BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Neue Spielregeln der Ausbeutung (3): Die Neue Arbeitsorganisation und ihr Individuum» von Helmut Hansen & Bethchen B.
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Perhaps the forces that menace freedom are too strong to be resisted for very long.
It is still our duty to do whatever we can to resist them.
(Aldous Huxley, Brave New World Revisited, Schlußwort)

Einführung

Benjamin Erhard hat in seinem Essay «‹Ich verlasse mich da ganz auf Sie!› – Verantwortung im Postfordismus» bereits verdeutlicht, daß die Erweiterung des Verantwortungsbereichs der Beschäftigten nichts anderes als ein kapitalistisches Herrschaftsinstrument darstellt. Wir wollen seine Überlegungen und den Diskurs über die Neue Arbeitsorganisation vorantreiben und zuspitzen, denn ein kontinuierlicher Austausch über die neuen Formen der Machtausübung und ihre sprachlich nur mühsam zu fassenden Wirkmechanismen stellt die wichtigste Gegenmacht gegen die immer perfider werdenden Strategien der Arbeitsorganisatoren dar. Dieser Text stützt sich dabei im wesentlichen auf Argumente aus der Industriesoziologie und beschreibt hauptsächlich Verfahren, die ihren Ursprung im industriellen Sektor haben.

Im engeren sozialen, psychologischen oder vielleicht erkenntnistheoretischen Bereich orientierte LeserInnen möchten wir daher vorab auf parallel betriebene und sehr fortgeschrittene Bemühungen aufmerksam machen, den sozialen Dienstleistungsbereich ebenfalls im Geiste wirtschaftswissenschaftlicher Modelle und Weltbilder neu zu strukturieren. So macht zum Beispiel H. J. Dahme sehr deutlich, daß die im Rahmen Neuer Steuerungsmodelle betriebene Ausbreitung ökonomischer Kriterien im sozialen Bereich dazu führt, daß inhaltliche oder gar ethische Motivationen der Beschäftigten als zunehmend irrational und störend erlebt werden. «Die Gefahr, daß soziale Dienste […] wie ein Zulieferungsnetzwerk der Automobilindustrie organisiert werden, […] steht als Menetekel an der Wand.» [1] Dahme, Heinz-Jürgen (2000): Kontraktmanagement und Leistungsvereinbarungen – Rationalisierung des Dienstleistungssektors durch Vernetzung. Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Heft 2, S. 67 Wachsamkeit ist also gerade in den Bereichen geboten, in denen die letzten Reste von gesellschaftlicher Solidarität vom Homo Oeconomicus und seinem Sozialdarwinismus bedroht werden.

In diesem Aufsatz wird es um den Zugriff des finalen Kapitalismus auf das Individuum gehen: Um nicht mehr und nicht weniger als die Eroberung der inneren Lebenswelt der Menschen, durch die Ökonomie; um die Implementierung unternehmerischer Module in die kognitive Apparatur der Belegschaft, als die zentrale Voraussetzung für Selbstausbeutungsprozesse; um diejenigen Prozesse also, die, wie es Benjamin Erhard so treffend dargestellt hat, das Perpetuum Mobile der Unfreiheit in Bewegung halten, und die die Beschäftigten dazu bringen, sich freundlicherweise selbst zu kontrollieren; um das gezielte Schüren einer auf maximalen Profit ausgerichteten innerbetrieblichen Paranoia, welche die Ängste und das schlechte Gewissen der Beschäftigten in bare Münze umwandelt. Und um ähnliche Barbareien. Bevor wir jedoch näher darauf eingehen, soll zunächst als Rekapitulation noch einmal der wichtigste Unterschied zwischen der Alten und der Neuen Arbeitsorganisation benannt werden.


Fordismus und Postfordismus

Der qualitative Unterschied zwischen der Alten und der Neuen Arbeitsorganisation – zwischen Fordismus und Postfordismus – ist die Unterdrückung durch eine definierbare äußere Macht gegenüber der Kontrolle durch eine seltsame Macht, die im Inneren der Menschen selbst wirkt: Der Kontrolle also durch einen Vorgesetzten, der konkret existiert und den Beschäftigten – Kraft seiner Position in einer institutionalisierten Hierarchie – ein bestimmtes Verhalten aufzwingt; und der Kontrolle durch einen schemenhaften verinnerlichten Vorgesetzten, der die Beschäftigten glauben macht, seine Weisungen wären ihre eigenen Anforderungen an sich selbst.

