BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Preis. Wert. Preiswert.»
von Helmut Hansen
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«Geld verdirbt nicht den Charakter,
Geld zeigt ihn.»
(Gisela Ostrop)

Einführung

Ist über die ‹Geiz ist geil!› Epoche nicht alles gesagt? Hat die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› in ihrem weitsichtigen Arbeitspapier Nr. 14 nicht ausführlich über die derzeit grassierende besinnungslose Tiefpreiskultur räsoniert und gezeigt, wie der Dämon ‹Geld› das Menschsein für die Ohnmächtigen im finalen Kapitalismus reduziert auf die Wahl zwischen ‹Tiefpreisen› und ‹Sonderangeboten›, und für die Mächtigen auf die Wahl zwischen ‹Abbau› der Beschäftigten (und Verlagerung der Produktion in ‹Billiglohnländer›) und Auspressung der noch hier Verbliebenen? Doch. Dennoch möchte ich wieder einmal auf dieses so unerfreuliche Thema zurückkommen, denn es ist fast nicht mehr möglich, im Alltag von der Tiefpreiskultur nicht belästigt zu werden.

Im sechsten Kapitel des oben erwähnten Arbeitspapiers Nr. 14 - es trägt den Titel ‹Zur Kulturphysiognomik der Merkatokratie› - skizziert die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› den beinahe vollendeten ‹dreifachen Sieg der Arbeiterklasse›: In den visuellen Medien wie TV und Theater (!) hat sich eine ‹Proletisierung› der Ästhetik etabliert und durchgesetzt, in den Räumen des Marktes eine Tiefpreiskultur, und in den privaten und öffentlichen Diskursen und Debatten eine Pose, nein, eine Kultur der ‹Erregung›. Schauen wir auf die so ermüdende Tiefpreiskultur:
  • «Der zweite Bereich des Überbaus, in dem der Prolet ganz offensichtlich gesiegt hat, ist die Verwechslung von Inhalt und Qualität von Gütern mit deren Preis. Was drin ist, ist egal. Hauptsache, es ist billig. (...) Die Güte von Produkten interessiert ihn nicht.» (Arbeitspapier Nr. 14, Seite 42)
  • «Der Prolet hat gesiegt, aber man hat ihm nichts übrig gelassen, außer niedrigen Preisen. Das Unterscheidungsvermögen für Inhalte wurde ihm abgetrieben. Damit bleibt ihm die Undifferenziertheit der Welt erhalten. Und der Prolet fühlt sich gut dabei. Das war sein Wunsch. Bei jedem Kauf eines Tiefpreisgegenstandes fühlt der Prolet sein ‹Ich›, und mit jedem Tiefpreiskauf wächst dieses ‹Ich›. Denn er sonnt sich in der wärmenden Aura, nicht zu viel bezahlt zu haben und wachsam und clever gewesen zu sein.» (Arbeitspapier Nr. 14, Seite 43)


