BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Alle weg!»
von Bethchen B.
Als PDF-Datei laden

Vor ein paar Tagen war ich beim Arzt, war ein bißchen angeschlagen, hatte mir Blut abnehmen lassen. Gestern nun war ich wieder bei ihm, um mir mit ihm gemeinsam einen Computerausdruck mit den so übersichtlich angeordneten ‹normalen› Schwankungsbreiten meiner diversen Ingredienzen zu betrachten. Es gab keine Ausreißer. Na schön. Hatte ich auch nicht erwartet. Nicht schön war, daß der Arzt, nachdem wir nun lange genug auf zwei Seiten Papier gestarrt hatten, plötzlich – aus einem für mich doch nun heiterem Himmel – und mit einiger Erregung politische Ansichten vortrug, ‹standespolitische› gar, die in der finalen Losung gipfelten, daß die Krankenkassen, ‹so wie sie da sind, alle weg› könnten. Denn die Krankenkassen würden viel zu Geld für sich selbst ausgeben. Und wenn die Krankenkassen also erst einmal ‹weg› wären, dann sei wieder hinreichend Geld da, für alle.

Ich hatte überhaupt keine Lust, mit diesem aufgeregten Mann über solche Themen zu sprechen, deswegen murmelte ich nur etwas von kassenärztlichen Vereinigungen und was die denn so kosten würden, und davon, daß sich ja doch schließlich irgendjemand um die Versicherung des ‹Krankheitsfalles› – daß ich auf dieses Wort kam, überraschte mich selbst – von Millionen Leuten kümmern müsse. Aber der Arzt war jetzt in seiner Spur und meinte, die allgemeine Kranken- und Sozialversicherung sei jetzt hundert Jahre alt, also sowieso überholt, und heute wäre alles anders, heute müsse jeder selbst am besten wissen, wie er sich um seine Angelegenheiten zu kümmern habe. Ich sagte nichts mehr, war verstimmt, wurde entlassen.

Um mich zu erholen ging ich erst einmal in mein Lieblingscafé und rief Helmut an, um ihm diese Geschichte zu erzählen. Leider hatte Helmut sein Mobilphon abgestellt. Ich aß eine Kartoffelsuppe, trank einen Milchkaffee, grübelte über das nach, was mir der Arzt da aufgesagt hatte. Und da fiel mir ein, daß Helmut mir vor einiger Zeit vom Besuch eines Fußballspiels erzählt hatte, in dem, nach einer ‹strittigen› – welch ein Wort – Entscheidung der Schieds- und Linienrichter, sich ein Fan auf der Tribüne zu Helmut umgedreht und aus vollem Herzen gerufen habe: «Die Schiedsrichter! So wie sie da sind! Alle weg!» Und die Fans hätten dazu gesungen: «Oh hängt in auf, oh hängt ihn auf, oh hängt ihn auf die schwarze Sau!»

Hm, sollte ich da einem kulturphysiognomischen Genericum auf der Spur sein? Sollte sich da vielleicht eine neue Geschichte für Artus ergeben? Das interessierte mich, meine Laune wurde wieder besser, ja, ich wurde richtig wach und rief Helmut noch mal an, um ihm von meinen Plänen zu berichten. Seltsam, sein Mobilphon war immer noch abgestellt.

Ich verließ das Café und nahm mir vor, zu Hause ein wenig zu arbeiten und zu sehen, was an diesem Thema dran sein könnte. Unterwegs fiel mir ein, daß ich eigentlich noch einiges einkaufen müßte, und dann hatte ich die Idee, gleich ein paar schöne Sachen und eine Flasche Rotwein zu holen, und Helmut zum Essen einzuladen.