Die alten Command and Control-Strategien hatten für die Beschäftigten den immensen Vorteil, leicht durchschaubar zu sein. Sie beruhten auf einer klaren Arbeitsteilung und strengen Hierarchien. Es gab eine definierte Aufgabe, Weisungen erfolgten von oben nach unten, der Chef stand als Kapitän auf der Kommandobrücke und trug so letztlich die Gesamtverantwortung für das Unternehmen. Sinnbild für den Beschäftigten im Fordismus war der Lohnsklave: Die Bedrohung der Beschäftigten durch die Mächtigeren war «äußerlich und personalisiert. Sie beruhte auf den Weisungen, die von einem Vorgesetzten erlassen und mit Strafandrohung untermauert wurden.» [2] Schmidt, Angela (2000): Mit Haut und Haaren – Die Instrumentalisierung der Gefühle in der neuen Arbeitsorganisation. Denkanstöße – Zeitschrift der IG Metaller in der IBM, S. 33

Im Postfordismus entziehen sich demgegenüber die Mächtigen der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Beschäftigten. Sie regieren nicht mehr direkt über Anweisungen, sondern indirekt über eine ökonomische Rhetorik, kombiniert mit Arbeitsmethoden, die die Beschäftigten dazu bringen, auf sich selbst aus unternehmerischer Perspektive zu schauen. Um ein solches unternehmerisches Denken und Erleben in die Beschäftigten zu verpflanzen, wird der Druck, den der Markt auf das Unternehmen ausübt, für die Mitarbeiter unmittelbar spürbar gemacht. «Die Mitarbeiter werden möglichst direkt mit den Notwendigkeiten ihrer Marktsegmente konfrontiert. Die Firmenleitung sagt: ‹Ihr seid selbst die Experten. Seht Euch den Markt an und tut, was ihr tun müßt!›» [3] Schmidt, a.a.O., S. 31 Im Extrem kann eine solche Aufforderung zu einem schizoiden Paradox führen: «Ich selbst beginne zu überlegen, ob meine Beschäftigung für die Firma überhaupt noch rentabel ist.» [4] Schmidt, a.a.O., S. 31

Ein beliebtes Instrument zur Implementierung einer derartig profitorientierten Sicht der Beschäftigten auf sich selbst sind neue Accountingsysteme, die profitrelevante Daten an Teams und ihre einzelnen Mitglieder zurückmelden. So lernen sowohl die Gruppe als auch einzelne Mitarbeiter die eigenen Kosten und den eigenen Wertbeitrag abzuschätzen. Die Beschäftigten übernehmen dadurch die Perspektive eines Managers, der auf sich selbst als Ressource schaut, und dabei natürlich bemüht sein muß, Kosten zu senken und den Nutzen zu steigern. Ist auf diesem Weg einmal die Sprache des Warentauschs im Denken und Erleben der Beschäftigten verankert, gelten irgendwann nur noch rein quantitative Erfolgsmaßstäbe, [5] Der Staat tut übrigens auch was er kann, um den Bürgern einen kleinen Finanzbeamten zu implementieren, aus dessen Perspektive sie dann auf sich selbst schauen sollen. Ein Beispiel: Da sich der Staat zunehmend der Verantwortung entledigt, für die Rente seiner Bürger zu sorgen, werden die Bürger aufgefordert, in jüngeren Jahren die potentielle Versorgungslücke im Rentenalter vorauszuberechnen. Entsprechend der Versorgungslücke sollen dann private Altersvorsorgemaßnahmen getroffen werden. So werden Menschen zur Ich-AG, einer multiplen Persönlichkeit mit eingebautem Finanzbeauftragtem. Sorgt schließlich eine Ich-AG nicht rechtzeitig für das Alter vor, sind natürlich nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse schuld an der Altersarmut, sondern die Ich-AG und ihre schlechte Finanzverwaltung. auch und vor allem hinsichtlich der eigenen Person. Diese Selbst-Ökonomisierung führt schließlich zum Raubbau an den Ressourcen der Ich-AG im Dienste des Unternehmens.

