BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«David Markson: Slipstreaming Wittgenstein»
von Stefan Bärnwald
Als PDF-Datei laden

«Somebody is living on this beach.»
(David Markson: Wittgenstein’s Mistress)

«Meet me on the desertshore.»
(X-TG / Nico: Desertshores)

Dietmar Dath hat mich erst vor kurzem auf die Genrebezeichnung Slipstream aufmerksam gemacht. [1] Dietmar Dath: Im Sturmwind der Unwirklichkeit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.10.2012. Gut, manchmal bin ich nicht mehr ganz so auf der popkulturellen Höhe. Als Zeichen dafür, dass mich die kontemporären Zeitläufte bestenfalls nur noch ganz am Rande interessieren, ist das auch in Ordnung. Da ich, ohne es bis dahin gewusst zu haben, dem Genre aber offenbar zugeneigt bin, habe ich mich natürlich gefragt, was denn das genauer sein mag.

Der Gattungsbegriff wurde wohl bereits in den 80er Jahren von Bruce Sterling eingeführt. [2] Bruce Sterling: File under Cyberpunk. Zunächst negativ konnotiert, wollte Sterling mit dem Begriff Slipstream eine Art „Edelschmock-Grübelprosa“ (Dath) aus dem Mainstream abwerten, die sich klassischer Stilelemente der Science Fiction bedient, um plumpe Effekte zu erzielen. Gemeint sind damit z. B. solche Rührstücke wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ oder „Das Haus am See“, die trivialen Herz & Schmerz mit leicht verdaulichen raumzeitlichen Paradoxien anreichern. Da leben die Liebenden dann erst in Parallelwelten und heiraten am Ende doch oder der fiese Mopp muss den gleichen Tagesablauf immer wieder durchspielen, bis er endlich auch der alten Oma über die Straße hilft und aus der Zeitschleife entlassen wird.

Die Bedeutung des Begriffs Slipstream wendet sich in seinem weiteren Gebrauch ins Positive. [3] Zur Sprache im Gebrauch siehe auch Fußnote 14. Mittlerweile scheint der Gattungsbegriff vor allem für solche Kulturprodukte verwendet zu werden, die sich einer schlichten Kategorisierung in klassischen Gattungsbegriffen entziehen und innovativ Genregrenzen auflösen. Da wir uns hier in einer Buchgeschichte befinden, wähle ich von den Autoren, die Dath anführt, zur Illustration einige aus, die der informierten Leserin vertraut sein dürften: Paul Auster, Haruki Murakami, Jorge Luis Borges, William S. Burroughs [4] William S. Burroughs! , Don de Lillo [5] Don de Lillo!oder David Foster Wallace. [6] David Foster Wallace!

Selbstverständlich sind nicht alle Werke dieser Schriftsteller dem Slipstream-Genre zuzuordnen. Wenn de Lillo in der Kurzgeschichte Human Moments in World War III die Psychologie zweier Astronauten, die während des dritten Weltkriegs in einer Raumkapsel um die Erde kreisen, auslotet [7] „Earth orbit puts men into philosophical temper. How can we help it? We see the planet complete, we have a priviliged vista.” oder Burroughs in The Western Lands die Johnson-Crew als Space-Cowboys auf die Reise schickt, um dem All seine Lektion in praktischer Ethik zu geben [8] MIND YOUR OWN BUSINESS. AND GIVE HELP WHEN HELP IS NEEDED. oder Wallace in Infinite Jest in der nahen Zukunft den Lauf der Zeit nicht mehr von Christi Geburt an durchnummerieren lässt, sondern die Jahre statt dessen mit den Namen von Konsumprodukten benennt [9] Ein Interpretationsangebot für diese geniale Idee von DFW findet die geneigte Leserin im Motto von Urs Sommer, das unserem Arbeitspapier Nr. 14 voran steht: „Jener Behemoth des Marktes, dem die Religion so viel Würde leiht, fordert all die Jüngerschen Kriegertugenden – von Gerissenheit bis Nibelungentreue, von Willensmacht bis sacrificium intellectus – und scheint sie großartig nicht bloß in Frage zu stellen. Der Krieg des Marktes ist unzweifelhaft der Ernstfall. Und lohnt, wie die allermeisten Kriege, seinen Preis nicht.- so sind das bestimmt beste Beispiele für das, was jetzt im anglo-amerikanischen Raum aktuell unter Slipstream einsortiert wird.

Und das allerbeste Beispiel für solche Art Slipstream kommt jetzt. Hatte ich gerade Dave Wallace erwähnt? Eigentlich ist diese Buchgeschichte nämlich schon erzählt. Eigentlich gibt es auch nichts mehr hinzuzufügen. Wallace hat bereits alles gesagt. Aber trotzdem noch einmal. Hier kommt was für die Subgeschichte der Weltliteratur:
David Markson: Wittgenstein’s Mistress gemeinsam mit der kritischen Interpretation von David Foster Wallace The Empty Plenum: David Markson’s Wittgenstein‘s Mistress. [10] Wittgenstein’s Mistress im Folgenden = WM. Aktuelle Ausgabe von 2012 im Dalkey Archive mit der Besprechung von Wallace als Nachwort. Erstveröffentlichung von WM 1988 und die Besprechung von Wallace als Artikel 1990 für eine Literaturzeitschrift. Alle Seitenangaben in dieser Buchgeschichte beziehen sich auf die 2012er Ausgabe bei Dalkey Archive. Die deutsche Übersetzung von WM ist für April 2013 angekündigt.
WM ist für Wallace der experimentelle amerikanische Roman überhaupt. Und die kritische Interpretation von Wallace ist wiederum die höchste Kunst des Verstehens, wie sie sich selbst Oswald Wiener nur wünschen kann: Im Sinne einer respektvollen Assimilation des Originals, die das Werk eigensinnig akkommodierend auf eine neue Stufe hebt. [11] Zu Oswald Wiener und den assimilierenden und akkomodierenden Erkenntnisautomaten siehe insbesondere Bethchen B.: Kunst des Verstehens (1): Nachtstück, erhellt. Vereinfachend meint Assimilation die Integration in den eigenen Erkenntnisapparat und Akkomodation die Reorganisation des Erkenntnisapparates auf Basis der integrierten Information.