  • Arena

    Diskurse über Preise allerorten. Es ist kaum eine Situation in den üblichen kommunalen Räumen denkbar, in denen man nicht unfreiwillig in Preis-Diskurse verwickelt wird. Manchmal habe ich den Eindruck, als würden wir in einer großen überdachten Arena sitzen und gezwungen, über Lautsprecher lärmende Preis-Diskurse anhören zu müssen. Einige Beispiele, aus der Arena:
  • Ich erinnere mich an eine Hochzeit, an der ich aus familialen Gründen teilnehmen mußte. Während der abendlichen Feierlichkeiten in einem bürgerlichen Restaurant wurde während des Essens ein großer Teil der Unterhaltung dadurch bestritten, daß irgendein jugendlicher Sohn in jeweils etwa fünfzehn Minuten währenden Abständen aus einem Nebenzimmer zur Hochzeitstafel kam und unter großer Anteilnahme, Ermutigung, Anerkennung und Applaus über den aktuellen Stand irgendwelcher Auktionen bei ‹Ebay› berichtete. Was er genau kaufte und verkaufte wurde mir nicht deutlich, allgemeine Zustimmung und gelöste Erheiterung fand aber sein mantra-ähnlich wiederholte Beteuerung, daß die erzielten oder zu bezahlenden ‹Preise› nichts mit dem ‹Wert› der Gegenstände zu tun hätten. Die Teilnehmer an diesen Hochzeitsfeierlichkeiten waren diesem An- und Verkäufer überaus wohl gesonnen, niemand - außer mir - empfand diese wiederholten An- und Verkaufsberichte der Situation unangemessen, niemand - außer mir - hielt dieses Verhalten während eines Hochzeits-Diners für ‹unpassend›. Ja, die übrigen Teilnehmer fanden in den Gesprächen während der Zeiten, in denen der junge Mann außerhalb des Raumes seine virtuellen Geschäfte tätigte, in eine beschwingte Übereinstimmung hinein, ihn mit einer Fülle ‹positiver› Eigenschaften zu beladen, die hier wiederzugeben ich mir allerdings erspare.
  • Am letzten Freitag war ich - wie immer - auf dem hiesigen kleinen Biomarkt. Neben einem Stand für Obst und Gemüse gibt es dort auch einen Verkaufswagen für Käse und Biofleisch. Als ich gerade verschiedene Bio-Käse aussuchte trat ein Mann neben mich, der, ohne ‹an der Reihe zu sein› und somit meine Kaufhandlung unterbrechend, fragte: «Haben Sie auch Schinken?» Antwort des Verkäufers: «Ja, das hier ist Bio-Schinken, und dies ist ein anderer.» Mann: «Bio muß ja nicht sein, welcher ist denn der billigste?» Ich sah mir den Mann genauer an: Etwa 50 Jahre, sehr gut gekleidet, mindestens mittlere Mittelschicht, vom Typ her eher ein ‹Vorgesetzter›, in den Intonationskonturen sehr herablassend.
  • Mindestens einmal pro Woche klingelt mein Telefon und eine fröhliche Stimme fragt mich, ob ich nicht beim Telefonieren (oder anderem) ‹sparen› wolle. Da diese Anrufenden in ihren jeweiligen Call-Centern offensichtlich gelernt haben, daß buchstäblich jeder ‹Bürgen› am liebsten eins tut, nämlich ‹sparen›, sind sie auf meine mittlerweile schon routiniert daher kommende Antwort nicht vorbereitet: «Nein, ich möchte nicht sparen. Ich möchte Geld ausgeben.» Die wenigen Sekunden Sprechpause, das Stutzen und das dann regelmäßig auftretende Gelächter mag ich sehr. Auf jeden Fall ist die Heimsuchung damit beendet. Worüber soll man schon mit Leuten reden, die nicht ‹sparen› wollen?


  • Preis. Wert. Preiswert.

    Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie die herrschende Tiefpreiskultur mit ihren angeblichen Wahlmöglichkeiten zwischen ‹billigen› und ‹billigen› Produkten die Psyche des Endverbrauchers stabilisiert. In der großen Unübersichtlichkeit dieser Welt glaubt der einzelne Systeminsasse mit seiner ‹Entscheidung› für das jeweils ‹billigste› Angebot eine Schneise in die Unübersichtlichkeit seines ‹persönlichen› Kosmos geschlagen und damit seine ‹persönliche› Wichtigkeit bestätigt zu haben. Er kommt nicht auf den Gedanken, «daß man seine Person und seine Würde auf die Tiefpreissuche reduziert hat.» (Arbeitspapier Nr. 14, Seite 43)

    Ja, ‹normale› Leute kennen den ‹Preis› von allem und jedem, aber nicht deren ‹Wert›. Ich habe in diesem mich so ermüdenden Kontext zwei verschiedene Apologien beobachtet:
  • Die einen lesen das Nachrichtenmagazin ohne Nachrichten - beziehen sich so auf ‹Fakten, Fakten, Fakten› - und behaupten rundheraus, es gebe ‹keine Unterschiede› zwischen den Waren. Sie rechtfertigen ihr Verhalten also damit, daß sie ganz grundsätzlich bezweifeln, daß etwa Bio-Produkte ‹besser› seien als ‹normale›. Und da es ihrer Ansicht nach keine Qualitätsunterschiede gibt, kaufen sie immer das ‹Billigste›. Einwände, daß ‹normales› Gemüse oder Obst aus Spanien etwa voller Pestizide (Ortho-Phenylphenol, Imazalil) und Fungizide (Thiabendazole) sei und darüber hinaus noch bestrahlt werde, wischen sie mit einer sehr erstaunlichen Handbewegung weg. Gemüse ist für sie Gemüse, Fleisch Fleisch, und Rotwein Rotwein.
  • Die anderen lassen sich auf eine Diskussion möglicher Unterschiede zwischen verschiedenen Waren derselben Gattung erst gar nicht ein, sondern betonen, daß ihnen mögliche Unterschiede zwischen den Waren gleichgültig seien. Damit wählen sie einen Weg der Rechtfertigung und Verteidigung, der mich immer wieder sprachlos macht. Sie sagen dann etwa: «Wir achten nicht auf das, was wir essen und trinken.» Damit wollen sie deutlich machen, daß es ihnen egal ist, was sie kaufen, essen oder trinken.