Das Sinnbild für den Beschäftigten im Postfordismus ist aus dieser Perspektive natürlich der Selbstausbeuter. In ihm wird der maßlose Verwertungsprozess des Kapitals zur entgrenzten Verwertung des Selbstwertes. Da von jetzt an auch die Marktprozesse sein Gegenstand sind, bearbeitet der Mitarbeiter im Postfordismus gleichzeitig den Gebrauchswert und den Verwertungsaspekt seines Produkts. Er bleibt also auf der einen Seite seiner Persönlichkeit ein einfacher Beschäftigter, um auf der anderen Seite seiner Persönlichkeit gleichzeitig als kleiner Unternehmer die Verantwortung für den Verwertungsaspekt desselben Produktes zu haben. Somit kann das Anforderungsprofil an einen idealtypischen Mitarbeiter im Postfordismus als wortwörtlich schizophren bezeichnet werden: «Der unternehmerische Wille vollzieht sich über den Willen der Beschäftigten.» [6] Glißmann, Wilfried (2000): Ökonomisierung der Ressource Ich – Die Instrumentalisierung des Denkens in der neuen Arbeitsorganisation. Denkanstöße – Zeitschrift der IG Metaller in der IBM, S. 16


Der Kapitalist verläßt die Brücke

Noch einmal kurz zurück zum Fordismus: In dem älteren System war allein der Unternehmer – nennen wir ihn wie Wilfried Glißmann [7] Glißmann, a.a.O., S. 7 spaßeshalber Kapitalist – im Griff der Kapitalbewegungen. Hauptaufgabe des Kapitalisten war die Vermittlung zwischen dem Kapitalmarkt und der Belegschaft seines Unternehmens. Der Unternehmer leitete die Forderungen der Kapitalmärkte als Weisungen an die Beschäftigten weiter. Und überwachte mittels seiner Autorität über die Ausführung seiner Anweisungen. So widerwärtig diese Situation auch war, sie hatte gegenüber der Herrschaft im Postfordismus einige Vorteile. Der klassische Kapitalist bot vor allem eine klare Angriffsfläche für Gegenmacht. Das ist im Postfordismus nicht mehr so, «denn die neue Form unternehmerischer Herrschaft beruht nicht mehr auf Weisungen und Befehlen.» [8] Glißmann, a.a.O., S. 9

Der postfordistische Kapitalist geht elegant einen Schritt zur Seite, um den Markt möglichst unmittelbar auf die Beschäftigten wirken zu lassen. Er setzt von nun an nur noch die unternehmerischen Rahmenbedingungen zur Optimierung der Selbstausbeutung der Beschäftigten. Euphemistisch nennt der Kapitalist das dann gerne die Übertragung von Verantwortung an die Mitarbeiter. «Im einfachen Fall stellt der Arbeitgeber einem Marktsegment […] ein Unternehmens-Segment gegenüber und sagt den Beschäftigten in dieser Einheit: ‹Das ist eure Welt, in der ihr euch zu bewähren habt›» [9] Glißmann, a.a.O., S. 10 Vermutlich fügt er noch hinzu: «Ich verlasse mich da ganz auf Sie!»

Indem der Kapitalist sich so als höhere Instanz und Angriffsfläche aus dem Spiel nimmt, schafft er ein vollkommen neues betriebliches Grundverhältnis. Von nun ist die Arbeit nicht mehr vertikal organisiert, aufgeteilt in die oben und die unten. Statt dessen gibt es nur noch die auf einer Ebene in Teilbereiche zergliederte Belegschaft und die jeweiligen sachlichen Probleme, an denen ein Unternehmens-Segment als organisatorische Einheit arbeitet. Das der Kapitalist dabei alleine die Macht hat, die sachlichen Probleme zu bestimmen, verliert sich irgendwo in diesem Prozeß. Er hatte sich ja in einem geschickten taktischen Manöver von der Kommandobrücke gestohlen, um von nun an als Großer Unbekannter im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Das macht er, indem er Arbeitseinheiten und die Welten, in denen sie sich zu bewähren haben, definiert. Gleichzeitig behauptet er natürlich, für diese zu Sachzwängen erklärten Wirklichkeiten rein gar nicht verantwortlich zu sein, denn so seien nun mal die Erfordernisse des Marktes. [10] An dieser Stelle sollte vielleicht betont werden, daß der Postfordismus den Fordismus natürlich nicht abgelöst, sondern vielmehr optimiert hat. Heute herrschen Organisationsformen, die aus der Kombination von Markt- und Hierarchieelementen bestehen und ein ausgeklügeltes System von Autonomie und Kontrolle darstellen. Der Kapitalist setzt autoritär die Rahmenbedingungen und definiert Aufgabenbereiche. Die autonome Eigenverantwortung der Mitarbeiter nimmt den Legitimationsdruck von den Vorgesetzten, dient der Flexibilität und befördert Selbstausbeutungsprozesse.


