BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Erinnerung - Über einige ‹Nebenwirkungen› des digitalen Lebensstils» von Albertine Devilder
Als PDF-Datei laden

1 Vom analogen zum digitalen Lebensstil

Die rasche Entwicklung der ‹Informationstechnologien› und die zunehmende ‹Digitalisierung des Wissens› [1] Vgl. Paulina Borsook (2003): Hisst die gelbe Quarantäneflagge! Zur Prophylaxe gegen die Digitalisierung des Wissens. In: Alexander Meschnig & Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seite 147 - 161. stehen in letzter Zeit immer wieder im Fokus interessanter Diskurse. Zum einen wird hier dann etwa darüber philosophiert, ob sich unsere Gehirnfunktionen mit der Arbeitsweise einen Computers vergleichen ließen, der Schritt für Schritt Teilchen von ‹Informationen› in einer bestimmten Reihenfolge abarbeitet [2] Siehe dazu auch meine kleine Skizze zu einer konstruktivistischen Kognitionspsychologie im Bochumer Bericht Nr. 5, Seite 10-13. ; zum anderen wird auch ganz grundsätzlich darüber diskurriert, ob unsere ‹Informationsgesellschaft› nicht von eher sinnlosen ‹Informationen› zusammen gehalten werde [3] Man denke hier nur an die derzeitigen Quiz-Formate im TV. Empfehlenswert hierzu ist z.B. die Lektüre von: Jürgen Wertheimer & Peter V. Zima (2001): Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft. München: C.H. Beck. und ob Individuen heute zu «mit Informationen besetzten Objekten» [4] Vgl. dazu Roger Behrens (2003): Wissen als Design. Anmerkungen zum fortschreitenden Zerfall des Individuums am Ende der Arbeitsgesellschaft. In: Alexander Meschnig & Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Seite 133 - 146. gemacht würden; einige Autoren meinen, daß die «Leidtragenden der Digitalisierung des Wissens» [5] Paulina Borsook, a.a.O. Seite 158. es eines Tages leid sein könnten, «ihre natürlichen menschlichen Gaben» in die «Felder einer Bildschirmmaske» [6] Paulina Borsook, a.a.O. Seite 158. einpassen und somit auf die Möglichkeiten vorgegebener Software reduzieren zu müssen. Ja eine Autorin spricht gar von einer bevorstehenden «kulturelle Revolte gegen die Digitalisierung des Wissens» [7] Paulina Borsook, a.a.O. Seite 155. . Wir werden darauf am Ende dieses Traktätchens zurückkommen.

Im Gegensatz zu den gerade skizzierten Erwägungen befassen sich die meisten Medien unseres Landes - selbstredend - mit einem plumpem Jubel über alle digitalen Neuigkeiten, die ‹auf den Markt› kommen. Alles wird begrüßt: Neue Computer, neue Mobilphone, neue digitale Kameras, neue DVD-Abspielgeräte und so immer weiter. Zwei riesengroße Ladenketten beherrschen mit aggressiver Verblödung den Markt, und wenn bei einem Lebensmitteldiscounter mal wieder ein neuer ‹supergünstiger› Computer verkauft wird, gibt es pünktlich zum Verkaufsbeginn in der größten Schmierlappenzeitung des Landes einen «Testbericht», in dem - wäre dies überhaupt anders vorstellbar? - das neue Produkt gelobt wird. Nur selten lassen sich Gedanken und Analysen darüber finden, welche Konsequenzen die zunehmende Digitalisierung für die Menschen in ihren sozialen Räumen und in ihrer Rolle als ‹Arbeitnehmer› haben könnte. Also werden wir, lieber Leser und liebe Leserin, versuchen, in die Zukunft zu schauen.

