BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Neue Spielregeln der Ausbeutung (1): Surfen und Sich-Selbst-Ausbeuten»
von Henriette Orheim
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Erich Jantzsch hat irgendwo mal drei Lebensweisen beschrieben, die bislang mehr oder weniger denkbar waren: Von außen dem Fluß beim Fließen zuschauen, in einem Boot auf dem Fluß herumfahren oder selbst der Fluß sein. Da das Leben in der Postmoderne kaum noch einen gerichteten Fluß kennt, ist jetzt das Surfen auf kulturellen Wellen und Schaumkronen dazu gekommen, wobei das Wort «Surfen» als Zusammenfassung und treffliche Charakterisierung eines Lebensstils sehr brauchbar ist. Was ist heute nur los? Und was hat Surfen denn mit Sich-Selbst-Ausbeuten zu tun? Der Reihe nach:

Der postmoderne neoliberale Surfer verfügt heute über eine grundlegende Eigenschaft, die von den Lobbyisten des Kapitals endlos gepriesen und propagiert wird. Richard Sennett hat diesem Prototyp von Jobbern ein Etikett gegeben, welches sehr anschaulich ist: «Flexibilität». Postmoderne Surfer sind die ersten «flexiblen Menschen». Schauen wir hin:

Ein postmoderner Surfer sieht sich selbst permanent mit den Augen und aus dem Blickwinkel des Kapitals, dem er sich bereitwillig und restlos glaubt anpassen zu müssen.

Ein postmoderner Surfer sieht sich selbst und seine Arbeitskraft als Ware, die er aggressiv und meistbietend «am Markt» anzubieten hat. Da heißt es, cleverer zu sein, als die Mitbewerber.

Ein postmoderner Surfer dient gerne, er ist anstellig. So sieht er sich selbst als allüberall einsetzbare und hoch leistungsbereite Allzweckwaffe. Um welche Leistungsbereiche es im einzelnen geht, was genau von ihm verlangt wird und gegen wen und mit welchen Waffen eigentlich Krieg geführt wird, ist unerheblich, das interessiert ihn nicht. Und genau diese Attitüde nennt der Surfer – sich selbst lobend – «marktwirtschaftliches Auftragsverständnis». Er führt Aufträge aus! Ist das klar? Ja.

Wichtig ist, daß ein postmoderner Surfer sich selbst als Avantgarde sieht, niemals als rückwartsgewandt, abhängig oder gar als Sklave. Ja, ein postmoderner Surfer sieht sich selbst geradezu als Pionier neuer flexibler Arbeitsformen und neuer flexibler Arbeitsverträge. Bei den neuen Arbeitsformen geht es um die Auflösung «alter» Organisationsformen von Arbeit und Arbeitszeit, also z.B. um das flexible Büro mit «Desk-Sharing» (in dem keiner mehr eine eigene, persönliche Arbeitsumgebung wie etwa einen eigenen Schreibtisch oder gar einen eigenen Raum hat) und um die «Vertrauensarbeitszeit» (bei der der Arbeitgeber, nach der Abschaffung der Stechuhr, «mit Sicherheit» darauf vertrauen kann, daß die Arbeitnehmer mit Hilfe einer Überfülle von unbezahlten «Überstunden» konsequent ihrer eigenen Reallohn senken), und bei den neuen vorbildhaften flexiblen Verträgen geht es – kurz gesagt – um die freiwillige Aufhebung und Preisgabe aller über Jahrzehnte erkämpften tariflichen Schutzbestimmungen wie geregelte Altersvorsorge, geregelter Urlaub, etc. Es ist kaum der Rede wert, daß ein Surfer Gewerkschaften und andere soziale Organisationen (um einen Lacher zu erzeugen, sag' ich jetzt einfach mal «Wohlfahrtsverbände») lächerlich findet. Er muß schließlich alle Entscheidungen für sich und über sich allein fällen, wer soll das besser können, als er selbst?

Ich glaube seit geraumer Zeit, daß der/die/das große Lacansche Andere heute nicht mehr aus intersubjektiven Beziehungen zwischen einem Subjekt und anderen Menschen wächst und besteht, sondern daß der/die/das Andere, durch dessen Augen das Subjekt auf sich selbst schaut, der Markt, das Produkt, das Kapital ist.