Wahrscheinlich wäre dies für alle Beteiligten der beste Zeitpunkt, diese redundante Buchgeschichte zu beenden. Alles was noch folgt, ist ehrfurchtsvolles Gestammel. Ich höre aber noch nicht sofort auf, weil gerade die Mail einer Freundin reinkommt, bei der ich eine verständliche kritische Kurzfassung des logischen Positivismus angefragt habe. Ich zitiere mal daraus:
Der logische Positivismus geht nach der Verifizierbarkeit von Sätzen. Ist eine Aussage empirisch beobachtbar ("Es regnet in Deutschland."), ist sie sinnvoll. Alle Sätze, die nicht auf Erfahrungen beruhen ("Freiheit ist eine Illusion."), sind demnach unsinnig. Einer metaphysischen Aussage fehlt es an Bedeutung - warum sollte sie dann ausgesprochen werden? Anders gesagt: Es gibt Dinge, die außerhalb unseres Erfahrungsspektrums liegen und über die man einfach besser die Klappe halten sollte. Aber wozu dann überhaupt noch reden? Sinnvolle Aussagen, wie „Es regnet in Deutschland“, sind langweilig und führen zu keiner Erkenntnis. Strenger logischer Positivismus wäre in seiner Ausführung irgendwie unbefriedigend. [12] Herzlichen Dank dafür.
Tscha, und genau darum geht es in WM: „What if somebody really lived in a Tractatusized world?“ (p. 246) Wie es also wäre, in einem wahrscheinlich irgendwie unbefriedigenden logisch positivistischen Universum. Um sich dem zu nähern, transponiert Markson die Philosophie des frühen Wittgenstein in den Monolog einer Frau, die sich allein als letztes Wesen auf der Erde erlebt. [13] Womit durch die Beschreibung dieses quasi post-apokalyptischen Settings auch die Beziehung zum Slipstream-Genre dargelegt wäre. Wallace nennt WM im Sinne eines positiv konnotierten Slipstream avant la lettre „a kind of philosophical sci-fi.“ (p. 252) Ihre Suche nach anderen Menschen endet an einem ungenannten Strand. Dort tippt sie nackt entblößt die Tasten einer Schreibmaschine und findet sich doppelt allein: Weder gibt es jemanden, die ihre Worte lesen könnte, noch hat Kate irgendwelche Gewissheiten über die Wirklichkeit einer Präsenz namens ‚Kate‘. Gleichzeitig ist sie nachgerade besessen von der Frage, auf welche Weise sie selbst die Verantwortung für ihre Situation trägt.

Wallace stellt seiner Besprechung diesen Abschnitt aus WM voran (p. 243):

«There is nobody at the window in the painting of the house, by the way.
I have now concluded that what I believed to be a person is a shadow.
If it is not a shadow, it is perhaps a curtain.
As a matter of fact it could be actually nothing more than an attempt to imply depth, within the room.
Although in a manner of speaking all that is really in the window is burnt siena pigment. And some yellow ochre.
In fact there is no window either, in that same manner of speaking, but only shape.
So that any few speculations I may have made about the person at the window would therefore now appear to be rendered meaningless, obviously.
Unless of course I subsequently become convinced that there is somebody at the window all over again.
I have put that badly.
»

In solchen spiralförmig in sich selbst gewundenen Betrachtungen ist WM nicht nur eine wunderbare Studie solipsistischer Einsamkeit in einem logisch atomisierten Universum. Noch weit darüber hinaus demonstriert Markson, „how one of the smartest & most important contributors of modern thought could have been such a personally unhappy son of a bitch.” (p. 247)

Wittgenstein, der wertorientierte Asket, hatte im Tractatus ein System entworfen, das seinen eigenen Vorstellungen von gelebter ethischer Praxis diametral entgegen gesetzt war. Der logische Atomismus kennt keine metaphysischen Werte - und damit negiert sein erstes philosophisches Meisterwerk gerade jene Größen, die für den Menschen Wittgenstein von höchster lebenspraktischer Bedeutung waren. In den Worten des Vaters von Wallace: „The fact that the metaphysics of the Tractatus not only couldn’t take account of but pretty much denied the coherent possibility of things like ethics, values, spirituality, & responsibility had the result that Wittgenstein, this clear-headed and & intellectually honest man, was hopelessly at odds with himself.” (p. 260)

Kates solipsistische Verlorenheit in einer in Tatsachen zerfallenden Welt und ihr Bemühen, die eigene Verantwortung in dieser und für diese Welt zu verstehen, spiegelt die persönliche Lage, in der sich Wittgenstein nach dem Tractatus befunden haben dürfte. Markson gelingt es dadurch, die rational-emotive Dissonanz spürbar zu machen, die Wittgenstein im Anschluss an den Tractatus auf seinen langen Weg zu den Philosophischen Untersuchungen geführt hat. [14] Zu den Philosophischen Untersuchungen siehe bitte das Arbeitspapier Nr. 2 „Erkenntnistheoretische Probleme der Psychologie: Über das Verhältnis von Wirklichkeit, Sinnesdaten und Sprache.“ Alles andere würde an dieser Stelle deutlich zu weit führen.

Kann ein Roman größeres leisten?



Erstellt: 5. Januar 2013 – letzte Überarbeitung: 7. Januar 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.