Nur damit wir wissen, worüber wir sprechen: Heute, zu Beginn eines neuen Jahrtausends, kennen wir eine Fülle analoger Materialien wie Bücher, Briefe, schriftliche Aufzeichnungen, Notizen und Photos. Zu beklagen haben wir allerdings, daß es heute keine Telegramme mehr gibt. Als Mitteilungs- und Kunstform sind sie überflüssig geworden. Sie wurden ersetzt durch Anrufe oder ‹Short Messages› mit dem allseits mitgetragenen Mobilphon. Der Trend zur Digitalisierung hat weiter dazu geführt, daß wir heute kaum mehr Briefe bekommen, die von Hand geschrieben wurden. Statt dessen erhalten wir elektronische Mails [8] Nur nebenbei: Nach jüngsten Schätzungen scheinen derzeit etwa fünfzig Prozent aller empfangenen elektronischen Mails unerwünscht zu sein.. Auch Photos werden immer mehr digital aufgezeichnet, und ganz folgerichtig wird es in absehbarer Zeit kaum mehr analoge Photoapparate und die damit verknüpften Negativ-Filme und Positiv-Abzüge geben. Haben wir etwas vergessen? Hm, ich denke nicht.

Nun stellen wir uns mal vor, es wäre das Jahr 2050. Heute in etwa 50 Jahren. Die heute zwanzigjährigen Zeitgeistvertreter wären dann siebzig Jahre alt. Und stellen wir uns nun vor, diese Senioren möchten ihren sie besuchenden Enkeln Erinnerungsstücke aus ihrem sozialen Raum zeigen, die Kunde von ihrem persönlichen Werden geben könnten. Tja, wird das möglich sein? Ich vermute: Nein. Es wird in 50 Jahren keine Erinnerungsstücke mehr geben. Abschied von der Erinnerung? Könnte sein.


2 Von analogen zu digitalen Erinnerungsstücken

2.1 Photographien

Lieber Leser, liebe Leserin, greifen wir das soeben skizzierte Szenario auf. Stellen Sie sich vor, Sie sind etwa bei ihren Großeltern oder auch bei irgendeinem anderen Verwandten zu Besuch, und der Gastgeber sucht - im Gespräch angeregt von irgendeinem Stichwort oder Topos - plötzlich ganz verzweifelt einen bestimmten Schuhkarton, findet diesen nach einigen Mühen auch und breitet vor uns eine ganze Fülle alter und uralter Photographien aus. Großeltern, Eltern, Kinder und alle möglichen Onkel und Tanten sind hier bei allerlei familialen Ereignissen zu betrachten, dazu präsentiert der Gastgeber in einer Art ‹Spurensicherung› nicht nur Photos von sich selbst, die in bestimmten sozial überhöhten Phasen seines Lebens gemacht wurden (‹Der erste Schultag›, ‹Ferien auf der Alm›, ‹Das Abitur›, ‹Die Hochzeit›, ‹Das eigene Haus›, ‹Die Erstgeborene›, ‹Das Klassentreffen› etc. etc.), sondern auch allerlei Erläuterungen, Narrationen und Kauzereien. Hier werden also nicht nur schlichte analoge Erinnerungsstücke gezeigt, sondern hier wird das biographische Gewordensein verschiedener Familienangehöriger und damit die Historie eines sozialen Raumes rekonstruiert, ja hier werden soziale Orte und Aufenthaltsräume fest- und weitergeschrieben. Und wir sollten uns das schöne alte mittelhochdeutsche Wort ‹ufenthalt› noch etwas näher ansehen: Es bedeutet so viel wie Beistand, Unterhalt und Bleibe. Das Betrachten alter Familienphotos hilft uns also, unseren sozialen Ort in dieser Welt, unsere Familiengeschichte, unsere Tradition als eine Art fortgesetzten Beistandes, und die Familie, die Nachbarschaft oder andere ‹Bezugspersonen› als Asyl, als Freiung als Zufluchtsstätte so zu verstehen, daß wir, wenn wir ihrer bedürfen, Platz nehmen können in einer Geschichte, in einem Bezug, in einem ‹Sich-Beziehen-Auf›, in einer Erinnerung [9] Bitte denken Sie, lieber Leser und liebe Leserin, jetzt nicht daran, daß es vermutlich eine ganze Reihe von Familien gibt, die einst verlassen zu haben man sich glücklich preist. Darum geht es jetzt nicht. Kehren Sie bitte zu unseren Überlegungen zu analogen Erinnerungsstücken zurück. .

