BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«‹Alles wird gut!›»
von Lisa Blausonne & Albertine Devilder
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Einführung

Lieber Leser und liebe Leserin, ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß eine bestimmte Sprachfigur - siehe den Titel dieses kleinen Traktates - in der letzten Zeit gemächlich zunehmend in private und öffentliche Diskurse hineingeworfen wird? Und haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was denn dieses ‹Alles› in diesem Dreiwortsatz bedeuten könnte? Will diese Sprachfigur uns wirklich weismachen, daß ‹alles›, wirklich ‹alles›, ‹gut› wird? Und was soll das ‹gut› bedeuten? Was heißt ‹gut›? Und für wen soll ‹alles› ‹gut› werden? Für alle Menschen, für wenige Menschen, für die immer noch naturhafte Umgebung, in der wir uns bewegen müssen? Noch einmal: Warum gleich ‹alles›? Könnte man da nicht differenzieren? Und wie soll der anvisierte Schlußpunkt, das große Finale, beschrieben werden: Wann ist ‹alles gut›?

Sie sehen, lieber Leser und liebe Leserin, ausgepichte Kulturphysiognomikerinnen können nicht anders, als über so im Alltag daher gesagte Sprachfiguren zu stolpern und daraus gleich eine prinzipielle Untersuchung zu machen. Der Aufforderungscharakter der oben im Titel genannten Zauber- und Allerweltsformel ist so hoch, dieses Sprachgeschöpf, diese so offensichtlich auf Kalmierung bedachte Wortverbindung, ist so allerliebst dumm, daß wir zu einem kleinen Kommentar, zu einem Traité, einfach hingerissen werden.


