BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Cottbus liegt in der Toskana»
von Vicente G.
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Man hatte sich schon daran gewöhnt. Menschen werden auf offener Straße totgeschlagen, weil ihr kulturelles Dasein deutsches Wesen entzündet. Der Totschlag entpuppt sich bei genauem Hinsehen als im wesentlichen deutsch und nimmt in seinen orgiastischen Auswüchsen wagnerianische Züge an. An diesem Wesen hat sich zum Leid der Kultur seit den Nibelungen nichts geändert, regionale Besonderheiten in den Tötungsgewohnheiten ändern nichts am deutschen Grundgeist. In den östlichen Landstrichen wird die einfache Hand- und Fußarbeit des Tötens bevorzugt, der Westen tötet technisch raffinierter – Handgranate statt Handarbeit.

Internationale Reiseführer weisen schon länger auf die Besonderheiten deutschen Wesens hin und raten von Besuchen ab oder empfehlen sich von Natoeinheiten eskortieren zu lassen, eine Art der Wirklichkeitsfindung, die sich Politik und Medienöffentlichkeit nicht leisten können, wollten sie nicht konsequenterweise den verbliebenen Anständigen die sofortige Ausreise anempfehlen. Und dennoch, bei all der Bauchnabelschau und Auslotung des teutonischen Unbewußten im Schatten deutscher Eichen übersieht man allzuschnell, daß sich ein anderer Landstrich deutscher Mentalität in der Neuinszenierung des Nibelungendramas übt.

Gemeint ist das Land, dessen Topographie an den flüchtig ausgezogenen Landserstiefel unserer Großväter erinnert, die sich beim Gejumms über Capri, Sonne und die Fischer in ihr Herrenreich träumten, ein Traum den ihre Kinder als saturierte Staatsalimentäre in hübschen Landhäusern weiterträumen. Und genau in diesem Ländchen, das vor nicht ganz 1000 Jahren zu einem großdeutschen Reich gehörte, geschehen Dinge, die sich von denen in Cottbus nicht unterscheiden.

Gewiß, früher schon war es dort nicht ungefährlich. Man konnte seine Handtasche verlieren oder sein Leben, weil Straßenverkehr, Baumängel und Romantizismen der Kriminalität zu einer Fortsetzung des Stahlgewitters im zivilen Leben wurden. Und heute verliert man dort sein Leben, weil sich an Kulturträgern einer globalisierten Wirtschaftswirklichkeit Nibelungengeist entzündet.

Bitterlich rächt sich, daß die deliranten Phantasien genetisch verzüchteter Lebensbornprodukte über Blut und Boden einseitig auf teutonische Pimpfhorden reduziert und der tatsächliche geistige Flächenbrand in den Qualmwolken historischer Freistildichtung übersehen wurde. Man frage bestimmte Altersgruppen besser nie, ob Wien in der Ostmark liege, man frage sich vor allem niemals, warum die Pimpfe von Capri träumten und warum später noch Schlager über den blauen Himmel des wahren teutonischen Südens zweisprachig veröffentlicht wurden. Gewalt und Dummheit als Leidekultur waren schon immer grenzüberschreitend verständlich, der gemeinschaftliche Totschlag schafft, was esperanto und Internationalismus vergeblich versuchten. So döst man als erholungsbedürftiger Urlauber im Schatten der Zypressen vor sich hin, erholt sich im Halbschlaf fuseliger Weinerzeugnisse, sanft ummurmelt vom Geschrei der Geschlagenen in der Ferne und verwechselt die Kampflieder der Schwarzhemden mit den Gesängen der Caprifischer. Großvater hätte es noch zu unterscheiden gewußt.

Später am Abend dann, auf der Piazza, wenn schon längst Mond und Sterne scheinen und die Lifestylestiftung hanseatischer Hausfrauenillustrierten in die Wirklichkeit ausgeflossen ist, hört sich das aufgeregte Schnattern der Passanten an wie seit ehedem und schafft mit seinem rhythmischen An- und Abschwellen den Schlüsselreiz erzwungener Erholung. Die kleinen Trauben der Einheimischen um die Fernseher sind von dekorativer Wirkung wie jedes Jahr, schließlich gibt es Fußball zu sehen, wie jeden Abend. An diesem Fußballabend kommen ein paar Spieler aus Angola nicht auf's Spielfeld, es gibt Tumulte unter den begeisterten Fußballanhängern, wie man sie kennt, mit goldrandbrilliger Kulturweitsicht als mentalitätsgegeben erwartet und in gnädiger Toleranz geschehen läßt, das Erholungsritual eines jeden Sommers, und daheim gegenüber einer Großfamilie aus dem gleichen Urlaubsort undenkbar.

Irgendetwas versteht man von den Sprachfetzen der aufgebrachten Zuschauer, sie beschimpfen die afrikanischen Fußballspieler und skandieren, man wolle sie unter die Duschen verfrachten. Man vernimmt es gnädig, schmunzelt hinter seiner Goldrandbrille über soviel reinliche Tugend und ist erfreut darüber, daß noch niemand auf die Idee kam, nach der Handtasche der Ehegattin zu greifen, wie sonst jedes Jahr.

Der Abendspaziergang endet in einer Trattoria, wo dann der Kellner nach dem dritten Grappa etwas von neuer Ordnung, von Kameradschaft und Grundwerten radebrecht, und daß Süditalien nicht mehr Italien sei. Es klingt zunächst irritierend, doch nichts in der Welt existiert wirklich, das nicht hinter einer alimentierten Goldrandbrille und dem Blick über ihren Rand hinaus in die Kategorien eines kosmischen Sozialaltruismus eingeordnet werden könnte. Der Kellner hat Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, natürlich. Die einfachsten Erklärungen beruhigen immer am meisten. In gütiger Anteilnahme erinnert man sich gerne an die eigenen Schwierigkeiten mit der lateinischen Sprache. Hätte sich Cäsar auf die altsprachlichen Primaner verlassen müssen, er wäre nicht über das Leben eines Salatbauern vor den Toren Roms hinausgekommen. Nur die blonden kurzen Haare und dieses Kantige in der Bewegung des Kellners hinterlassen einen Hauch von Zweifel, wie ein Haarriß im Brillenglas. Vielleicht ist es ja nur die Bestätigung für die immer schon gepflegte Ansicht, daß auch der viel und meistens vergeblich beschworene Liebhaber des Südens eines Tages erwachsen wird und nicht nur die unbekleideten Ehegattinnen der Erholungsuchenden im Sinn hat. So leert man zufrieden sein Grappaglas und rückt die Goldrandbrille zurecht.

Eigentlich, so sinniert man auf dem Nachhauseweg weltordnend grappiert in die Nacht, fehle es den Ostdeutschen bloß an Mut zu kulturellen Erfahrungen. Reisen, so wußten schon unsere Großväter als unaufhaltsame Wandervögel, bildet.



Erstellt: 21. Mai 2001 – letzte Überarbeitung: 21. Mai 2001
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