Wird es im Jahr 2050 noch analoge Photographien auf Papier geben, die sich in einem Schuhkarton lagern lassen? Vermutlich nicht. Die bis dahin noch vorhandenen und gesammelten Photos werden von den Erben der Verstorbenen als Hausmüll entsorgt werden, und die heute und in Zukunft mit Mobilphonen schnell geknipsten Photos sind eh für den Sofortverzehr. Sie werden meist am selben Tag noch gelöscht, weil sie ‹nichts› festhalten, außer vielleicht kontextuell ablieferbare Emotionen. Und die schwanken.

Was ist mit den Photos, die mit digitalen Kameras geschaffen werden? Nun, in der Kamera können sie nicht bleiben. Selbst mit zusätzlichen ‹Memory-Sticks› ist die Anzahl der zu speichernden Photos sehr begrenzt. Also landen diese zwischenzeitlich auf Daten-CDs und schließlich auf den Festplatten von Computern.

Wenn wir uns nun überlegen, wie viele ‹Innovationszyklen› uns im Computerbau und bei ‹Datenträgern› bis zum Jahre 2050 bevorstehen, dann dürfte ziemlich klar sein, daß eine heute gebrannte CD in 50 Jahren von keinem Computer mehr gelesen werden kann, und daß die Daten auf irgendwelchen Festplatten irgendwann irgendeinem Wechsel des Betriebssystems zum Opfer gefallen sein werden [10] Es könnte auch sein, daß die Siebzig- bis Achtzigjährigen sich im Jahre 2050 darüber freuen, ihren Enkeln die alten Fotos an ihrem Computer-Bildschirm zeigen zu dürfen. Allerdings hätten sie dann über 50 Jahre ‹informationstechnologisch› - also software- und hardwaremäßig - ‹voll dran bleiben› müssen, sonst klappt das nicht. Lassen wir uns überraschen, lieber Leser und liebe Leserin. Ich werde im Jahr 2050 auf diese Möglichkeit zurückkommen..


2.2 Briefe

Wir sind zu Beginn dieses Jahrtausends in der glücklichen Lage, über eine ganze Reihe von soziologisch, psychologisch, historisch und literarisch bedeutsamen Briefwechseln verfügen zu können. Da haben sich ein paar Menschen vor zig Jahren Briefe geschrieben und diese nicht weggeworfen, sondern gesammelt; und selbst die Erben dieser Briefesammler und -sammlerinnen haben in den über Jahrzehnte hinweg aufbewahrten Konvoluten etwas gesehen, daß des Schutzes und des Festhaltens bedarf. So ist die Edition und Veröffentlichung von Briefen ein eigenes literarisches und literaturwissenschaftliches Genre geworden. Als Beispiel für sorgfältig edierte Briefe und Briefsammlungen möchte ich hier nur einige wenige derjenigen nennen, die mich immer wieder berühren: So die im Zeitraum von 1801 - 1829 zwischen Achim von Arnim und Clemens Brentano hin und her gesandten ‹Freundschaftsbriefe› [11] Achim von Arnim & Clemens Brentano (1998): Freundschaftsbriefe I: 1801 bis 1806; Freundschaftsbriefe II: 1807 bis 1829. Vollständige kritische Edition von Hartwig Schultz. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 157 und 158. Frankfurt am Main: Eichborn. , die Briefe, die Bjørnstjerne Bjørnson zwischen 1887 und 1908 aus Aulestad an seine Tochter Bergliot Ibsen sandte [12] Bjørnstjerne Bjørnson (1911): Briefe aus Aulestad an seine Tochter Bergliot Ibsen. Berlin: S. Fischer Verlag. , der zwischen 1899 und 1901 entstandene Briefwechsel zwischen Karl Kraus und Annie Kalmar [13] Friedrich Pfäfflin & Eva Dambacher ( Hg.) (2001): "Wie Genies sterben". Karl Kraus und Annie Kalmar. Briefe und Dokumente 1899 - 1999. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Göttingen: Wallstein. , die Briefe und Telegramme, die Karl Kraus von 1913 bis 1936 an Sidonie Nádherny von Borutin schickte [14] Karl Kraus (1977): Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin 1913 - 1936. Band I. Herausgegeben von Heinrich Fischer und Michael Lazarus. Band II. Editorischer Bericht, Bildteil und Anmerkungen von Friedrich Pfäfflin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. , sowie die Briefwechsel des Verlegers Kurt Wolff aus den Jahren 1911 - 1963 [15] Kurt Wolff (1966): Briefwechsel eines Verlegers, 1911 - 1963. Herausgegeben von Bernhard Zeller und Ellen Otten. Darmstadt: Moderner Buchclub. .