Paranoia inside

Ein äußerst effektives Instrument der Neuen Arbeitsorganisation ist die gezielte emotionale Überbeanspruchung der Mitarbeiter. Andy Grove, ehemaliger Spitzenfunktionär von Intel, geht so weit, die Paranoia zur Leitfigur für die Kultur eines flexiblen Unternehmens auszugeben, das sich in einem kontinuierlich wandelnden Markt behaupten will. [11] Vgl. Grove, Andrew (1997): Nur die Paranoiden überleben. Strategische Wendepunkte vorzeitig erkennen. Frankfurt/Main: Campus. Paranoia treibt die Belegschaft zu ständiger Wachsamkeit: Vor Feinden innerhalb der Belegschaft, vor Konkurrenten des Unternehmens, vor zu großer Selbstzufriedenheit. Angst ist die motivationale Triebfeder des Postfordismus schlechthin, [12] Schaue dazu auch Michael Moores hervorragenden Dokumentarfilm Bowling for Columbine. Der Film beschreibt die gleiche psychologische Grundstimmung in einem großen freiheitsliebenden Land. Dort wird ein ausgeprägter Waffenfetischismus und eine niederschwellige Kriegsbereitschaft gerne mit Angst vor Feinden aus dem Äußeren und aus dem Inneren begründet. weil die aus der Angst gespeisten Reflexe die Selbstausbeutung anfeuern und die Mitarbeiter über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaustreiben. Die Angst vor dem eigenen Versagen, vor Arbeitslosigkeit, vor dem Bankrott, vor dem Verlust des eigenen Marktwerts endet irgendwann nicht mehr mit dem Ende der täglichen Arbeitszeit. Die Mitarbeiter nehmen ihre Ängste mit nach Hause. Wo sich die Befürchtungen sogar noch steigern, wenn es den Beschäftigten irgendwann nicht mehr gelingt, das Private von der Ökonomie zu trennen. Bis schließlich der Punkt erreicht ist, wo nur noch pausenloses Arbeiten vor der Angst schützt.

Wird nicht gearbeitet, erhebt sich die Stimme des Herrn: Das ‹Schlechte Gewissen›. Es macht sich immer dann bemerkbar, wenn der Arbeitsplatz verlassen wird, obwohl noch nicht alles erledigt ist. Wenn keine Überstunden gemacht werden. Wenn nicht am Wochenende gearbeitet wird. Wenn es nicht mehr anders geht, als sich krankschreiben zu lassen. Im Urlaub. Immer dann eben, wenn sich das Individuum dem Marktprozeß entzieht. Die verinnerlichte drohende Stimme des Unternehmers in Gestalt des ‹Schlechten Gewissens› ist eigentlich ein Überbleibsel aus den alten Command and Control-Strukturen. Das Gewicht der Stimme und ihre Drohung ist in der Neuen Arbeitsorganisation aber um ein vielfaches stärker, weil die Stimme nicht mehr als eine äußerliche erlebt wird. Sondern viel mehr als die eigene Stimme, mit der sich der Mitarbeiter als Unternehmer selbst dazu auffordert, jederzeit dem Kapital dienstbar zu sein. Der Arbeitgeber lacht sich dabei natürlich ins Fäustchen, denn «der Antrieb durch die Gefühle ist unentgeltlich und erscheint auch nicht als unternehmerische Grausamkeit. […] Die intensiven Gefühle sind ein kostenloser und ideologisch unverdächtiger Katalysator für Leistungssteigerung.» [13] Schmidt, a.a.O., S. 39

Einen zusätzlichen Schub bekommt der Antrieb durch Gefühle schließlich noch in der Gruppenarbeit. Vor allem in einem flach organisierten Team kann sich der Druck zwischen den Mitgliedern der Gruppe leicht potenzieren. Die Angst um den eigenen Arbeitsplatz wird zur Aggression gegenüber denjenigen, die nicht den gleichen viel zu hohen Beitrag leisten, um das Unternehmen vor den drohenden ökonomischen Damoklesschwertern zu beschützen.


