BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die ‹Eingliederungsvereinbarung› oder: ‹Zurück in's Glied!›»
von Henriette Orheim
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«Immer strebe zum Ganzen,
und kannst du selber kein Ganzes werden,
als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!»
(Friedrich Schiller, 1797)

Einführung

Als radikal-skeptische Nominalistinnen und Freundinnen der Sprachkritik sind wir in der Redaktion – aus gegebenem Anlaß, denn eine Autorin des ‹Skepsis-Reservates› ist zur ‹Arbeitssuchenden› erklärt worden – auf ein faszinierendes Wort gestoßen, dem wir uns im folgenden zuwenden: ‹Eingliederungsvereinbarung›. Was ist das? Um was geht es?

Nun, das ist schnell erklärt. Eine ‹Eingliederungsvereinbarung› ist eine Art ‹Vertrag› zwischen jemandem, der eine Arbeit – und in der Zwischenzeit insbesondere eine finanzielle Unterstützung – sucht, und einer Institution, die Arbeitsstellen vermittelt, mit dem Ziel, den ‹Arbeitssuchenden› wieder in ‹Arbeit, Beruf und Gesellschaft› einzugliedern. Der Arbeitssuchende verpflichtet sich in diesem ‹Vertrag›, eine bestimmte Anzahl von ‹Bewerbungen› pro Monat zu schreiben etc. etc. etc. Kommt der ‹Arbeitssuchende› seinen Verpflichtungen nicht nach, kann das sogenannte ‹Arbeitslosengeld II›, auch genannt ‹Hartz IV›, gekürzt oder gar einbehalten werden. Dies zeigt, daß die beiden diesen ‹Vertrag› abschließenden Parteien sich nicht gleichberechtigt auf einer Ebene bewegen. Denn die eine den ‹Vertrag› abschließende Partei gewährt, die andere bittet.

Ähnlich wie bei ‹Arbeitssuchenden› wird auch bei sogenannten ‹Schwerbehinderten› in einem sogenannten ‹Schwerbehindertengesetz› festgehalten, wie die ‹Eingliederung› Schwerbehinderter ‹in Arbeit, Beruf u. Gesellschaft› ‹gesichert› werden kann.

Eingliedern also in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. Eingliedern! Was ist das für ein Wort? Schauen wir in das wunderbare Duden Synonym-Wörterbuch und konzentrieren uns auf das Verb:
Eingliedern heißt: angleichen, anpassen, aufnehmen, einbeziehen, einfügen, eingruppieren, einordnen, in Übereinstimmung bringen, in Einklang bringen, assimilieren, integrieren.
Jetzt schauen wir auf mögliche Substantive:
Eingliederung heißt: Aufnahme, Einbettung, Einordnung, Anpassung, Integration. Kurz: Die Einbeziehung in ein größeres Ganzes
Nehmen wir Verben und Substantive zusammen, wird deutlich, daß es sich beim ‹Eingliedern› und bei der ‹Eingliederung› darum handelt, aus einem Kulturinsassen, der im Moment unnütz ist, da er nicht in Arbeit, Beruf und Gesellschaft eingegliedert ist, wieder ein nützliches Glied der Gesellschaft zu machen.


Glied und Reihe

Abgesehen vom uninteressanten ‹membrum virile› versteht man unter einem Glied ein Teil, das mit anderen gleichen oder ähnlichen Teilen ineinandergreifend etwa eine Kette bildet. Und, ja, klar, jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied.

Sehr interessant und auf den ersten Blick frappierend ist allerdings der militärische Konnotationshof rund um das Wort ‹Glied›: Da ist eine ‹Mannschaft› angetreten, in Reih und Glied. Nun kann einem Mann oder einem Soldaten, der im Glied steht, sich aber auf irgendeine Weise hervorgewagt hat, befohlen werden, aus dem Glied zu treten, um dann – nach einer Sanktion – zurück ins Glied zu gehen oder zu treten und in die Reihe zu kommen, damit da wieder eine Ordnung und Übersichtlichkeit hergestellt wird. Auch kann das erste Glied einer angetretenen ‹Mannschaft› einen Schritt vor gehen, der Mann im dritten Glied kann die Schnauze halten, und schließlich kann die ganze Mannschaft in Reihen zu fünfen antreten und in ‹Reih und Glied› und im Gleichschritt – also in einer sehr strengen Ordnung in jeweils einer Reihe aufeinander folgend – über einen Platz marschieren.

Aber auch im Sport oder in der Politik können Menschen, die sich mit allfälligen Keckheiten außerhalb der jeweiligen Ordnung begeben haben, die aus der Reihe getanzt sind, wieder zurückbeordert werden. So kann ein Machtwort einer Bundeskanzlerin oder eines Sportvereinsvorsitzenden diejenigen, die sich außerhalb einer Ordnung gestellt haben, wieder in Reih und Glied bringen. Der Zusammenhalt in einer Ordnung ist dann endlich wieder hergestellt.


Zurück ins Glied!

Um was geht es also bei einer Eingliederungsvereinbarung? Nun, nach dieser kleinen sprachkritischen Studie liegt das auf der Hand. Wählen wir ein Bild und stellen wir uns alle diejenigen, die in Lohn und Brot stehen, die also – zu welchen schändlichen Bedingungen auch immer – abhängig beschäftigt sind, als eine in Reih und Glied marschierende ‹Mannschaft› vor. Und diese Mannschaft marschiert, für Wachstum und Wohlstand. Weiter, immer weiter! Gut, der Wohlstand wird in unserer Postdemokratie nicht für die Glieder der Mannschaft, für die Mitglieder also geschaffen, sondern für andere. Denn ‹nützlich› sein heißt, seine Arbeitskraft an jemanden zu verkaufen, der damit dann für sich einen Mehrwert schafft. Das muß so sein.