Nun versuchen wir uns vorzustellen, wie sich ein schriftliches Sich-in-Verbindung-setzen bis zum Jahr 2050 entwickeln wird. Was meinen Sie, lieber Leser und liebe Leserin? Es könnte sein, daß bis dahin alle schriftlichen Interaktionen und Diskurse per elektronischer Mail erledigt werden. Um weiterhin solch wunderbare Brief-Konvolute, wie die weiter oben vorgestellten, zu sammeln und zu erhalten, müßten die, die es betreffen könnte, jede elektronische Mail ausdrucken und sorgfältig archivieren. Wird das geschehen? Ich befürchte nein. Und falls dieser Weg nicht gegangen wird, dann wird das eintreten, was wir schon weiter oben, die Zukunft der analogen Photos betreffend, vermutet haben: Der Wechsel eines Betriebssystems oder die Anschaffung eines neuen Computers werden dazu führen, daß die elektronischen Mails jeweils nach nur wenigen Jahren gelöscht werden. Es wird im Jahr 2050 vermutlich weder digitale noch analoge Aufzeichnungen über Briefwechsel mehr geben, die 30 oder 40 Jahre zurück liegen, und die uns an etwas erinnern oder auf etwas hinweisen könnten. Wo bleiben dann die Quellen der Erinnerungen? [16] Es ist müßig zu erwähnen, daß dies die Geschichtswissenschaften vor sehr große Probleme stellen wird, falls sie - und andere einschlägige Geisteswissenschaften - im Jahr 2050 überhaupt noch an den Universitäten gelehrt werden. Was allerdings nicht zu erwarten ist.

Sollen wir noch den heute sehr beliebten ‹Short Message Service› erwähnen? Diese ‹Kurzmitteilungen› werden allerdings bereits heute schon nicht in analoger Form gespeichert. Sie dienen ja, wie die weiter oben erwähnten Photos, die mit Mobilphonen ‹geknipst› werden können, dem Ausdruck einer aktuellen Lagebefindlichkeit, die des längeren Festhaltens, des Aufbewahrens nicht für wert erachtet wird. Ob sich diese Einstellung bis zum Jahr 2050 ändern wird? Vermutlich nicht.


2.3 Entwicklungsstufen von Texten

Ich möchte noch einen weiteren Punkt erwähnen, der - zugegeben - in der heutigen ‹Informationsgesellschaft› etwas lächerlich wirkt. Wenn heute ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin einen Text verfaßt, so geschieht dies zu beinahe einhundert Prozent mit Hilfe eines elektronischen Schreibsystems, also eines Computers. Diese Weise der Erstellung von Texten hat viele Vorteile, die ich selbst sehr schätze, aber sie hat auch einen entscheidenden Nachteil: Da während der Textkonstruktion alle für unpassend gehaltenen Formulierungen einfach gelöscht oder geändert werden, lassen sich im Nachhinein keine Entwicklungsstufen, keine Vorversionen und keine Fassungs-Varianten allfälliger Elukubrationen mehr finden [17] Falls Sie ein Gespür dafür bekommen möchten, was uns hier verloren gehen könnte, schauen Sie in dieses Buch: Robert Musil (1983): Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Adolf Frisé. 31. - 40. Tausend. Reinbek: Rowohlt. . Alle Abwandlungen, alle Modifikationen, die die Schlußversion eines Textes erst ermöglichten, sind im digitalen Nichts verschwunden, sind nicht mehr erinnerlich. Was soll eine Autorin im Jahre 2050, falls sie etwa vom ‹Literaturarchiv in Marbach› darum gebeten würde, von ihrem ‹Handapparat›, ihren Notizen einliefern? Ihre Schlußversionen sind ja längst veröffentlicht. Und es gibt nur diese.


