BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Pólis und Postdemokratie: Ein Nachtrag - Wählen und Abwählen»
von Helmut Hansen
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Das Volk

Albertine Devilder und Henriette Orheim haben in ihrem deutlichen Sammelreferat mit dem Titel ‹Pólis und Postdemokratie› skizziert, wo wir in unserem Gemeinwesen derzeit stehen und wo wir uns hin bewegen werden. Ich möchte hier nur einen kleinen Nachtrag leisten, in dem ich ein Ungleichgewicht schildere, das in unserer Pólis selten beachtet oder kommentiert wird.

In Artikel 20 Absatz (2) unseres ‹Grundgesetzes› heisst es:

«Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.»

Das ‹Volk› geht also zu Wahlen oder (Volks)Abstimmungen. Die Voraussetzung dafür ist, daß derjenige aus dem Volk, der wählen möchte, auch wählen darf. Er muß wahlberechtigt sein. Bis hierhin ist alles in schöner demokratischer Ordnung.


Die Wahl

Schauen wir uns Wahlen zu einem Parlament im Bund, in den Ländern oder in den Kommunen an. Eingedenk einer derzeit stetig abnehmenden Wahlbeteiligung stehen wir erstaunt vor der Tatsache, daß es bei diesen Wahlen zu Parlamenten aller Art keine Mindestwahlbeteiligung gibt. Selbst wenn die Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl auf vielleicht 20 Prozent sinken sollte, werden dennoch alle Bundestagsmandate vergeben. Besonders repräsentativ ist diese repräsentative Demokratie dann nicht mehr.

Noch interessanter wird es, wenn wir uns überlegen, daß der Oberbürgermeister einer Stadt – bei einer realistischen Wahlbeteiligung von etwa 30 Prozent – in Wirklichkeit nur von relativ wenigen Menschen gewählt wird, denn 70 Prozent der Wahlberechtigten beteiligen sich eben nicht an seiner Wahl. Aber er wird gewählt. Fraglos.

Halten wir fest: Es gibt in Deutschland keine ‹Mindestwahlbeteiligung›, d. h. es gibt keine Mindestzahl an abgegebenen und gültigen Stimmen, unterhalb derer die Wahl für ein Parlament oder ähnliches ungültig wäre.


Die Volksabstimmung oder die Abwahl

Nun schauen wir uns andere Wahlen an, bei denen es nicht um den Einzug von Abgeordneten in Parlamente geht, sondern um das Abwählen eines Repräsentanten (etwa eines Oberbürgermeisters) oder um eine Volksabstimmung zu einem bestimmten konkreten Thema. Hier wird also das Volk gefragt. Es soll sich äußern und mitbestimmen. Denn ‹alle Staatsgewalt geht vom Volke aus›.

Auf den ersten Blick stellen wir fest, daß bei diesen Wahlen einiges anders ist. Denn bei einer Volksabstimmung oder der Abwahl eines Oberbürgermeisters muß das Volk zunächst einmal eine Fülle von Unterschriften sammeln (die Anzahl ist je nach Bundesland und Stadt unterschiedlich), um die Abstimmung oder die Abwahl überhaupt auf den Weg zu bringen. Und jetzt kommt der interessante und entscheidende Punkt: Bei der Abstimmung oder der Abwahl selbst gelten dann recht hohe Quoren. Wir betrachten nur zwei Beispiele:

  • Stuttgart 21: Bei dieser Volksabstimmung ging es um ein in Stuttgart umstrittenes Bahnprojekt. Um dieses zu stoppen wurde ein Quorum von 33 Prozent aller Stimmberechtigten festgelegt. Obacht: Das sind wirklich ein Drittel aller Wahlberechtigten! Nicht ein Drittel aller abgegebenen Stimmen! Landesweit mußten also mindestens 2,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger nicht nur an der Volksabstimmung teilnehmen, sondern auch ein sogenanntes ‹S21-Kündigungsgesetz› mit einem ‹Ja› unterstützen. Es wundert nicht, daß dieses Quorum nicht erreicht wurde.
  • Abwahl eines Oberbürgermeisters: Zunächst einmal mußten – wie oben bereits erwähnt – zigtausend Unterschriften gesammelt werden, um eine Abwahl vorzubereiten. Für einen Erfolg bei der Abstimmung über die Abwahl wurde ein Quorum von 25 Prozent der Stimmen festgelegt, bei etwa 365.000 Wahlberechtigten in dieser Stadt waren das also rund 91.000 erforderliche Ja-Stimmen. Obacht und wohlgemerkt: Es mußten nicht nur 91.000 Leute zur Wahl gehen, nein, sie mußten auch alle für die Abwahl stimmen.

  • Am Rande sei noch vermerkt, daß die Abstimmungszettel von den Behörden gerne so formuliert werden, daß man sie kaum versteht oder daß für ein ‹Ja› ein ‹Nein› erforderlich ist. Der Stimmzettel zu ‹Stuttgart 21› war hier ein treffliches Beispiel:

    «Stimmen Sie der Gesetzesvorlage, Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S-21-Kündigungsgesetz) zu? Ja oder Nein.»

    Sie sehen, lieber Leser und liebe Leserin, daß ein ‹Ja› auf dem Stimmzettel ein ‹Nein› zu ‹Stuttgart 21› bedeutete und umgekehrt. Ist doch nett, oder?

    Bei der Abwahl eines Oberbürgermeisters war der Stimmzettel ganz deutlich formuliert:

    «Stimmen Sie der Abwahl zu, so stimmen Sie mit ‹Ja›. Lehnen Sie die Abwahl ab, so stimmen Sie mit ‹Nein›.»

    Betrachten wir uns aber den impetus eines frommen und ehrlichen Mitbürgers, der sich in einem ‹Ich bin für den Oberbürgermeister!› äußert und der deswegen mit einem ‹Ja› abstimmt, so stimmt er doch für die Abwahl. Selber schuld, oder?


    Fazit

    Ist ein Fazit nötig, lieber Leser, liebe Leserin?



    Erstellt: 21. Februar 2012 – letzte Überarbeitung: 23. Februar 2012
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