BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bochum, Nokia und Darius. Oder: Die Invention der Provinz»
von Helmut Hansen
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Gestern traf ich in der Stadt zufällig einen alten Freund und war überaus überrascht und erfreut darüber, wie gut er aussah: Gebräunt, entspannt, lächelnd, friedvoll, sichtbar mit sich im Reinen. Nun muß ich dazu sagen, daß er ohnehin aufgrund seiner Körperlichkeit und seiner Haartracht häufig mit Uwe Ochsenknecht verwechselt wird, wobei aber immer klar ist, wer besser aussieht: Mein alter Freund. Natürlich machten wir uns einen schönen langen Nachmittag, gingen in ein Café, und ich fragte ihn, was denn die Ursache seiner so deutlich sichtbaren Eutonie sei. «Ich habe mich entschieden», meinte er.

Da muß ich zum besseren Verständnis eben noch einfügen, daß mein alter Freund ein Künstler ist. Gut, er hat ein Brotstudium erfolgreich hinter sich gebracht, aber keiner von uns beiden glaubt, daß er je in dieser Richtung etwas unternehmen wird. Denn, wie schon gesagt, er ist Künstler. Filmemacher, um genau zu sein. Und er hat schon einige mehr oder minder erfolgreiche Filme «gemacht». Ich konnte mich auch erinnern, daß er wegen seiner Filme häufig in Berlin, Hamburg, Frankfurt oder München war um zu drehen, zu cutten, zu verhandeln, Festplatten zu kaufen, Fördermittel aufzutreiben oder sich mit Produzenten zu prügeln. Ein Künstler eben.

Ich fragte ihn, wofür er sich denn entschieden habe, und er sagte: «Für die Provinz!» Ich sah wohl etwas ratlos aus. «Sieh mal», meinte er, «ich war jetzt oft und lange in Berlin. Du hast das ganze Gewese um meinen letzten Dokumentarfilm ja mitgekriegt. Ich habe nun immer gedacht, Berlin ist die Metropole, in Berlin ist die Action, Berlin ist das Zentrum aller Kulturschaffenden, wie das so schön heißt, und wenn ich irgendwas für einen neuen Film brauche, dann habe ich das oder kriege das in Berlin: Beziehungen, Geld, gute Leute, na und so. Aber, was ich jetzt weiß, was mir jetzt klar geworden ist: Berlin ist ein Moloch. Berlin tut mir nicht gut, tut niemandem gut. Berlin ist ohne Seele. Ich bin und werde immer fremd da sein. Und wo bin ich zu Hause? In Bochum. In der Provinz. So, und da habe ich mich jetzt offensiv für die Provinz entschieden. Und da hängt was dran. Weniger Gleichgültigkeit zum Beispiel. Stell Dir nur vor, da will Nokia, Du weißt ja, einer der größten Arbeitgeber in Bochum, ein paar hundert Leute entlassen, nur weil nicht mehr genug neue Handys gekauft werden! Und weißt Du was «gekauft werden» heißt? Wir alle schleppen aus Geiz ein uraltes Mobilfon mit uns herum, und deswegen muß Nokia Leute entlassen. Das heißt das! Und da ist eben eine Verpflichtung in der Provinz, die es in der Gleichgültigkeitsszene Berlins nie geben würde. Und da müssen wir uns eben entscheiden, und ich habe mich entschieden. Ich bleibe nicht nur in der Provinz, ich tue auch was für die Provinz: Gestern habe ich mir ein neues teures Nokia gekauft, damit die Arbeitsplätze bei Nokia hier in Bochum erhalten bleiben. Das sind schon mal zwei gute Taten, die sich in der Provinz eben auch auswirken. Verstehst Du das? Und wenn das noch mehr Leute machen, dann kommt auch noch Darius zurück zum VfL!»

«Darius? Darius Wosz kommt zurück zum Vfl?» fragte ich einigermaßen entgeistert. Hier muß ich schnell einfügen, daß meine Kenntnisse über den VfL Bochum einigermaßen begrenzt waren. Ich konnte mich nur erinnern, daß die gerade wieder mal in die 2. Liga abgestiegen waren. Zum 4. Mal. Oder zum 5. Mal. Oder so.

«Ja natürlich Darius», sagte mein alter Freund. «Sie mal, Du mußt Dich dem Phänomen ‹Provinz› philosophisch nähern: Eine Metropole, so ein Riesenkonstrukt, ist immer gefährdet, sie wird unmodern, sie wird von anderen Metropolen überholt, sie hat ständig Angst, abzusteigen. Eine Stadt in der Provinz hat da ein ganz anderes Selbstbewußtsein. Die Provinz ist Provinz und somit unabsteigbar. Trotzdem gibt es natürlich ein Auf und Ab. Aber das seismographische Geschehen ist direkter. Der Tanker kommt schneller vom Eisberg weg. Verstehst Du? Und so können wir eben alle was dafür tun, daß Darius zum VfL kommt!»

Es war ein wunderbarer Nachmittag. Wir plauderten und tratschten noch lange über verschiedene andere Dinge und Menschen. Als ich aber nach Hause ging, kaufte ich im Vorübergehen in irgendeinem Laden ein neues teures Nokia. Dann setze ich mich in den Garten. Es war ein zarter, weicher Sommerabend. Aus meinem neuen Nokia perlten profane Hymnen gen Himmel. War das nicht gerade die Invention C-Dur BWV 772 aus der «Aufrichtigen Anleitung» von Johann Sebastian Bach? Mein Gott, Anno Christi 1723! In einem Nokia 6210! Ich war gerührt und dachte an meine frühen Jahre am Klavier. Und ich spürte, nein, ich war ganz sicher, daß ich nicht nur etwas für Bochum und für Nokia getan, sondern darüber hinaus sogar noch dafür gesorgt hatte, daß Darius zum VfL zurückkommen konnte. Wie genau jetzt diese Zusammenhänge im einzelnen waren, das war mir nicht so ganz klar. Aber ich fühlte mich gut: Entspannt, lächelnd, friedvoll, sichtbar mit mir im Reinen. Gebräunt war ich sowieso schon, wofür habe ich einen Garten.


Kommentare:

5. Juli 2001
Lieber Helmut,
soeben lese ich im Wirtschaftsteil der WAZ vom 4. Juli 2001 folgendes: «Im Nokia-Werk Bochum wird es nach Angaben der IG Metall bis 2003 doch keine betriebsbedingten Kündigungen geben. Die Produktion solle sogar ausgebaut werden, hieß es.» Na, was sagst Du dazu? Das nenne ich eine prompte Reaktion! Ob noch viele weitere Provinzler sich ein Herz gefaßt und ein neues Nokia gekauft haben und damit mal wieder einen kleinen Sieg in der ‹unabsteigbaren› Provinz Bochums vollbracht haben? Auf jeden Fall prüfen – aufgrund Deiner zarten Geschichte – derzeit mehrere männliche Bekannte von mir ihr Verhältnis zur «Provinz» und zum «Provinziellen», und erhitzen sich dabei. Ich könnte auch sagen, da ist ein alter Diskurs neu entfacht worden. Wohin er führen wird, und ob Darius wirklich zurückfinden wird, dies weiß im Moment keiner. Aber daß ein paar Zeilen Poesie tatsächlich da draußen in der schnöden Welt etwas bewirken können, das hätte ich als alte Skeptikerin nun wirklich nicht gedacht. Vita brevis, ars longa!
Liebe Grüße von
Annette
P.S. Dein alter Freund kommt mir bekannt vor.



Erstellt: 27. Juni 2001 – letzte Überarbeitung: 5. Juli 2001
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