BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Dramolette des Alltags: «Schnappen: 3 Szenen» [1] Die Bochumer Arbeitsgruppe hat in ihrem Arbeitspapier Nr. 14 die derzeitigen Auswüchse der ‹Merkatokratie› detailliert skizziert. Nach der Lektüre hatte ich den Eindruck, wir wären derzeit ein einig Volk von Kleinkrämern und Basarhändlern. Im Dezember 2003 half ich dann einer Freundin in deren Laden und machte erstaunliche Erfahrungen über das, was die im Arbeitspapier Nr. 14 beschriebene «Geiz ist geil»-Ideologie mittlerweile ‹tatsächlich› aus den Menschen gemacht, was sie angerichtet hat. Kunden und Kundinnen waren fast ohne Ausnahme ‹Endverbraucher›, die davon überzeugt waren, «nicht blöd zu sein.» Artus' Kolumne vom 5.1.2004 war schließlich nur noch der Anlaß, einige der von mir erlebten Begebnisse im Laden meiner Freundin aufzuschreiben und festzuhalten für eine Zeit, die da dereinst kommen wird und in der all die in dieser kleinen Skizze beschriebenen hartnäckigen und kleinlichen Feilsch-Attacken und Selbstwert-Verrenkungen vergessen sein dürften. Dann wird da eine Ruhe sein.
von Henriette Orheim [2] Wie immer danke ich Artus für seine Unbedingtheit.
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Die Bühne ist überschaubar: Ein kleiner Schmuck- und Geschenkeladen im Ruhrgebiet, zwei junge Frauen (F1 und F2) hinter dem Ladentisch, davor mehrere Kundinnen (K1 bis Kn) nebst einigen Verwandten und Bystandern. Dekorationen im Laden verweisen auf die Vorweihnachtszeit. Spätnachmittag.


1. Szene: K1, F2

K1: «Ich suche für meine Nichte ein kleines Geschenk, am liebsten Ohrringe, diese dürfen aber nicht mehr als 15 Euro kosten.»
F2: «Dann schauen Sie mal hier; die liegen alle so in dieser Preisklasse.»
K1 sucht eine ganze Weile herum, findet schließlich zwei Paar Ohrringe, die ihr offensichtlich gefallen, und legt diese nebeneinander auf den Ladentisch. Das eine Paar kostet 13 Euro, das andere 19.
K1: «Die für 19 sind ja schöner. Ich will aber nur 15 Euro ausgeben. Können wir da nicht was am Preis machen?»
F2: «Nein. Diese grünen Steine sind wertvoller.»
K1: «Ich will aber nicht mehr als 15 Euro ausgeben.»
F2: «Dann nehmen Sie doch die für 13, die sind doch auch sehr schön.»
K1: «Die für 19 sind aber schöner.»
F2: «Hm.»
K1: «Wenn ich die Ohrringe für 15 kriege, nehme ich sie.»
F2: «Tut mir leid, das geht nicht. Nehmen Sie doch die für 13, die sind doch auch sehr schön.»
K1: «Die für 19 gefallen mir aber besser.»
F2: «Deswegen sind die ja auch etwas teurer.»
K1: «Gut, für 16 Euro nehme ich sie.»
F2: «Tut mir leid, das geht nicht.»
K1: «Aber ich brauch' doch ein Geschenk für meine Nichte.»
F2: «?»
K1: «Können Sie sie denn als Geschenk einpacken?»
F2: «Gern.»


2. Szene: K2, K3, F1, F2

K2 hat im Laden einen Kerzenleuchter gefunden, der ihr gefällt; sie stellt diesen auf den Ladentisch und bittet F1 darum, ihn in Geschenkpapier einzupacken. Während F1 damit beschäftigt ist, sagt K2: «Übrigens, ist denn in dem Preis noch Luft drin?»
F1: «Nein, tut mir leid.»
K3 hat zwei Teelichter und eine Duftkerze auf den Ladentisch gelegt und sieht, daß F1 für K2 etwas in Geschenkpapier einpackt; zu F2 gewandt: «Ach, könnten Sie mir diese Sachen auch in Geschenkpapier einpacken, die sind zwar nur für mich, ich find es aber so schöner.»
F2: «Gerne.»
K2: «Warum wollen Sie denn nicht was beim Preis machen?»
F1: «Dieser schöne Leuchter kostet, was er kostet.»
K3: «Wenn ich zwei von diesen Duftkerzen nehme, gibt es dann Prozente?»
F2: «Bei zweien nicht, da müssen Sie schon 12 nehmen.»
K3: «12 sind mir zuviel.»
F2: «Ja.»
K2: «Ich wollte gar nicht so viel ausgeben.»
F1: «Der Leuchter ist sehr schön, der ist versilbert.»
K2: «Ja, aber er ist doch sehr teuer.»
F1: «Wollen Sie ihn nicht mehr?»
K2: «Sagen wir 35, dann bin ich beruhigt.»
F1: «Tut mir leid, der Leuchter kostet 39 Euro.»
K2: «Sowas gibt es doch auch woanders.»
F1: «Bestimmt.»
K3 nimmt die in Geschenkpapier eingewickelten 2 Teelichter und die eine Duftkerze, bezahlt und verläßt den Laden.
K2: «Also gut, ich nehm' ihn. Aber ich bin nicht einverstanden.»


