BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Sisyphos heute: «Ein Sisyphos des Konkreten»
von Helmut Hansen
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Wir leben in einer Welt, die unüberschaubar groß, unerkennbar komplex, zeitlich und räumlich unbegrenzt, also ewig und unendlich ist. Die Unfaßbarkeit und Unermeßlichkeit dieser Welt wird von fast allen ihrer Besiedler weder erkannt noch verstanden. Es interessiert sie nicht, denn sie haben wichtigeres zu tun.

Wenn wir geboren werden und so nach und nach in unsere sozialen Räume hineinwachsen, kommen wir – früher oder später, doch meist nach etwa zwei bis drei Jahrzehnten – an einen Punkt, an dem wir die unermeßlichen epistemologischen und ethischen Abgründe, vor denen wir als Person in unserem Leben stehen, ahnen. Die Aporien unserer Existenz lassen uns schaudern. Doch heute zucken fast alle Besiedler dieses Landes, sollten sie sich wirklich diesem Punkte nähern, nur einmal mit den Schultern, zeigen ein unbewegtes Gesicht, und gehen darüber hinweg. Sie wollen sich ihrer Existenz nicht stellen, sie wollen die Abgründe nicht sehen. Es interessiert sie nicht, denn sie haben wichtigeres zu tun.

Dennoch entsteht etwas aus der Unermeßlichkeit der Welt und der eigenen Lebensmöglichkeiten, da bleibt immer ein Hauch, eine Ahnung, ein Vorgefühl, eine Vermutung über die Abgründe in der Welt – und in der eigenen Person. Und aus der Unermeßlichkeit der Möglichkeiten entsteht sehr oft eine latente, lauernde, dräuende Besorgnis, eine Befürchtung, ja gar die Angst, von den mit dieser Unermeßlichkeit der Welt und der eigenen Existenz verbundenen Fragen eingeholt zu werden und sie dann eines üblen Tages beantworten oder lösen zu müssen. Wahrlich: Kein schönes Gefühl.

Und was tun fast alle Menschen bis dahin, bis zu diesem schrecklichen Tag, an dem sie vor ‹die eine› Erkenntnis gestellt werden? Schauen wir uns um! Die Menschen versuchen heute, aus der existentiellen Bedrohlichkeit dieser Welt – und den deswegen immer wieder in ihnen aufkeimenden Befürchtungen – mit einem zeit- und kraftraubenden täglichen Tun im Alltag herauskommen: Der Kontrolle des ‹Konkreten›. Denn wenn schon nicht die ganze Welt und das ganze eigene Leben, dann soll zumindest das ‹Konkrete›, das ‹Wirkliche›, das ‹Greifbare›, das ‹Faktische› überschaubar, handhabbar, steuerbar, kontrollierbar, vorhersehbar und vor allem – vorhersagbar werden. Selbstredend ist die Kontrolle des Konkreten im Alltag eine Dauerbeschäftigung, eine Sisyphosarbeit, die von allem ‹Höheren› ablenkt – und ablenken soll. Ein Sisyphos des Konkreten? Das schauen wir uns an!

Sisyphos war der Sage nach der Sohn des Aiolos, des Königs von Korinth. Sisyphos konnte es mit jedem aufnehmen, er beherrschte, kontrollierte, manipulierte und überlistete in großer Verschlagenheit alle seine Mitmenschen, ja sogar – den Tod. Zur Strafe dafür, mußte Sisyphos – so geht die Sage – in der Unterwelt ein Felsstück stets von neuem einen Berg hinauf wälzen, von dem es im letzten Augenblick immer wieder hinabrollte. So symbolisiert heute der Name des Sisyphos zum einen eine endlose Wiederholung ewig gleicher konkreter Bemühungen, und zum anderen die Sinnlosigkeit und Absurdität eben dieser Bemühungen.

