BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Einführung»
von Holger Wyrwa
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Niemand kann sich selbst entkommen.
Der Kleinbürger schon.
(H.W.)

Lieber Leser, liebe Leserin, in diesem Essay - und in vielen weiteren - befasse ich mich mit einem sehr großen Teil unserer Mitmenschen: Dem Kleinbürger - und den charmanten Ungeheuern, den Kleinbürgerkindern. Ich werde versuchen, mit Hilfe der sorgfältigen Analyse der Psyche dieser Mitmenschen nichts weniger als ein Porträt der ‹normalen› deutschen Geistesverfassung zu zeichnen.

Versuchen wir uns zu Beginn dieser mehr oder weniger vergnüglichen Skizzen darüber zu verständigen, wer der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist und fragen also schlicht: Was ist ein Kleinbürger? Hier die sofortige und unmißverständliche Antwort: Ein Kleinbürger ist ein Mensch, der klein denkt, klein fühlt und kleinlich handelt. Er ist also das, was man als «normal» bezeichnen würde. Der Kleinbürger ist ein an die gegebenen Verhältnisse angepaßtes Wesen, das nie gelernt hat, sich selbst zu leiten, sondern nur, blind gesellschaftlichen Konventionen Folge zu leisten. Der Kleinbürger wird von den Umständen bewegt, die ihm ‹widerfahren›, ohne sich dieser Umstände bewußt zu sein bzw. zu werden. Und sein Maßstab in allen Fällen und für alle Fälle ist der Durchschnitt, über den er selbst nie hinausragt, auch dann nicht, wenn er zu den so genannten Berühmten und Prominenten dieser Welt gehört. Ein Kleinbürger ist ein Massenmensch - ganz im Sinne Ortega y Gassets - und selbstverständlich kann er Kanzler einer Kleinbürger-Demokratie werden, da er in seiner Person das Mehrheitsprinzip spiegelt und damit die statistische Definition des Normalen visualisiert.

Dabei sind es nicht seine mangelnde Intelligenz, sein rudimentärer Wissensstand oder seine mittelmäßigen Fähigkeiten, die den Kleinbürger auszeichnen, sondern es ist, wie wir noch ausführlich sehen werden, seine Art zu denken. Er geht den Dingen niemals auf den Grund, sondern schwimmt statt dessen lieber vergnügt an der Oberfläche aller Erkenntnisse herum. Zwar steckt er gelegentlich seinen Kopf ein wenig unter das Wasser, um dann jedoch - einem Erkenntnisanfall vorbeugend - schnell wieder an die Oberfläche der Dinge zurückzukehren. Kaum wieder aufgetaucht, hält er sich für tiefsinnig und gelegentlich glaubt er gar, große Zusammenhänge, ja die «Weltformel» entdeckt zu haben. Diese ihm eigene Oberflächentiefsinnigkeit führt dazu, daß er sich immer nur mit höchstens einem Viertel zufrieden gibt, welches er für das Ganze hält. Im selbstbewußten Bewußtsein Ganzheiten erkannt zu haben, lehnt er sich zufrieden zurück. Egon Friedell nennt den Kleinbürger Philister. Was ist ein Philister? Ein Mensch, der Behagen über seine Tugenden und seine geistige Genügsamkeit empfindet, und der in einer platten Selbstzufriedenheit dem verderblichen Wahn huldigt, lohnabhängige Arbeit reiche aus, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Damit haben wir den Kleinbürger in seinen Grundzügen bereits charakterisiert. Und das mag an dieser Stelle, in dieser Einführung zunächst genügen. Vieles wird folgen. Doch eines hier noch. Kleinbürger gibt es selbstverständlich auf der ganzen Welt. Was ist aber dann am deutschen Kleinbürger anders? Nun, der deutsche Kleinbürger zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß es in der deutschen Geschichte nie eine Revolution gegeben hat, die der englischen, französischen oder russischen gleichgekommen wäre. Der durchschnittliche Deutsche hat nie eine Selbständigkeit gelernt, mit allen positiven wie negativen Folgen, und er konnte so nie ein auf einer Selbständigkeit gründendes historisches Selbstbewußtsein entwickeln. So war und ist er im allgemeinen immer ein braver Untertan - und dies auch noch gründlich, denn er ist mit einem verhängnisvollen Drang nach Perfektion ausgestattet. Wenn er etwas macht, dann macht er das auch richtig. Wenn er den Untertan gibt, dann auch gründlich. Denn für den Kleinbürger muß alles eine Ordnung haben, selbst dann, wenn keine von außen vorgegeben ist. Der deutsche Kleinbürger mag es einfach, wenn man ihm sagt, wo es langgeht. Vermutlich trifft das folgende völkerpsychologische Stereotyp zu: «Für Franzosen ist alles erlaubt, wenn es nicht ausdrücklich verboten ist. Für Italiener ist alles erlaubt, auch wenn es ausdrücklich verboten ist. Für Deutsche ist alles verboten, wenn es nicht ausdrücklich erlaubt ist.» (Quelle unbekannt)

In den folgenden Skizzen dieser Reihe zur Psychologie des Kleinbürgers werden einige ausgewählte Stichworte uns Anlaß geben, Ausschnitte seines Wesens näher zu beleuchten. Selbstverständlich ist der Kleinbürger nicht vollständig in seinem Dasein zu durchschauen und zu bestimmen. Doch reichen die im folgenden aufgeführten Facetten aus, um sich ein beinahe umfassendes Bild von ihm zu machen.

Noch eines zum Schluß dieser Einführung: Natürlich gibt es nicht den Kleinbürger. Die in den folgenden Essays skizzierten Charakteristika treffen so auf die einen mehr zu als auf die anderen. Einige Kleinbürger stehen dem Proleten sehr nahe, während andere durchaus eine scheinbar ‹gebildetere› Schicht auf ihrem kleinbürgerlichen Dauer-Make-Up tragen. Letztlich ist die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen allen Kleinbürgern die, daß sie nie, in keiner Hinsicht, den Rahmen durchstoßen können, den andere für sie - und innerhalb dessen sie sich selbst - geschaffen haben.



Erstellt: 16. August 2003 – letzte Überarbeitung: 16. August 2003
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