Auch Berger und Luckmanns «Signifikanter Anderer» wird heute nicht mehr als Person findbar sein, sondern als abstrakte Regel, als nachhaltige Aufforderung, als endlos wiederholter neoliberaler Singsang des Kapitalismus. So bestehen postmoderne Surfer aus fremdbestimmtem Flickwerk, das nur ein Ziel hat: Permanente, nie enden wollende Anpassung, und genau diese Anpassung, ja Unterwerfung, wird dem postmodernen Surfer von postmodernen Motivationstrainern und Managementexperten als Annahme einer «Herausforderung», als «selbstbestimmtes Leben», als «Eigenverantwortung», ja als «Freiheit» verkauft, also wegerklärt. Gibt es noch einen Unterschied zwischen dieser flexiblen Arbeitshaltung und einem nach wie vor gesellschaftlich verfemten Broterwerb, wie etwa dem der Prostitution? Ich halte die zweite Art des Broterwerbs auf einer grundsätzlichen Ebene für weniger verlogen. Eine Prostituierte bewahrt ihre Würde und Ehre, indem sie diejenigen, die sie bezahlen, letztlich verachtet. Das tut der flexible Surfer nicht. Er verachtet seinen Arbeitgeber nicht. Er möchte an dessen Stelle sein.

Der postmoderne, flexible Surfer gehört zweifellos zur «Take-Away-Generation». Aber was nimmt er denn mit? Sich selbst? Nein, er nimmt sich selbst ja beiseite, er nimmt sich selbst weg, er ist als «Ich» ja austauschbar, nicht mehr identifizierbar, ohne Identität. Er war einmal!

Haben die postmodernen flexiblen Surfer noch einen sozialen Rechnungshof, dem sie sich verantwortlich fühlen? Nein, denn zum einen gerieren sie sich als solipsistische Solitärwesen, die ein Diskurs über «Moral» oder eine soziale Aushandlung von «Werten» überaus langweilen würde. Und zum anderen sind sie ja immer im Dienste seiner Majestät, des Kapitals. Das ist ihr Hof, das ist ihre Instanz. Sie bilden den Hofstaat, sind hoffärtige Hofschranzen, sie sind eben gerne bei Hofe, und sie folgen den Anordnungen Ihrer Majestät. Punkt. Moralische Fragen werden also nicht gestellt. Wozu auch? Und falls der Surfer mal mit einer solchen Frage belästigt werden würde, was würde er dann sagen? Genau: «Wenn ich es nicht mache, macht es jemand anderes!» Tja.

Der postmoderne neoliberale Surfer verzehrt sich also selbst, um dienen zu dürfen. Wie vordemokratisch, wie feudal! Der Surfer ist – in einem Akt der Selbstdressur – zu einem bewußtlosen Selbstausbeuter, zu einem Sklaven und – in faszinierender Gleichzeitigkeit – zu seinem eigenen Sklaventreiber geworden. Er ist sein Sklave! Das muß man/frau erst mal hinkriegen. Der finale Spaßkapitalismus hat es geschafft. Gratulation! Habe die Ehre!

Ach, da fällt mir noch ein, fragen wir den postmodernen Surfer doch einfach mal selbst!



Kommentare:

20. Oktober 2000
Liebe Henriette,
was Du schreibst ist übrigens alles andere als übertrieben. Ich habe mit meiner Firma gerade ein kleines Unternehmen beraten, das EU-Gelder für mittelgroße Projekte aller Art verbrät. Stell Dir vor, da überwachen sich in einem Großraumbüro alle gegenseitig (Desk-Sharing haben die noch nicht), mit dem Resultat, daß wirklich alle von 9 bis 23 Uhr anwesend sind und arbeiten. Und das natürlich bei einem bezahlen 8 Stunden Tag. Keiner traut sich, eher zu gehen. Tja, so geht das. Und das ist noch nicht alles, denn jeder einzelne Arbeitsschritt muß genauestens notiert werden, damit Arbeitskosten und Arbeitsleistung ins rechte Verhältnis gesetzt und «Kosten-Leistungs-Lücken» entdeckt werden können. Und das dient wiederum nur einem möglichen späteren Personalabbau. Schöne neue Welt!
Herzliche Grüße von
Bethchen B.



Erstellt: 23. August 2000 – letzte Überarbeitung: 20. Oktober 2000
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