Wissen entmachtet

Die Transparenz der Marktprozesse und ihre ungebremste Wirkung auf die in unternehmerischem Denken geschulte Belegschaft verstärkt den Druck auf die Mitarbeiter zusätzlich. Es ist gerade die Kenntnis der Folgen des eigenen Handelns, die die Beschäftigen permanent dazu antreibt, freiwillig über ihre Leistungsgrenzen zu gehen. Wilfried Glißmann veranschaulicht die indirekte Steuerung der Belegschaft durch die Arbeitgeber am Beispiel des Target Costing. [14] Glißmann, a.a.O., S. 13f. Hierbei wird am Reißbrett bzw. am Computer ein virtuelles Produkt für eine definierte Zielgruppe entworfen. Im nächsten Schritt wird versucht zu bestimmen, wie viel Geld die Zielgruppe bereit wäre, maximal für das Produkt zu zahlen. Von diesem am Markt potentiell zu erzielenden Preis wird dann der Gewinn abgezogen, den das Produkt mindestens erzielen muß, um wirtschaftlich rentabel zu sein. Was nach dem Abzug des notwendigen Profits vom potentiellen Marktpreis übrig bleibt, sind die erlaubten Kosten für die Herstellung des Produkts. Diese erlaubten Kosten werden dann an die eigenverantwortlichen Unternehmens-Segmente weitergegeben, mit der Vorgabe, ihren Beitrag zu leisten, um die erlaubten Kosten nicht zu überschreiten. Sehr angenehm ist es dabei für ein Unternehmen, wenn es global agiert. Die Fertigung eines Produkts kann in diesem Fall weltweit ausgeschrieben werden. Wenn ein Werk in Fernost wegen quasi nichtexistenter Lohnkosten dann günstiger produzieren kann als ein Werk in Deutschland, wird dem Werk in Deutschland noch einmal die Gelegenheit gegeben, das Werk in Fernost zu unterbieten. «Auf diese Weise werden die Beschäftigten im Konzern gegenseitig in Konkurrenz gebracht, es entsteht eine Dynamik des Bietens und Unterbietens.» [15] Glißmann, a.a.O., S. 14

Wilfried Glißmann gelingt es an dieser Stelle sehr gut, die Aspekte der Selbstverstärkung und Selbstbeschleunigung der neuen ausbeuterischen Strategien zu verdeutlichen: Ist das aktuelle Angebot der Konkurrenz aus den eigenen Reihen günstiger, müssen wir fortan billiger produzieren. Sind die anderen schneller, müssen wir unsere Produktion beschleunigen. Das Wissen des Mitarbeiters um die Mechanismen der Märkte erscheint so als ein unternehmerisches Wissen, das sich gegen den Mitarbeiter selbst wendet, indem es die oben beschriebenen Ängste weiter ansteigen läßt. Der Mitarbeiter wird so schließlich dazu gebracht, sich ohne Maß immer effizienter selbst zu Gunsten des Unternehmens auszubeuten.


Gegenmacht

Obwohl dies ein allzu kurzer und bei weitem nicht erschöpfender Blick auf die Neue Arbeitsorganisation und ihren Zugriff auf das ganze Individuum [16] So der Untertitel der Sonderausgabe des Magazins ‹Denkanstöße›, in dem die Arbeiten von Schmidt und Glißmann erschienen sind. war, soll abschließend gefragt werden, wie sich gegen diesen Zugriff gewehrt werden kann. Wie kann es verhindert werden, daß sich die für Unternehmenszwecke instrumentalisierten Kognitionen und Emotionen in einer Spirale der Ausbeutung hochschaukeln? Und wie könnte es Beschäftigten gelingen, aus dieser Spirale auszusteigen, wenn sie einmal darin gefangen sind? Benjamin Erhard hat es bereits beantwortet: Wenn wir nicht unmittelbaren Widerstand gegen heute mehr denn je ausbeuterische gesellschaftliche Verhältnisse leisten wollen, bleibt nur eins: Ein Bewußtsein zu schaffen für die Herrschaftsinstrumente der Neuen Arbeitsorganisation und ihre perfiden Auswirkungen auf unser Denken und Erleben. Dabei gilt: «Wichtig ist zu verstehen, daß Bewußtwerdung eine politische Aktionsform ist, wenn Mitarbeiter über ihre Unbewußtheit beherrscht werden.» [17] Schmidt, a.a.O., S. 41Nur wenn ein Bewußtsein über die Formen der Kontrolle in der Neuen Arbeitsorganisation vorhanden ist, kann auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene der Spirale der Selbstausbeutung entgegengewirkt werden. Was vor allem also hilft, ist Kommunikation zwischen den Arbeitnehmern in der Neuen Arbeitsorganisation und ein alternativer Diskurs über den Postfordismus – abseits der irreführenden und beschönigenden neuen Wörter, die die Herrschenden für ihre fortgeschrittenen Kontrollinstrumente erfinden.



