BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Über die Abscheulichkeit, eine Meinung zu haben»
von Albertine Devilder
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«Die Allgemeinheit einer Meinung ist,
im Ernst geredet, kein Beweis,
ja nicht einmal ein Wahrscheinlichkeitsgrund ihrer Richtigkeit.»
(Arthur Schopenhauer)

«Man kann wetten, daß jede öffentliche Meinung,
jede allgemeine Konvention eine Dummheit ist,
denn sie hat der großen Menge gefallen.»
(Nicolas Chamfort)

«Die Meinung ist die Königin der Welt,
weil die Dummheit die Königin der Schwachköpfe ist.»
(Nicolas Chamfort)

«Was ist ein Philosoph?
Ein Mensch, der dem Gesetz die Natur,
dem Brauch die Vernunft,
sein Gewissen der öffentlichen Meinung
und sein Urteil dem Irrtum gegenüberstellt.»
(Nicolas Chamfort)

Nach seiner Rückkehr aus Norwegen schrieb Artus in seiner Kolumne vom 22.8.2005, daß ich versprochen hätte, ein Traktätchen zu einem Zitat von Max Krell zu schreiben und zu verraten, wo wir dieses Zitat gefunden hätten. Hiermit löse ich dies Versprechen ein.

Ich war - wie immer - bei der diesjährigen Wanderung in Norwegen mit dabei, und so kann ich berichten, daß wir uns nach den Strapazen - ebenfalls wie immer - in dem über hundert Jahre alten Holzhotel in Mundal erholt haben. Mundal liegt direkt am Sognefjord, in der Gemeinde Fjærland. Es trifft sich für uns nun ganz wunderbar, daß Fjærland die ‹Norwegische Bücherstadt› ist. Bei vielleicht 200 Einwohnern mag ‹Stadt› etwas übertrieben klingen, aber mit den Büchern, das stimmt schon: Etwa zehn Antiquariate, zum Teil sehr ‹malerisch› in alten Fischerschuppen direkt am Fjord eingerichtet, laden zum Stöbern ein. Und natürlich gibt es dort auch eine ganze Reihe deutschsprachiger Bücher, die meisten davon in der ‹Touristen-Information›, die direkt gegenüber dem ehemaligen Fähranleger untergebracht ist.

Wie immer kauften wir etliche alte Bücher, trotz der Tatsache, daß wir diese dann im Rucksack mit nach Hause schleppen mußten. Mir fiel unter vielen anderen Büchern ein 1930 bei Ernst Rowohlt in Berlin erschienener Roman in die Hände: ‹Max Krell, Orangen in Ronco›. Ich las zuerst den Schluß, wie ich das immer mache, dann blätterte ich so hier und da im Buch herum, und war von der so konventionellen Liebesgeschichte zwischen einem mittelalten Mann und einer jungen ‹Borderline-Frau› nicht angetan, bis ich plötzlich die schon von Artus in seiner Kolumne erwähnte Stelle fand, auf Seite 32: «Aber was wolle das alles besagen nun, wo er spüre, wie er in die Ohnmacht der täglichen Meinungsäußerung abgerutscht sei?»

Ich war begeistert, nicht nur über die heute fast vergessene anmutige Handhabung des Konjunktivs. Abends nach dem Essen sprachen Artus, Henriette, Helmut und ich lange über diese Stelle, und uns gefiel ganz besonders der Ausdruck des ‹Abrutschens in die tägliche Meinungsäußerung› und die Verknüpfung von ‹Ohnmacht› mit dem ‹Eine Meinung haben und sie auch noch äußern›. Ja, wir waren sehr angeregt, und wir erinnerten uns an eine ganze Reihe von Traktaten in unserem Skepsis-Reservat, in denen wir dieser Spur eines Gedankens bereits gefolgt waren, ohne es je geschafft zu haben, ihn so treffend, so grandios auszudrücken.

Artus sagt in seiner bereits erwähnten Kolumne: «Es ist ‹wirklich› erstaunlich, wie zu bestimmten Punkten in den Zeitläuften unserer Gesellschaft den meisten Menschen eine bestimmte und so übereinstimmende Meinung aus dem Mund fällt, von der sie auch noch steif und fest behaupten, es sei ihre Meinung und - sie würde etwas bedeuten, sie habe eine Wichtigkeit, ja, sie sei gar ‹vernünftig›.» Und welche ‹übereinstimmende› Meinung ist das heute, jetzt? Nun, so genau läßt sich das nicht sagen, so genau kann sie keiner formulieren, nur die Absicht, die die Meinung ja eigentlich ausdrücken sollte, ist ganz und gar klar: Es geht um die Abwertung der Person des derzeitigen Bundeskanzlers.