Zu Hause nahm ich diszipliniert und geordnet die Arbeit an dem neuen Text auf: Da redet also – in irgendeinem Kontext, bei irgendeinem unübersichtlichen Problem – jemand frisch von der Leber weg und ruft als Losung für die Lösung dessen, was ihn offensichtlich bedrückt, aus vollem Herzen ein «Alle weg!» aus. Und klar, jetzt fielen mir noch weitere Sprachfiguren dieses Genres ein: «Alles ein Gesocks!» «Kannst Du alle in der Pfeife rauchen!» «Die stecken doch alle unter einer Decke!» Und nun erinnerte ich mich auch meiner häufigen Gänge zu der zentralen Vervielfältigungstelle einer Universität: Dort lag regelmäßig auf einem riesigen Kopierautomaten aufgeschlagen etwas, was im Skepsis-Reservat als ‹Schmierlappenzeitung› be-, aber niemals beim Namen genannt wird. Und in der Nähe dieses Objektes unterhielten sich ebenso regelmäßig zwei Männer über die Fährnisse in der Welt da draußen oder in der Nähe. Und mir war schon oft aufgefallen, daß diese beiden Männer zur Lösung aller möglichen Probleme immer wieder von einem Ausrotten, Ausmerzen, einem Beseitigen, einem Wegmachen sprachen. Denn dann sei da endlich eine Ruhe.

Ich war ergriffen, fühlte ich doch, daß ich mich dem Mythos des ‹Sich-Etwas-Weg-Wünschens› näherte. Das schien ein gesellschaftliches Urventil zu sein. Wie nett. Da gibt es Probleme, da gibt es Komplexitäten in verwobenen sozialen Systemen, da gibt es ‹Besitzansprüche› und Egoismen, und bevor die Unübersichtlichkeit so richtig auf einem lastet, externalisiert man das Problem und das eigene Leiden unter dem Problem und wünscht sich – ohne weiteres Nachdenken und ganz unsystemisch – die Beseitigung genau einer sozialen Gruppe, einer Institution, einer Systemvariablen, und stellt sich dann tatsächlich vor, hofft, ja, ist überzeugt davon, daß das eigene Leiden sofort aufhört, sobald nur da draußen irgendetwas ‹weg› ist. Hirnstromkurven sollen zu geraden Linien werden. Endlich. Eine schöne Bescherung. Und welch' beeindruckende Vereinfachung von Komplexität! Aber immerhin, ein übererregtes und ratloses Personensystem wird für einen Augenblick entlastet.

Mein Arztbesuch am Morgen fiel mir wieder ein. Ich mußte lachen. Was sind die Menschen doch sprachlos, wenn sie zu Wort kommen! Da wabert irgendetwas Aufregendes so unklar in ihrem Kopf herum, daß sie es weder denken noch ausdrücken können. Und da bleibt eben als letztes sprachliches Refugium nur die Verkürzung, die gewalttätige Phrase: «Alle weg!»

Und, im Hintergrund dieser Beseitigungslogik schwebt ja auch die aufgegebene Vorstellung von einer nach Recht und Gesetz geordneten Pólis: Wenn erst einmal verschiedene Institutionen – als Vereinbarungseinhalter sozialer Räume – ‹alle weg› sind, wer soll dann deren Aufgaben übernehmen? Jeder für sich? Soll jeder selbst dafür sorgen, daß er Recht bekommt? Soll jeder selbst für sein Recht kämpfen? Sollen wir ‹das Gesetz› selbst in die Hand nehmen und uns alle Schußwaffen zulegen, wie das James Stewart von John Wayne im Film «The man who shot Liberty Valance» empfohlen wird? Nein, welche Kindereien, welcher Unsinn!

Da fiel mir ein, daß ich noch in der letzten Woche diesen Film zusammen mit Helmut im TV gesehen hatte. Ach. Ich rief ihn an und – endlich war er dran. Ich erzählte ihm vom meinem Arztbesuch, von dem kleinen Traktätchen, an dem ich gerade arbeitete und sagte ihm, daß ich ansonsten ein wenig eingekauft hätte und ihn gerne zum Abendessen einladen würde. Helmut war kurz angebunden. Er meinte, er hätte leider keine Zeit und ansonsten hätte sich zwischen uns in der letzten Zeit auch einiges verändert. Ende.

Ich war starr. Sprachlos. Kriegte Bauchschmerzen. Was hatte Helmut in den letzten Wochen immer gesagt? Kultur ist Reichtum an Erregung? Da hatte er Recht. Ich war erregt! Ich war sauer. Aber dann löste sich meine Dystonie in einem «Männer! So wie sie da sind! Alle weg!»

Danach ging es mir besser.



Erstellt: 14. Januar 2003 – letzte Überarbeitung: 14. Januar 2003
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.