Was macht ein Sisyphos des Konkreten? Er verbringt den ganzen Tag damit, das ‹Konkrete› zu verwalten und zu kontrollieren. Er fokussiert auf kleine spezifische Subwelten und kleine ‹konkrete› Tätigkeiten, er verliert sich in den Fakten des Alltags, in den endlosen Ratschlägen, Tips, Rezepten und Ranglisten einer geschrumpften und damit so gerade noch überschaubar gemachten Kleinwelt. Schauen wir uns wenige Beispiele an:
  • Selbst heute läßt sich in Seminaren noch gelegentlich etwas beobachten, das in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war: Nähert sich der Diskurs mit Hilfe der klugen Lenkung eines weisen Lehrenden einer Aporie, einem existentiellen Problem, ja einer ‹Unaushaltbarkeit› menschlichen Seins, werfen ein oder zwei junge Leute, die in einem eher romantischen Kulturraum sozialisiert wurden, eine Erregung in den Diskursraum, in dem sie nicht nur meinen, da müsse doch jetzt etwas getan oder unternommen werden, sondern in dem sie gar in ganz rührender Weise betonen: «Da müssen ‹wir› doch was tun!» Natürlich ernten sie heute bei allen ‹coolen› Sich-Abfindern mit ihrem Leben nur ein Lächeln, ein Kopfschütteln des Nichtverstehens. Und der Lehrende wird sagen: «Laßt uns doch diese ‹Unaushaltbarkeit› noch eine Weile aushalten. Laßt uns sie nicht gleich verwedeln und aushaltbar machen durch irgendein schnelles Tun!»
  • In der Liebe, in engen Beziehungen, versucht ein Sisyphos des Konkreten, das Große, das Unbedingte, das ganz und gar Unverstehbare einer freiwilligen ‹Zuneigung› zu einem anderen Menschen und einer aus freien Stücken gewährten ‹Zueignung› des eigenen Konstruktionskosmos an den geliebten Anderen zu profanieren mit Hilfe kleinlicher bedingter Kalkulationen. Diese Menschen verlieren sich in einer winzigen Beziehungswelt, sie gehen auf in kleinsten Tit-for-Tat-Aktionen des Konkreten. Das Miteinander in einer Liebesbeziehung wird also kontrolliert und funktionalisiert, um etwas Großes, von dem man allenfalls etwas ahnt, in kleine Förmchen zu gießen. Und dennoch soll die durch eine Art Tagesgeschäft des Konkreten leicht einschätzbar und somit uninteressant gewordene Beziehung für den denkbaren Rest der Welt, den Kosmos, das Weltensehnen entschädigen. Eine einzige Person, von deren Größe man nichts erfahren will und deren Abgründe für immer hinter einem strengen Regelwerk des Konkreten verborgen bleiben, soll die ganze Welt ersetzen? Das kann nicht gut gehen. Also scheitert die konkretisierte und in Alltagsleitseilen hängende Beziehung. Doch dadurch wird die Welt wieder ‹unermeßlich›, bedrohlich und unübersehbar. Deswegen versucht ein Sisyphos des Konkreten möglichst schnell wieder eine neue Beziehung zu den selben Bedingungen, also mit den selben konkreten Beziehungsspielchen, zu gründen. Dann endlich rollt er wieder, voll beglückt, sein kleines, aber schwer erscheinendes Beziehungsgeröll seine Beziehungsschräge hinauf. Und wieder von vorne. Noch einmal. Mehr desselben. Sisyphos.
  • Sehr traurig zu beobachten sind Menschen, die meinen, sich mit ihrer ‹Familie› treffen zu müssen. Die lähmende Anspannung, die Bauchschmerzen, die Verzweiflung über das Zusammensein angesichts der sozial definierten überhöhten Erwartung, daß das Familientreffen oder der Besuch der Eltern an sich etwas sehr schönes seien, führt zu einer verstärkten Kontrolle des Konkreten, ja zu einer familialen Überregulation: «Warum tust Du das? Warum machst Du das? So setz Dich doch dahin! Ich hole Dir einen anderen Stuhl! Möchtest Du was zu essen? Ist dir auch warm genug?» Und so weiter. Alle beteiligen sich. Und endlos werden kleine Steine gefunden, die bemüht die Familienschräge hinaufgerollt werden können. Und dies nur, um einem zu entgehen, dem kosmischen familialen ‹Schweigen› – und damit dem Eingeständnis, daß nicht nur die ‹Familie› nicht so ist, wie sie sein könnte.
  • Noch ein letztes trauriges Beispiel: In der Postmoderne hofft ein im Konkreten verhafteter Sisyphos der Unermeßlichkeit des Daseins durch die Reduktion seiner ganzen Existenz auf Kontrolle, Zählung und Messung des Konkreten entgehen zu können. Er verwechselt Geschäfts- mit Lebenstüchtigkeit und ahnt nicht, daß Quantitäten nur gleichgültig gewordene Qualitäten sind (Adorno). Ein Sisyphos des Konkreten unterwirft das ‹Unermeßliche› dieser Welt seinem eigenen Ermessen und macht dadurch das a priori Unverständliche, ja das ‹Untragbare› dieser Welt und seiner Existenz, für sich nicht nur verständlich, sondern sogar selbstverständlich. Wie das? Über den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Dinge in unserer postmodernen Kultur: Die Zahl, das Geld, den Preis. Ein Sisyphos des Konkreten mogelt sich heute durch sein Leben, in dem er reduzierte Preise vergleicht: Er ‹weiß› zum Beispiel, daß ein Call-by-call-Anruf im Ortsnetz besonders ‹günstig› ist zwischen 11 Uhr und 13 Uhr, aber nur bei dem und dem Anbieter. Das kann sich aber morgen schon ändern. Da muß man also dran bleiben. Noch mal nachsehen. Mehr desselben. Sisyphos.