Kommentare:

20. Februar 2003
Lieber Helmut, liebe Bethchen,
die von Euch beschriebene «emotionale Überbeanspruchung» als Instrument der ‹Neuen Arbeitsorganisation› erinnert mich an ein Gespräch mit meiner Freundin Charlotte, das ich kürzlich hatte. Die Geschichte dazu ist die folgende:
Charlotte, eine junge Frau Anfang 20, baut mit Energie ein Profit-Center im Unternehmen auf, in dem sie seit Ende ihres Wirtschafts-Studiums arbeitet. Sie bekam nie einen festen Arbeitsvertrag, sondern arbeitete über ein Jahr für vergleichsweise sehr wenig Geld als freie Mitarbeiterin. Das Movens war der vom Chef «in Kürze» versprochene Karrieresprung. Nun erinnerte die junge Frau ihren Chef eines Tages daran und bat um Klärung, wann sie denn mit dem versprochenem Gehalt rechnen könne. Die Antwort war blankes Entsetzen und die Frage: «Aber Sie sehen doch, welche Investitionen wir in letzter Zeit hatten! Was glauben Sie denn, was das alles kostet und welche Sorgen ich habe? Wir können doch froh sein, daß wir eine so interessante Arbeit haben. Und Sie haben hier eine Zukunft, vergessen Sie das nicht!».
Der Chef paktiert also mit den Sorgen der möglichen Arbeitslosigkeit, offeriert wieder und wieder die Zukunftsaussichten und – das ist der Trick – läßt die Beziehungsebene (die Emotionen des Chefs, die mit dem Vertrag nichts zu tun haben) mit der Sachebene verschwimmen, um subtil ein schlechtes Gewissen bei der Mitarbeiterin zu erzeugen. Das ‹Wir› suggeriert, daß Chef und Mitarbeiterin gleichsam in einem Boot sitzen und die Verantwortung zusammen tragen. Und der Appell, sich darüber Gedanken zu machen, welche Ausgaben der Chef hatte, bringt die Mitarbeiterin in einen emotionalen Konflikt. Sie empfindet sich als egoistisch und hat ein schlechtes Gewissen. Die Konsequenz: Charlotte vermeidet es, den Chef weiter darauf anzusprechen und nimmt ihre Sorgen, ihr schlechtes Gewissen mit in den Urlaub. Von dort erreichte mich dann diese SMS: «Liebe Lisa, brauche dringend deinen Rat.»
Junge Menschen, die nur die ‹Neue Arbeitsorganisation› kennen und in dieser aufwachsen, scheinen wenig Antworten aus einem Blick aus der Distanz – «Was passiert hier eigentlich gerade?» – ziehen zu können. Die Gespräche untereinander über die zunehmende Beanspruchung in der Arbeitswelt enden oft abrupt mit einem «Tja, Business ist eben kein Picknick!», was bei den Beteiligten eine Einstellung wie «Ist Wirtschaft zu stark, bin ich zu schwach!» hervorruft. Und: Dieser Zustand wird als normal betrachtet. Die Texte zu den ‹Spielregeln der Ausbeutung› sind hilfreich, um eine andere Perspektive einzunehmen. Für Charlotte auf jeden Fall!
Liebe Grüße vom Home-Arbeitsplatz,
Eure Lisa.



Erstellt: 2. Februar 2003 – letzte Überarbeitung: 20. Februar 2003
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