BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Der Vogel und der Fisch»
von Anna Wiesengrund
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Sie sitzt da und hört den Tönen zu. Sie weiß nicht das Geringste über den Mann, der mit dem Rücken zu ihr am Klavier sitzt. Er erscheint ihr wie ein Labyrinth, das hinter verschlossenen Türen liegt, ohne Zugang für sie: Seine Vergangenheit, die viel länger zurückreicht, als sie bisher gelebt hat; seine Tätowierungen und Wunden, die aus einer Zeit stammen, die er nicht mit Worten beschreiben kann; seine Erinnerungen an eine Kindheit, die sie nicht verstehen wird.

In seiner Wohnung sind viele Kisten und Tüten mit Fotos und Dingen, die für sie nur Geheimzeichen sind. Alles ist nur dazu da, sie einzuschüchtern, sie auszuschließen. Wie weit kann sie ihr Leben ändern? Wie weit will sie das?

Der Vogel und der Fisch mögen sich verlieben, aber sie haben keine Sprache gemeinsam, in der das Wort ‹Nest› auch nur annähernd vorkommt.

Er dreht sich um und schaut sie an. «Das habe ich mir selbst ausgedacht, gefällt es dir?» Sie nickt nur und weint leise.

Wir sind nicht von Anfang an miteinander vertraut. Im besten Falle wartet die Vertrautheit auf uns, lässt sich erlangen im Laufe der Jahre. Nur durch das Leben kann er ihr vertraut werden. Und doch kennt sie ihn schon, wenn sie ihn nur ansieht.



Erstellt: 28. August 2007 - letzte Überarbeitung: 30. August 2007
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