  • Ein Sisyphos des Konkreten zeigt uns in seiner täglichen Fron, daß er nichts an der Komplexität, Ewigkeit und Weite dieser Welt verändern, noch daß er diese Welt kontrollieren kann. Die ‹Unermeßlichkeit› dieser Welt läßt sich nicht in eine ‹Ermeßlichkeit› gießen. Und so kommt ein Sisyphos des Konkreten, und das sind fast alle Menschen, niemals aus der konkret-operationalen Phase seiner Ich-Werdung. Denn die durch seine schiere Existenz aufgeworfenen ‹unlösbaren› Fragen des Lebens macht ein Sisyphos des Konkreten zu vermeintlich ‹lösbaren›, indem er täglich und im Schweiße seines Angesichtes lächerlich kleine und lächerlich konkrete Steine seine Lebensschräge hinaufrollt, ohne auch nur einmal auf den Gedanken zu kommen, wie absurd das ist. Denn die Sinnsuche in der Kontrolle des Konkreten führt zu einer ja nicht einmal Minuten anhaltenden und deswegen immer wieder neu herzustellenden Stabilisierung des Personensystems durch eben diese Kontrolle des Konkreten. Schade.

    Ein Sisyphos des Konkreten spielt Sisyphos, um der ‹Unermeßlichkeit› dieser Welt zu entgehen. Er bleibt im Konkreten der Fakten stehen, er schiebt die Brocken seiner Wirklichkeit täglich seine Wirklichkeitsschräge hinauf, in der einen Hoffnung, mit der grundsätzlichen Sinn- und Aussichtslosigkeit seines so kontrollierten Daseins nicht konfrontiert zu werden. Ja, ein Sisyphos des Konkreten glaubt gar, durch die tägliche Kontrolle aller relevanten Fakten bliebe er von den unendlich wiederkehrenden Qualen des Sisyphos verschont. Das Gegenteil ist der Fall. Da beginnen sie erst.



