BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Finn Skårderud: Unruhe – Eine Reise in das Selbst»
von Anna Wiesengrund
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Es war ein Zufall, der mir dieses Buch in Zeiten meiner eigenen ‹Unruhe› in den Schoß legte. Wie sollte ich mit den Verletzungen einer verlorenen Liebe umgehen? Wie sollte ich Ruhe finden, wenn die Zeit drängte, und ich mich zunehmend älter und einsamer werden sah?

Wie schon vor einigen Jahren, als ich an einem ähnlichen Punkt in meinem Leben war, wies mich ein Freund auf dieses Buch hin. Er meinte, es wäre eine Hilfe, zu verstehen, dass meine individuellen Empfindungen und Erfahrungen auch als Symptom unserer Zeit und unserer gesellschaftlichen Entwicklung gesehen werden könnten.

Finn Skårderud, der Protagonist und Verfasser dieses Buches, berührte und erreichte mich sofort. Denn der Psychiater aus Oslo beginnt in dem 1998 erschienenen Buch (Uro. En reise i det moderne selvet. Oslo: Aschehoug. Zu loben ist die einfühlsame Übersetzung von Kerstin Hartmann, 2000, bei Rogner & Bernhard) mit einer Selbstoffenbarung. Er beschreibt sich als einen Forscher und Suchenden. So steht er als ‹offener Mensch› vor mir, als ein wohlwollender und mitfühlender Beobachter der veränderten Welten. Er thematisiert seine eigene therapeutische Praxis und setzt sich in Beziehung zu seinen Betrachtungsobjekten – den Menschen in einer flexibilisierten und medialisierten Zeit.

Eine tief empfundene Empathie mit den Schwierigkeiten, die ‹begabten Kindern› begegnen, erweitert die Sicht auf die Dramatik des ‹Jetzt-und-Hier-leben-Müssens›. Die Beschreibung der freien jungen Menschen, die sich selbst im Raum der vielen Spielfelder entwerfen können, zeichnet auf einfache Weise nach, wie rast- und ruhelos die Suche nach einem Wesenskern sein kann, nach einem stabilen und gelassenen Ich.

«Die Freiheit von der Tradition der Älteren hat auch eine tragische Dimension. Der Mythos von der Formbarkeit eröffnet Spielraum für Erwartungen, Träume, Sehnsüchte und Phantasien, für die es keine entsprechenden Möglichkeiten der Einlösung gibt.»

Der Autor verknüpft diese seine Grundthese mit den unterschiedlichen Phasen des menschlichen Lebenszyklus: Kindheit, Jugend, Familie, Partnerschaft, Beruf und ‹Berufung›, Körper, Krankheit und Tod. Er dekliniert diese Themen über die verschiedenen Denktraditionen der Moderne hinweg, bezieht biographische Dokumente von Kafka, Pessoa, Strindberg, Bernhard und seinen eigenen Patienten mit ein und erweitert damit den Blick von einem abgeschlossenen Selbst hin zu einem Gesellschaftsphänomen.

Finn Skårderud bewegt sich mit dem Leser durch unterschiedliche Kontinente, Kulturen und Riten und gewinnt dabei selbst die Langsamkeit seines vormals unruhigen Geistes zurück. Er begegnet einfachen Leuten, ‹crazy people› und weisen Gleichgesinnten und gewährt uns den Blick in eine mögliche Antwort auf die letzte Frage: Wie bekomme ich Ruhe?

«In einer Kultur, die das Unbehagen in fast jeder Hinsicht entfernen möchte, die unermüdliche Schmerzlinderung sucht, zerstört sich auch die Kompetenz, mit dem eigenen Schmerz umzugehen.»

Dieser Satz erlöst von der unmöglichen Aufgabe, die schmerzhafte Erfahrung des Unbehagens in der Kultur zu verändern, er erlaubt uns, den Raum zu besetzen und sich dem Schmerz zu widmen.

Dieses großartige Buch ist – nicht nur für Psychotherapeuten – eine überaus empfehlenswerte, kaleidoskopische Zusammenschau, die letztlich in die Ruhe mit sich selbst führt. Es gibt ein Verstehen und Verstandenwerden. Wir sind nicht allein.



Erstellt: 26. Oktober 2009 – letzte Überarbeitung: 26. Oktober 2009
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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