  • Ist das nicht erstaunlich, lieber Leser und liebe Leserin, daß für sehr viele Systeminsassen heute nur noch Unterschiede im ‹Preis› einen Unterschied machen und Unterschiede im ‹Wert› unbeachtet bleiben? Ja, da ist etwas verloren gegangen: Das Empfinden einer Ungleichheit, Verschiedenartigkeit, einer Divergenz von Waren auf der einen Seite und das Erspüren von Nuancen, Feinheiten und Abstufungen von Qualitäten auf der anderen Seite. Angelehnt an den berühmten alten Satz der Moderne ‹Die Form folgt der Funktion› können wir in der Postmoderne sagen ‹Der Wert folgt dem Preis›. Leider sieht fast niemand, wie sinnlos dieser Satz ist. Warum sollte eine Ware einen ‹Wert› haben, nur weil sie billig war? Wieder einmal gilt, daß Quantitäten nichts anderes sind als gleichgültig gewordene Qualitäten.

    Und damit komme ich endlich zu dem Wort, welches mich schon einige Wochen bedrängt: ‹Preiswert›. Etwas ist ‹preiswert›, also seinen Preis wert, wenn ‹Preis› und ‹Wert› eines Produktes in einer angemessenen Relation liegen. In der Postmoderne ist aus dem Wort ‹preiswert› zunächst ein ‹preisgünstig› geworden. Und ‹preisgünstig› heißt, daß es da eine Ware gibt, deren Preis angesichts des Wertes, den die Ware aufweist, als günstig zu bezeichnen ist. Im finalen Kapitalismus nun sind die Worte ‹preiswert› und ‹preisgünstig› in einem ‹billig› zusammen gefallen.


    Schluß

    Nur noch wenigen - und dann meist älteren - Menschen ist die heute angesagte und ausgelebte Fixierung auf Tiefpreise und die Nichtbeachtung des ‹Wertes› von Waren, ist dieser Daueraufenthalt in der Tiefpreis-Arena peinlich. Diese Wenigen merken gelegentlich, daß da in ihrer Rede über die Welt der Preise etwas nicht stimmt und neigen mitunter zu sehr schönen ‹Verdrängungen›, wie sie Albertine Devilder, Henriette Orheim und Lisa Blausonne in ihrem Essay ‹Die Lehre vom Gegenteil› beschrieben haben:
  • «In einem geselligen Diskurs, in dem es um die Kritik an einer postmodernen ‹Geiz ist geil›-Mentalität geht, sagt eine mittelalte, wohlhabende Dame, von der alle Beteiligten wissen, daß sie nur bei Billig-Discountern einkauft und sich strikt bemüht, immer das billigste Angebot zu nutzen, plötzlich: «Ich habe noch nie auf den Preis geachtet!»

  • Ach ja, aber das ist eine andere Geschichte.

    Lieber Leser, liebe Leserin, ich danke Ihnen für Ihre Geduld, mit der Sie der Aufzeichnung der mich in den letzten Tagen wieder einmal bedrängenden Spielregeln unserer final-kapitalistischen Kultur gefolgt sind. Ich habe bereits zweimal in diesem Traktätchen das Wort erwähnt, welches am besten meine Seelengestimmtheit angesichts von Diskursen über Preise beschreibt. Ich möchte es noch einmal benutzen, in der Hoffnung, daß es mich für viele Wochen vom Nachdenken über die Dominanz der ‹Preise› befreit. Ach, es ist so ‹ermüdend›, Gespräche über ‹Preise› und ‹Schnäppchen› anhören und die damit verbundenen Ich-Blähungen erleben zu müssen. Wer rettet mich?



    Erstellt: 1. Februar 2006 - letzte Überarbeitung: 1. Februar 2006
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