    Kommentare:


    4. Juni 2003

    Lieber Helmut,
    Danke für die wunderbare Analogie im Sisyphos des Konkreten! Wie ein Seismograph spürst du die Handlungen der Hampelmenschen auf – es gelingt dir wieder einmal, präzise zu beschreiben, wie mensch der Postmoderne sein Dasein fristet und leider seltenst den Blick von seiner Wirklichkeitsschräge wendet und jenseits des Konkreten Sinnfindungen erfindet. Mir sind ad hoc zwei Beispiele aus meinem Umfeld eingefallen: die eigene Schönheitspflege und das Auto. Es gibt tatsächlich Menschen, die einen ganzen Tag (!) damit verbringen, ihre Haare zu waschen, zu föhnen und Pflegemittelchen strategisch auf alle Stellen des Körperszu verteilen. Tatsächlich! Eine Bekannte geht Samstags nie aus Ihrem Haus, da sie damit vollends beschäftigt ist. Und zudem müssen entsprechende Zeitschriften gekauft werden, die Freundin interviewt werden, wie Sie ihre Furunkel beseitigt usw. – das hört nicht auf.
    Eine schöne Wirklichkeitsschräge stellt auch die Welt des Automobils dar: Es wird sehr viel Lebenszeit damit verbracht, das eigene Auto zu tanken, zu waschen, zum TÜV zu befördern, Staus zu verursachen, Parkplätze in vollen Städten zu finden etc. Und am Abend in der Sauna wird sich ausschließlich lauthals darüber unterhalten, welches neue Gefährt man sich wann für welchen Preis zulegen will. Der Sisyphos des Konkreten kreist viel um dieses Thema und bewegt schwere Brocken durch seine und unsere Welt. Warum unterhält man sich eigentlich nie über Schadstoffemissionen und darüber, dass Klimaanlagen in den Autos die größte Gefahr zur Erweiterung des Ozonlochs sind? Aber – ich schweife ab.
    Interessant erscheint mir, dass die dauernde Beschäftigung mit dem konkret Weltlichen Ängste anstatt der ersehnten Freiheit durch Kontrolle hervorruft. Um in meinen Beispielen zu bleiben: Man hat Angst, seine Schönheit zu verlieren, Angstschweiß tritt aus, wenn Kratzer im Autolack gesichtet werden. Je mehr der Sisyphos des Konkreten auf einzelne Wirklichkeitsschrägen fixiert ist, desto mehr hält er daran fest. Im Buddhismus finden sich wunderbare Alternativ-Vorstellungen vom Leben: Menschen haben die Möglichkeit, diese weltlichen, konkreten Dinge loszulassen und nicht daran haften zu bleiben; sein Herz eben nicht an Dinge zu hängen. Wie Du, Helmut, am Anfang schreibst: «Wir leben in einer Welt, die unüberschaubar groß, unerkennbar komplex […] ist», so ist die erste der acht Einsichten großer Menschen (den Buddhas und Bodhisattvas) im Sutra: Unbeständig sind alle Dinge in der Welt. Unsicher und zerbrechlich ist die ganze Erde. Der Mensch wandelt sich unablässig. Die zweite Einsicht: Je mehr man begehrt, um so mehr schafft man Leiden. Genügsamkeit und Loslassen jedoch machen unseren Geist und unseren Körper frei von allen Verstrickungen. Die dritte: Wenn der Geist unersättlich ist und immer mehr begehrt, vermehrt man ständig das Unheilsame. Ein großer Mensch bewahrt Genügsamkeit im Geiste, ist mit Besitzlosigkeit zufrieden. Allein Weisheit strebt er an. Nun, auch die weiteren Einsichten zeigen alternative Handlungsmöglichkeiten zum Sisyphos des Konkreten, aber das sprengt den Rahmen des Leserbriefes.
    Von Herzen,
    deine Lisa Blausonne



    Erstellt: 29. Mai 2003 – letzte Überarbeitung: 4. Juni 2003
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