3. Szene: K4, K5, F1, F2

K4 steht am Ladentisch über eine Lade mit Ringen gebeugt. Sie nimmt einen heraus, hält ihn hoch, und sagt zu F2: «Der Ring gefällt mir gut, aber ist der Stein nicht schief eingesetzt? Gucken Sie mal hier, da ist doch ein Rand!»
F2: «Hm, das sehe ich nicht.»
K4: «Doch, das guck ich mir zu Hause genau an, unter der Lupe. Ich komm dann noch mal vorbei.»
F2: «Wollen Sie den Ring denn jetzt haben?»
K4: «Ja, aber der Stein ist etwas schief eingesetzt.»
F2: «Das finde ich nicht.»
K4: «Können Sie ihn nicht etwas billiger lassen?»
F2: «Tut mir leid, das geht nicht.»
K4: «Ich meine ja nur, weil der Stein schief eingesetzt ist.»
F2: «Das kann ich nicht erkennen.»
K4: «Wenn Sie ihn mir etwas billiger lassen, nehme ich ihn. Eigentlich ist er ja schön.»
F2: «Tut mir leid. Wir geben keinen Nachlaß, keine Prozente.»
K4: «Ich dachte nur, weil der Stein schief eingesetzt ist.»
K5 stellt eine goldene weihnachtliche Metallkonstruktion mit einer Halterung für ein großes Teelicht auf den Ladentisch.
F1: «Wollen Sie das haben?»
K5: «Ja, gerne. Ist denn im Preis noch Luft drin?»
K4: «Bestimmt ist der schief!»
F1: «Tut mir leid, das geht nicht.»
F2: «Soll ich den Ring als Geschenk verpacken?»
K4: «Der Stein ist schief.»
K5: «Warum kommen Sie mir nicht ein bißchen entgegen, das verstehe ich gar nicht.»
F1: «Wir geben keine Rabatte, tut mir leid.»
K5: «19 Euro sind eigentlich zuviel.»
F2: «Soll ich den Ring jetzt als Geschenk verpacken?»
K4: «Der Stein ist wirklich schief.»
F1: «Soll ich das Weihnachtslicht als Geschenk einpacken?»
K5: «Ja bitte.»
F2: «Möchten Sie den Ring jetzt?»
K4: «Ich nehm' ihn, auch wenn der Stein schief ist.»



Kommentare:

Liebe Henriette,
ich habe im vergangenen Dezember einige Tage auf einem Weihnachtsmarkt in einer großen Stadt des Ruhrgebietes gearbeitet. Eine Bekannte von mir hatte dort einen Stand mit allerlei Nichtigkeiten und Fuzzeleien, kurz, mit Sachen, die niemand braucht. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Du und kann das von Dir in Deinem kleinen Dramolett geschilderte nur bestätigen. Hier noch eine Ergänzung:

Damit mir bei der Eintönigkeit der Beschäftigung auf dem Weihnachtsmarkt die Zeit nicht zu lang wurde, habe ich nach einer Weile und einigen Erfahrungen versucht, Vorhersagen zu machen, welche Kunden dem unerbittlichen Handeln und Feilschen zuneigen und welche nicht. Hier meine ersten Ergebnisse, die auf dem nächsten Weihnachtsmarkt zu validieren wären:

Am schlimmsten sind Paare, die etwa 30 bis 40 Jahre alt sind und eher zur unteren Mittelschicht gehören. Also die typische Aldi- und Lidl-Klientel. Diese Leute bleiben dran, die lassen nicht locker, die sind klebrig, die fangen immer wieder von vorne an. Die versuchen Mängel an dem Unsinn zu entdecken, den sie kaufen wollen, die behaupten, auf dem Weihnachtsmarkt in einer anderen Stadt wäre das aber billiger zu haben, kurz, sie legen einen riesengroßen Wert darauf, persönlich bei der Verhandlung eines Preises Erfolg zu haben. Vermutlich wird das Problem auch dadurch gesteigert, daß sie eben zu zweit, als Paar, auftreten und so dem jeweils anderen glauben beweisen zu müssen, daß sie nicht blöd sind. Niedriger Preis – hoher Selbstwert. Das sitzt ganz ganz tief und ist bei diesen Verlorenen so bald nicht mehr zu löschen.

Überrascht und sehr erfreut war ich, daß junge und ganz junge Leute niemals handeln. Ich hatte den Eindruck, daß ihnen das - auch und gerade, wenn sie zu mehreren an unserem Stand waren – eher peinlich war. Gibt es da noch eine Hoffnung?

Liebe Grüße von
Sonja



Erstellt: 9. Januar 2004 - letzte Überarbeitung: 19. Januar 2004
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