Henriette Orheim hat in ihrem Traktätchen über ‹Newspeak - Badspeak› schon die wichtigsten Bestimmungsstücke dessen genannt, was ich im folgenden Schröder-Bashing nennen möchte: Es ist ein ‹Einprügeln› auf den derzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Schlechtsprech-Attacken aller Art. Sieben Jahre lang hat eine ‹christliche› Partei, die sich als von Gott gewollte Dauer- und Durchregierungspartei sieht, einen amtierenden Bundeskanzler beschimpft und ihn in ununterbrochenen Schmährede als ‹Trickser, Täuscher und Lügner› dargestellt. Nun, es geht um Macht, Geld und schöne Pensionen. Da ist alles erlaubt. Doch die Wirkung dieser Dauer-Schmährede ist erst jetzt - im August 2005 - in ihrer Gesamtheit zu beobachten. Die Bevölkerung, das ‹Wahlvolk›, ist ‹geimpft›, es ist sich einig, bis auf einige wenige, die als ‹Frustrierte› beschimpft werden und denen man am liebsten die Wahlberechtigung entziehen würde. Die Mehrheit unserer ‹Bevölkerung› hört auf einen Teil ihres ‹bevölkerten Selbstes› (Ken Gergen) und spricht Fragmente der ‹christlichen› Schmähreden nach, wie aus dem Schlaf.

In diesen wirren Zeiten, vor einer Bundestagswahl, wird die Abscheulichkeit, sich vom eigenen Denken verabschiedet zu haben und in die ‹Ohnmacht einer Meinungsäußerung abgerutscht zu sein›, so deutlich wie nie. Schauen wir uns einen Kommentar in der großen Regionalzeitung WAZ vom 24. August an, geschrieben von Dr. Hendrik Groth, Stellvertreter des neuen Chefredakteurs Ulrich Reitz, der - das ist als Empfehlung zu verstehen - schon mal bei den Blättern ‹Focus› und ‹Die Welt› war. Ich zitiere (fast vollständig):

«Schröder auf Liste für Friedensnobelpreis
Hübsch eingefädelt
Irgendwie muss es für den - nennen wir ihn einfach den unbekannten Strategen - ärgerlich sein, daß angeblich 165 weitere Personen und 33 Organisationen auf der Anwärterliste für den Friedensnobelpreis stehen. Denn schließlich ist der Coup prima eingefädelt.
Bundeskanzler Gerhard Schröder nominiert für den Friedensnobelpreis, was für eine Schlagzeile knapp vier Wochen vor der wahrscheinlichen Bundestagswahl. Eine gefühlsbetonte Reminiszens an die Sozialdemokratie, die nach Hartz, Linkspartei und vor dem drohenden Machtverlust nach Orientierung und Motivation giert. Anfang der 70er Jahre Willy Brandt, jetzt Gerhard Schröder.
Das wäre etwas für Herz, Seele und Gehirn. Also wirklich gut nachgelegt. Kürzlich hat es ja nicht so recht geklappt, den Atomstreit zwischen Iran, Europa und den USA zu instrumentalisieren.
Zynisch könnte man hinterher rufen, sollte es diesmal nicht mit dem Nobelpreis klappen [...], holt einfach wieder die eingemotteten Gummistiefel raus! Die haben schon vor drei Jahren in schwieriger Lage in den ostdeutschen Überschwemmungsgebieten und so am Wahlabend geholfen. [...]»

In diesem ‹Kommentar› klinkt sich ein Journalist in die laufende ‹christliche› Schmährede über einen Bundeskanzler ein, ohne selbst etwas beizutragen, ja ohne auch nur einen einzigen Gedanken zu haben. Und der Stil! Oh je. Karl Hauer sag dazu: «Der Journalist ist ein ‹Ignorant›, ein ‹typischer Oberflächenmensch›: Da er immer eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer übertrieben.» So ist es, und so sind heute Stil und Inhalt von Regionalzeitungen und Schmierlappenzeitungen nicht mehr unterscheidbar.