3 Finale: Über den Sinn

Alles hat einen Sinn, alles macht Sinn, so oder so. Unsere Argumentation zum ‹Abschied von der Erinnerung› paßt sehr gut zu Befürchtungen, die einige Soziologen, wie etwa Richard Sennett oder Robert D. Putnam [18] Vgl. Richard Sennett (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag; sowie Robert D. Putnam (2001): Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. Touchstone Books. , hegen. Die Globalisierung und Entfesselung des finalen Kapitalismus brächte, so Sennett und Putnam, mit einem ausschließlich an kurzfristigen Kosten-Nutzen-Analysen orientierten Verhalten einen Niedergang des ‹Sozialkapitals› mit sich, des Insgesamt an sozialen Verläßlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Hier wird der Verlust von Sozialbezügen, ja die Zerrüttung des Sozialen selbst beklagt, und Erinnerungen an das eigene Werden und das Werden der sozialen Mikro- und Makro-Räume stellen vermutlich das wichtigste ‹Sozialkapital› dar. Fragen wir uns also, welche Vorteile die ‹Herren des Wörterbuchs› [19] Vgl. dazu unser Arbeitspapier Nr. 14, Kapitel 6.5.1, Seite 52. von einer sich zunehmend entwickelnden postmodernen Ahistorizität haben könnten.

Helmut Hansen schreibt in seinem Essay über die Gesellschaft des Spektakels [20] Vgl. «Im Auge des Spektakels» von Helmut Hansen : «In einer spektaklistischen Gesellschaft gibt es nichts mehr, was sich als Geschichte, als Historie bezeichnen ließe: ‹Als erstes hatte es die spektakuläre Herrschaft darauf abgesehen, die Kenntnis der Geschichte im allgemeinen zu beseitigen […]. Das Spektakel organisiert meisterhaft die Ignoranz dessen, was passiert, und unmittelbar darauf das Vergessen von dem, was trotzdem hat ruchbar werden können.› [21] Guy Debord (1996) Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Seite 205. Was einmal war, wen interessiert das? Wie einmal etwas war, wozu sollten wir das wissen? Wie etwas geschehen konnte, wen geht das etwas an, wenn gleich meine Lieblings-Soap anfängt?»

Und in ihrem Essay «So viel ‹Ich› war nie» schreibt Henriette Orheim: «In der A-Historizität der Postmoderne finden wir flüchtige soziale Räume, flüchtige soziale ‹Bindungen›, flüchtige Jobs. Das ‹Ich› wird zum ebenfalls flüchtigen, immer wieder neu herzustellenden Gesamtkunstwerk, dem es jeweils um den momentanen Zustand, um die aktuelle Befindlichkeit, um die soeben erlebte Aufregung oder Langeweile geht.» Ist da noch Raum für Historie? Ist da überhaupt noch ein Raum für irgendetwas jenseits des Spektakels?