Und, Obacht, jetzt gibt es doch da Menschen, die außerhalb dieser riesigen für Wachstum und Wohlstand vorwärts marschierenden Mannschaft, außerhalb von Arbeit, Beruf und Gesellschaft stehen, und in ‹spätrömischer Dekadenz› der Parade zuschauen, einen Kaffee trinken, ihren Hund streicheln und ihrer ‹Eigenverantwortung› nicht nachkommen. Natürlich ist es in unserer Postdemokratie völlig klar, daß diese den Zustand des ‹nicht in einer Arbeit Seienden› nur selbst – fahrlässig, mutwillig oder böswillig – herbeigeführt haben können, denn nach den allseits übereinstimmenden Aussagen aller Wichtigkeitswichtel, die im finalen Kapitalismus etwas zu sagen haben, finden alle diejenigen eine Arbeit, die wirklich eine suchen. ‹Man muß es nur wirklich wollen›.

Da sind also Kulturinsassen, die nicht mit marschieren. Das darf nicht sein! Diese Leute müssen – mit gelindem Druck – vom Staat wieder zurück ins Glied beordert werden. Unbedingt. Und wenn sie – trotz aller Bemühungen – wirklich keine ‹Arbeit› finden, dann müssen sie für einen Euro pro Stunde irgendwelche Hilfsdienste leisten. Damit werden sie fit gehalten für den Arbeitsmarkt und die möglichst baldige Eingliederung in die endlos vorwärts marschierende Mannschaft der Lohnabhängigen. Wie sagt es Friedrich Schiller im obigen Motto? «Als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!»

Lieber Leser, liebe Leserin, gefällt Ihnen das Bild? Sehen sie die fast endlose Reihe der marschierenden Lohnabhängigen vor sich? Wie weit wir doch mit ein wenig Sprachkritik kommen, indem wir uns Wörter etwas genauer anschauen!



Kommentare:


Verehrte Frau Orheim,

wie traurig das Thema Ihres kleinen Essays, und wie hübsch und lustig Ihr Exkurs ins Militärische! Ach, das hätte dem Theobald Tiger wohl auch gefallen! Und der Rest in gewohnter Luzidität messerscharf verabsurdet, – na, ich danke auch schön.

Aber ein Ei haben Sie versteckt, vermutlich um uns darauf zu stoßen. Sie schreiben:

«Ein Glied ist ein Teil, das mit anderen gleichen oder ähnlichen Teilen ineinandergreifend etwa eine Kette bildet. Und, ja, klar, jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied.»

Ja, das sagt man so. Aber mit den vielen, vielen Leuten ohne Arbeit ist das nicht so. Stellen wir uns Ihr wunderbares Bild vor, bleiben wir in dem Bild: Da ist eine Zehnerreihe von ‹Arbeit-Habenden›, untergehakt, nebeneinander marschierend. Und dahinter wieder eine Zehnerreihe von ‹Arbeit-Habenden›, untergehakt, nebeneinander marschierend. Und wieder eine. Und so weiter. Endlos bis zum Horizont, ein breiter, mächtiger Lindwurm von Menschen, die ‹eine Arbeit haben›. Keine Militärparade könnte diese final-kapitalistische Parade für ‹Fortschritt, Freiheit und Wohlstand› showmäßig übertreffen.

Und diese endlose Kette von Menschen, nebeneinander, hintereinander, ist eben nicht so stark, wie ihr schwächstes Glied. Denn sollte ein Glied, ein Mensch schwächeln, sollte er schwach und ‹leistungsunwillig› werden angesichts der Lohnabhängigkeit, die man ihm bietet, fliegt er aus der endlosen Menschenkette einfach hinaus. Er kann dann am Rand sitzen, sich die Parade anschauen, und sich überlegen, ob er sich wieder ‹einreihen› möchte. Eine ‹Eingliederungsvereinbarung› wird ihm da schon Beine machen.

Dazu kommt: Je mehr Menschen keine ‹Arbeit haben›, oder je mehr Menschen unter schändlichen Bedingungen eine ‹Arbeit haben›, desto besser läßt sich dieser Lindwurm von ‹Arbeit-Habenden› antreiben, vorwärts treiben, schikanieren, peitschen und quälen. Denn: Wem das Mitmarschieren in diesem Lindwurm nicht paßt, der darf sich das Schauspiel von außen betrachten. Und das ist nicht so nett. Denn selbstverständlich versuchen die Institutionen, die den finalen Kapitalismus durchzusetzen haben, die aus dem breiten, langen Lindwurm heraus gefallenen, die Ausgesonderten, so schnell wie möglich wieder auf Trab, auf Marschtempo, zu den bereits Marschierenden zurück zu bringen. «Reih Dich ein!» heißt es dann. «Verlaß Deine Hängematte und komm zurück zu den ‹Anständigen›, die sich klaglos ausbeuten lassen, komm zurück zu Deiner Zeitarbeitsfirma, die Dir 5,50 € in der Stunde bietet und noch mal genau so viel an Dir verdient. Sei brav! Denn so ist das Leben!»

Ja, jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Aber das paßt hier nicht, wenn schwache Glieder jederzeit und ohne weiteres ersetzbar sind, und man den vermeintlich ‹starken› Gliedern – den noch ‹Arbeit-Habenden› – damit drohen kann, daß sie jederzeit und ohne weiteres ersetzbar sind.

Noch einmal Dank für den schönen Text.

Birgit (Bochum)



Erstellt: 21. September 2011 – letzte Überarbeitung: 5. Oktober 2011
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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