Die heutigen Journalisten gehen offensichtlich überwiegend den bequemsten Weg, sie klinken sich in ‹existierende› Meinungen ein und schreiben den Leuten nach dem Mund. Journalist auf diesem Niveau kann heute jeder werden! Karl Kraus sagt: «Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können - das macht den Journalisten.» Jene, welche also bloß meinen, und nicht denken, haben es zu allen Zeiten leicht. Und warum sollte ein Journalist es sich nicht leicht machen? Für den Tag schreiben, die Leute da abholen, wo sie mit ihrer Meinung ohnehin schon stehen, um sie dann eben nicht weiter zu bewegen, zu befördern oder anzuregen, sie nicht auf Widersprüche zu verweisen oder behutsam ins eigene Nachdenken zu lenken, nein, für den Tag schreiben, um die Menschen in der Dummheit der momentan angesagten Meinung stehen zu lassen.

Daß die Ohnmächtigen allein gelassen würden, kann man nicht sagen, denn der Journalist hat die Meinungs-Ohnmächtigen mit ‹seiner› Meinungsäußerung ja umarmt, hat ihnen ‹schwarz auf weiß› gezeigt, daß sie - und ihre Meinung - eine Gewichtigkeit haben. Wie sagt es Arthur Schopenhauer: «Kurzum Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: was bleibt da anders übrig als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen?» Und: «Es ist sehr seltsam daß die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen (den Menschen) hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urteil und bloß kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbsterkenntnis ihnen abgeht.»

Natürlich hat das Konsequenzen für die Pólis, für unser Gemeinwesen, denn «die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird, ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die illiberalste aller Institutionen» (Karl Hauer). Ja, wir könnten sagen, daß der Slogan ‹Bild Dir Deine Meinung› die Menschen in diesem Nachplappern vorfabrizierter Meinungen bestärkt, in die Ohnmacht der allfälligen Meinungsäußerungen treibt und sie damit vom Denken, vom Nachdenken, von der Konstruktion eigener Gedanken wegführt.

Kein Gedanke daran, daß jede Meinung, jede Ansicht notwendigerweise parteiisch, verstümmelt und unzulänglich ist, wie es Emile Michel Cioran einmal gesagt hat. In der aufregenden Welt der Meinungen gibt es keinen Zweifel, keine Skepsis. Henrik Ibsen sagt: «Haben Sie schon je einen Gedanken zu Ende gedacht, ohne auf einen Widerspruch zu stoßen?» So ist es, also bleibt man lieber auf der sicheren, auf der folgenlosen Seite - bei seinen Meinungen! Denn zum einen ist «nichts ist so gering, daß man nicht darüber reden könnte» (Michel de Montaigne); und zum anderen leben wir in einer Meinungskultur, in der von den Menschen geradezu verlangt wird, eine Meinung zu allem und jenem zu haben: ‹Bild Dir Deine Meinung›. Nur nebenbei: Keiner der Meinungsohnmächtigen kommt auf den Gedanken, daß die aktuell von ihm aufgesagten Meinungen von den ‹Herren des Wörterbuches› konstruiert sein könnten.

Von der ‹Ohnmacht der täglichen Meinungsäußerungen› verwöhnt, kommt man auf keinen Gedanken mehr. Gedanken machen keine Freude, denn sie sind nie glatt und rund. Gedanken bereiten einem statt dessen Mühe, ja, einen Gedanken zu erarbeiten und zu behalten kostet viel Kraft, denn «der Gedanke ist ein Kind der Liebe. Die Meinung ist in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt.» Den Hintersinn dieses Aphorismus von Karl Kraus versteht heute vermutlich kaum einer mehr, da die Empfänglichkeit für die Feinheiten und Zwischentöne der Sprache längst verloren gegangen ist. Übertreibungen, Superlative, Grobheiten verstopfen die Ohren: ‹Hübsch eingefädelt›, das, mit den Meinungen.

Zwei Aphorismen eines mir sehr nahe stehenden Philosophen sollen dieses Traktätchen beschließen und deutlich machen, wie überaus abscheulich es ist, eine Meinung zu haben: «Dumme Menschen haben zu allem und jedem eine Meinung; kluge zu wenigem mehrere.» Und: «Meinungen, Überzeugungen, Standpunkte, Prinzipien: Alles Feinde der Wahrheit; nur Gedanken können zur Wahrheit beitragen.»



Erstellt: 25. August 2005 - letzte Überarbeitung: 25. August 2005
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