Wirre Zeiten

Fangen wir ‹lege artis› an, also soziologisch und streng wissenschaftlich, und halten zu Ihrer und unserer Orientierung auf die Schnelle fest, in welchem historischen und kulturellen Kontext diese uns ins Ohr gefallene Sprachfigur weitere Ohren der Welt erobert. Wenn wir uns die derzeitige Situation in Alltag, Kultur und Wirtschaft anschauen, dann müssen wir leider sagen, daß die Lage unseres Gemeinwesens alles andere als erfreulich ist: Wirrnisse allerorten, unlösbare soziale und wirtschaftliche Probleme, eine Fülle von Unübersichtlichkeiten. Betrachten wir nur einige wenige kleine ‹Problemfelder›:
  • Arbeitslosigkeit: Ganz grundsätzlich nähert sich der Kapitalismus seinem finalen Stadium, er wird zur Apokalypse für die vielen Menschen bei uns, die vom Kapitalismus nicht mehr gebraucht werden, für die kein Platz mehr ist. Der Kapitalismus - bei uns nennt man ihn ‹Soziale Marktwirtschaft› - spuckt in unserem Land Millionen Arbeitskräfte aus, um im Fernen Osten oder sonstwo neue Arbeitskräfte anzuwerben, die für weniger als ein Zehntel des hier noch üblichen Lohns arbeiten. Die ‹Soziale Marktwirtschaft› macht derzeit also Millionen Menschen arm, und einige wenige sehr reich. Das wird sich in den nächsten 20 Jahren auch nicht ändern. Wir möchten nicht besonders zynisch erscheinen, aber können Sie sich vorstellen, lieber Leser und liebe Leserin, daß die politischen Parteien in den 1960er Jahren mit dem Slogan «Wohlstand für alle» für sich geworben haben? Das würde heute keine Partei mehr wagen. Trotzdem: ‹Alles wird gut!›
  • Verschuldung: Die Verschuldungen der öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern, Gemeinden und Städten haben ein unvorstellbares Maß angenommen und es ist ganz und gar unvorstellbar, wie diese aufgehäuften Schulden je bezahlt werden sollen. Eigentlich können auch Renten und Pensionen - wie einst versprochen - nicht mehr gezahlt werden. Sie werden also in den nächsten Jahren gekürzt werden müssen. Trotzdem: ‹Alles wird gut!›
  • Umwelt-Probleme werden zunehmen, auch wenn das aufgrund der finalen Schieflage des Kapitalismus fast niemanden mehr interessiert. Das Motto hier ist, daß jetzt keine Zeit mehr für ‹grüne› Traumtänzereien und Schwafeleien sei, denn jetzt sei die Lage ernst. Das bedeutet nun, daß wirklich beinahe jeder Insasse unserer heutigen Wirrsal- und Wirrnis-Pólis buchstäblich jede Umweltsünde begehen würde, nur um seinen Arbeitsplatz zu erhalten oder einen Arbeitsplatz zu ergattern. Was interessieren mich abtauende Gletscher, wenn ich keine Arbeit habe? Genau. Die ‹Grünen› haben ihre Zeit gehabt. Und genau deswegen wird jetzt ‹alles gut›!
  • Ökonomistisches Denken: Unsere derzeitige westliche Welt ist strikt ökonomistisch organisiert. Dies spiegelt sich nicht nur in den privaten Beziehungen zwischen den Bewohnern unserer Kultur wieder, nein, das Ökonomistische hat auch in fast allen Individuen den Kampf gegen Inhalte aller Art gewonnen. Und ökonomistisch denken, heißt, das Betriebswirtschaftliche (den Eigennutz) immer über das Volkswirtschaftliche (den Gemeinnutz) zu stellen. Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, schreibt zwar in seinem Hauptwerk «De l'esprit des lois» (Vom Geist der Gesetze) «Le bien particulier doit céder au bien public» (Das Wohl des Einzelnen muss dem öffentlichen Wohl weichen), aber, hey, Mann, das war 1748, ok? Wir schaffen das schon: ‹Alles wird gut!›
  • Unübersichtlichkeitsmanager: Den globalen und lokalen Unübersichtlichkeiten rücken gut bezahlte Unübersichtlichkeitsmanager auf den Leib, indem sie - gut ausgeleuchtet, gut gekleidet, gut geschminkt - im Rahmen eigens eingerichteter Werbe-Veranstaltungen den Insassen unserer Wirrsal- und Wirrnis-Pólis die immer gleichen simplen Sprüche an den Kopf werfen, um aufkeimende Zukunftsängste der Insassen sofort totzuschlagen: ‹Mehr Wachstum›, ‹Steuersenkung für Unternehmen›, ‹Schluß mit dem Kündigungsschutz›, ‹Lohnsenkung›, ‹Längere Arbeitszeiten›. Das führt nun nicht dazu, daß die Unübersichtlichkeitsmanager die schlimmsten Unübersichtlichkeiten in Übersichtlichkeiten verwandeln und damit die drängendsten Probleme unseres Gemeinwesens lösen würden. Nein, diese diesseitigen, säkularen, profanen Exerzitien in den angesagten Werbeveranstaltungen› haben nur den Sinn und den Effekt, daß die Unübersichtlichkeitsmanager - zu bestimmten Zeitpunkten und von immer weniger Insassen unserer Pólis - in Gremien und Parlamente aller Art gewählt werden, in denen sie dann Tag für Tag den ‹politischen Gegner› bekämpfen. Das ist alles? Ja, denn die Unübersichtlichkeitsmanager dienen nicht der Lösung der Probleme, sie sind ein Teil des Problems. Aber trotzdem: ‹Alles wird gut!› Anders wär' nämlich schlecht.


  • Alles wird gut?

    Ist es angesichts der uns belastenden Wirrnisse nicht erstaunlich, lieber Leser und liebe Leserin, mit welcher Häufigkeit ein ‹Alles wird gut› heute im privaten und öffentlichen Leben zu hören ist? Ist das nun eine Beschwörung, eine Art Autosuggestion, eine Selbsttherapie, ein Sich-selbst-Beruhigen, ein Sich-Versöhnen mit dieser wirren Welt, oder ist es eine Selbstverarschung? Angesichts dessen, daß unser Leben garantiert endlich ist und daß in unserem Leben garantiert vieles schief laufen wird, ist diese Sprachfigur erstaunlich. Und sie ist so unendlich weit von der Weisheit eines Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) entfernt, der in seinen ‹Essais› so ruhig, achtsam und friedfertig Begegnungen mit den verschiedensten ‹Schadensfällen› seines Lebens beschreibt.