Schauen wir uns diese mögliche neue Ahistorizität, diesen ‹Abschied von der Erinnerung› noch etwas näher an: Im finalen Kapitalismus wird der Begriff der Flexibilität ja in dem Sinne gebraucht, daß er den Menschen mehr Freiheit gebe, ihr Leben zu gestalten, indem sie einfach eine Fülle von kurzfristigen Arbeitsverhältnissen eingingen und dabei viel Spaß hätten. Nicht nur Richard Sennett und Robert D. Putnam machen sich nun Gedanken darüber, wie und auf welche Weise diese neue den Menschen vom Kapital abgeforderte Flexibilität Psyche und Charakter der dann flexiblen Menschen verändern könnten. Das, was wir bei Menschen gemeinhin den ‹Charakter› nennen, entwickelt sich vermutlich über einen längeren Zeitraum, indem Themen und Erzählungen über die eigene Person und die sozialen Beziehungen sowie Vorstellungen von der Welt immer wieder aufgegriffen, verändert und geschärft werden und die Sich-Entwickelnden dafür Anerkennung und Zuwendung von anderen Menschen erwarten, suchen und meist auch erhalten. Der Charakter von Menschen als Erzählung «konzentriert sich insbesondere auf den langfristigen Aspekt unserer emotionalen Erfahrung, Charakter drückt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele.» [22] Vgl. Richard Sennett (1998), a.a.O. Seite 11.

Die Frage ist nun berechtigt, wie Menschen einen stetigen ‹Charakter› entwickeln können, wenn sie in ihren vielfältig fraktionierten Kurzzeit- und Paralleljobs niemanden haben, der sie nach den Dingen fragt, die für die Entwicklung ihres ‹Selbst› wichtig sind. Oder anders: Wie soll sich ein sich sozial verpflichtend fühlender Charakter ausbilden, wenn soziale Institutionen ständig zerbrechen oder umstrukturiert werden? Werden doch die ‹flexiblen Menschen›, die Arbeitsnomaden der zweiten Moderne, die geringfügig Beschäftigten und geringfügig Bezahlten, die Heloten und Arbeitssklaven, die für Billig-Discounter Billig-Waren in Billig-Regale räumen, in Richtung Vereinzelichung, Egoismus, Konkurrenzkampf und - Fatalismus gedrückt und gedrillt. Ihr Motto soll sein «Fit to quit», jederzeit. Kündigungsschutz? Das war vorgestern.

Paßt in dieses Szenario des finalen Kapitalismus das rührselige Betrachten von Photos der eigenen Familie, das Lesen schriftlicher Aufzeichnungen über ein Gewordensein im eigenen sozialen Raum? Paßt in dieses Szenario der völligen Verfügbarkeit ein Sich-Eingedenk-Werden der eigenen sozialen Wurzeln? Nein. Wenn flexible Arbeitsnomaden die Möglichkeit haben, ihr Sein an eine soziale Geschichtlichkeit anknüpfen zu können, beschädigt dies ganz offensichtlich ihre unbedingte Einsatzbereitschaft für die finanziellen Interessen der ‹Herren des Wörterbuches›. Denn Geschichte, insbesondere die eigene Geschichte, setzt immer Bedingungen.

Insofern ist der Verlust von möglichen Erinnerungsquellen, ist die Abtrennung von der eigenen Geschichte, ist die Enthistorisierung des Weltenlaufes, ist die Entkleidung des Menschen vom Sozialen, ist ein ‹Abschied von der Erinnerung› für den zukünftigen finalen Kapitalismus eine überaus erfreuliche und begrüßenswerte ‹Nebenwirkung›. Die Arbeitsnomade der zweiten Moderne soll ohne Bezug, ohne Aufenthaltsraum, ohne Asyl, ohne eine Zufluchtsstätte - ortlos sein. Wir sind auf dem Weg.

Doch vielleicht kommt - wie eingangs schon erwähnt - auch alles ganz anders, lieber Leser und liebe Leserin. Denn wir leben, essen, empfinden, lieben und denken analog, ja, und vielleicht sind wir sogar so ‹stark›, daß uns auch ohne eine «kulturelle Revolte gegen die Digitalisierung des Wissens» [23] Paulina Borsook, a.a.O. Seite 155. weder das digitale Zeitalter noch die durch das Ausgeliefertsein an die ‹Herren des Wörterbuches› und des Marktes zu erwartenden psychischen Zumutungen etwas anhaben können. Das wäre was.



Erstellt: 2. Februar 2004 - letzte Überarbeitung: 2. Februar 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.