen. Das würde Konstruktivistinnen nicht passieren, oder?



Erstellt: 25. Februar 2004 - letzte Überarbeitung: 25. Februar 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.