    Da wir derzeit auf etwa 2000 Jahre Christentum zurückblicken können, liegt es nahe, die in diesem Traktätchen diskurrierte Sprachfigur auf ihre christlichen Wurzeln hin zu untersuchen. Das Versprechen des Paradieses - als Krönung eines müh- und armseligen Lebens - war ja über Jahrhunderte hinweg eines der wichtigsten Argumente, sich den Forderungen der verschiedenen Kirchen zu beugen und dem Klingelbeutel zu geben, was des Klingelbeutels ist. Es ist heute in Zeiten der völligen Säkularisierung kaum mehr vorstellbar, daß Menschen über Generationen hinweg das versprochene Paradies als das Eigentliche, und das Leben auf der Erde als das Uneigentliche angesehen und akzeptiert haben. Die Erlösung von allem Übel erfolgte einst im Tod, denn die Hoffnung auf eine bessere Welt im Diesseitigen gab es nicht. Das bessere Leben war nur außerweltlich vorstellbar in einem jenseitigen, göttlichen Traumreich, in dem alles gut wurde, und in dem alles gut war.


    Kognitive Knoten

    Was machen wir nun mit dieser Sprachfigur? Welche Möglichkeiten haben wir, mit den Wirrnissen dieser Welt umzugehen, ohne dem schmalen christlichen Pfad zu folgen und auf ein Paradies, eine bessere Welt im Jenseits zu warten und zu hoffen?

    Betrachten wir zunächst das, was wir nicht machen sollten: Wir sollten nicht mit kognitiven Tricks aller Art die Probleme wegwedeln oder wegreden, die uns bedrängen. Wir sollten nicht die vielen Unübersichtlichkeiten verdrängen oder ‹nicht wahr haben wollen›. Wir sollten uns nicht mit der albernen Illusion eines ‹Alles wird gut!› kalmieren. Denn dies ‹Alles wird gut› soll uns nur beruhigen, besänftigen und fraglos machen. Dies ‹Alles wird gut› wird ganz gezielt als eine Art Opium verbreitet, welches uns schlaff, passiv und fatalistisch machen soll.

    Früher sollten wir unser Schicksal in die Hand Gottes legen, heute betteln Unübersichtlichkeitsmanager darum, unsere Probleme für uns lösen zu dürfen. Sie sind heiß darauf, Herausforderungen anzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. Sie versprechen uns, daß wir bald unserer Sorgen ledig sind. Natürlich müssen wir - niemals die Unübersichtlichkeitsmanager - ein paar Opfer bringen, uns einschränken, den Gürtel enger schnallen, aber dann, ja dann, dann wird alles gut. Es ist nicht verwunderlich, daß die Manager des finalen Kapitalismus und christlich-fundamentalistische Überzeugungen zusammenfinden und zusammenwachsen wie in den USA. Denn das paßt zusammen. Der Markt ist längst zu etwas ganz Sakralem geworden, ja, der Markt ist heute ein Heiligtum. [1] Wir erinnern hier sehr gerne an das Arbeitspapier Nr. 14 der Bochumer Arbeitsgruppe mit dem Titel «Was von der Postmoderne übrig blieb - Zeitgemäße Betrachtungen». Im 6. Kapitel dieses Papiers beschreiben wir die «Kulturphysiognomik der Merkatokratie».

    Wir wissen alle, daß wir unserer Sorgen nicht ledig sind, wenn wir unsere Probleme von anderen lösen lassen. Wir müssen statt dessen das Wesen unserer Probleme betrachten, die Tiefenstrukturen herauslösen und die Zwischentexte lesen. Und wir sollten akzeptieren, daß sich vieles in unserem Leben verschlechtern und verschlimmern wird, daß unser Leben endlich ist und daß unser Ende aller Voraussicht nach weder schön noch gut wird. Und hier genau liegt unsere Chance, endlich ein Philosoph im montaigne'schen Sinne zu werden. Und die Unübersichtlichkeitsmanager keines Blickes mehr zu würdigen. Klar.

    Alles geht weiter, wie es weiter geht, und wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Der alte und gar nicht so dumme Sponti-Spruch ist hier genau richtig: «Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie.» Oder anders: Wir sollten uns keine Illusionen machen, und mit List und Tücke den endgültigen Aphorismus von Karl Kraus umschiffen: «‹Sich keine Illusionen mehr machen›: da beginnen sie erst.» [2] Zitiert nach: Die Fackel Nr. 251, vom 28.4.1908, Seite 40.

    Das postmoderne ‹Alles wird gut› sollten wir nicht als Mantra sehen, mit dem wir duselig im Kopf werden, sondern als Koan, als eine paradoxe Aussage, die uns wach macht.



    Erstellt: 14. April 2005 - letzte Überarbeitung: 14. April 2005
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