BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Charakter»
von Holger Wyrwa
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Das primäre Charakteristikum des deutschen Kleinbürgers ist seine Fixierung, denn er läßt sich von einer einmal getroffenen Meinung und Haltung in der Regel nicht wieder abbringen. Was der Kleinbürger für ‹wahr› hält, verankert er fest in seinem Bewußtsein und umwickelt es mit Schnüren wie ein Paket, damit es ja nicht auseinanderfällt. Der Kleinbürger hat feste Überzeugungen und ist deswegen im Umgang mit anderen Menschen ein Virtuose der Kleinlichkeit. Abweichende Wirklichkeitsauffassungen läßt er nicht gelten, und gern beruft er sich bei der Abwehr ihm «fremd» erscheinender Welterfindungen auf seine Bewußtseinsquellen: «Aber das habe ich doch gestern im Fernsehen gesehen!» «Das stand aber heute doch in BILD!»

Alle Bestandteile seiner kleinen Welt müssen für ihn an einem festen Platz festgeschraubt sein. Da ist er eigen, da kennt er kein Pardon. ‹Möglichkeiten› bedeuten ihm nichts, nur ‹Wirklichkeiten›. Unveränderlich und unveränderbar geht er seinen Weg und bleibt in seiner Lebensform.

Was der deutsche Kleinbürger kann, das ist er. So kann er in seinen sozialen Räumen schunkeln, an den richtigen - von allen akzeptierten Stellen - lachen, in den falschen Momenten den Mund halten, überall mitreden, weil ihm zu allem etwas einfällt, sich allen Umständen anpassen, seine Augen vor sich selbst verschließen, und jedes Jahr in den gleichen Urlaubsort fahren. Sein Können ist sein Wesen.

Doch was zeichnet den Charakter des Kleinbürgers am meisten aus? Er ist domestiziert, also brav. Brav in seinem Denken, brav in seinem Fühlen, brav in seiner Kleidung. Mit anderen Worten: Er ist konventionell und bequem. Er denkt, was alle denken, plappert nach, was in seinen sozialen Räumen geschwatzt wird, und er glaubt tatsächlich, eine ‹eigene› Meinung zu haben. Er gibt sich zufrieden mit dem Vorgekauten, das er nachkaut, und dann - immerhin eigenständig - herunterschluckt. Jedes Rebellische ist ihm in Elternhaus, Schule und Beruf ausgetrieben worden - und so ungern war ihm das letztlich auch nicht. Denn alles andere hätte bedeutet, das Leben nicht mehr von anderen portionsweise und in den entsprechenden Verpackungen in Empfang nehmen zu können, sondern es selbst erobern zu müssen. Und das war und ist dem deutschen Kleinbürger nicht nur zu anstrengend, davor graust es ihm.

Da der Kleinbürger bedingungslos angepaßt ist, ist ihm prinzipiell alles suspekt, was er nicht versteht. Und allem Neuem steht er mißtrauisch gegenüber. Er will nichts dazu lernen. Er weiß alles. Er hat ausgelernt. Immer. Deswegen bietet der Kleinbürger im Umgang grundsätzlich keinerlei Überraschungen. Alles an ihm ist auf wunderbare Weise vorbestimmt. Und was er als nächstes sagen wird, ist immer offensichtlich. Die Übergangswahrscheinlichkeit von einer Phrase zur nächsten läßt sich regelmäßig mit einer etwa einhundert prozentigen Trefferquote vorhersagen: Soziales Rauschen. Man kann ihm zuhören, ohne daß man etwas hört.

Es ist letztlich immer das gleiche, was er sagt; es ist nur in Variationen verpackt, deren Grundmuster auch immer das gleiche ist: Die Aufteilung allen Geschehens in schwarz-weiß oder richtig-falsch, die Zweifelsfreiheit aller Äußerungen, die Linearität aller Betrachtungen. So ärgert er sich turnusmäßig über die Politik, phasenweise über das Leben im allgemeinen, das schwer ist, ständig über die Menschen, die gleichgültig sind (er ist es natürlich nicht), praktisch immer über die Zukunft, die nicht rosig ist. Alles in allem zeigt er sich so als Pessimist. Aber er ist kein Pessimist aus Überzeugung. Sondern ein Pessimist der Phrasen, denn sein Pessimismus hat keine Tiefe, kein Gründeln, nur eine Art Oberflächentiefe, die Nachdenklichkeit und die eigenständige Suche nach Zusammenhängen nicht duldet.

Der Kleinbürger ist des weiteren korrekt. Er ist pünktlich, fleißig, zuverlässig, ist sogar lieb auf eine bemitleidenswerte - weil naive - Weise und legt nicht selten im Umgang mit anderen eine plumpe Vertraulichkeit an den Tag. Darauf ist er stolz. Das zeichnet ihn aus. Er huldigt häufig auch einer kitschigen Romantik. Er weint an den richtigen Stellen, ist betroffen im richtigen Augenblick, ist gerührt beim Anblick eines Hochzeitspaares (die Braut ganz in weiß) und wenn Verliebte sich küssen. Er ist perfekt angepaßt an den sozialen Automatismus der Gesellschaft, in der er lebt.

Wenn er sich selbst einmal in der Kleidung oder Frisur auf Auffälligkeit trimmt, dann nur, weil er die Aufmerksamkeit anderer Kleinbürger auf sich ziehen will - zumindest vorübergehend. Einmal über die Stränge schlagen, das ist der Wunsch jedes Kleinbürgers. Da kommt die topmodische Jungmädchenfrisur mit den roten Strähnchen und dem Bürstenhaarschnitt gerade recht. Oder der Motorad-Urlaub in die Sahara. Sich einmal wie ein Abenteurer fühlen, rebellisch, frech, unbrav und unkonventionell. Da erreichen ihn Ahnungen eines anderen Lebens. Nicht, daß er dies bewußt wahrnehmen würde. Keinesfalls. Denn er ist in seinem Kleinbürgerdasein so zu Hause, wie der Fisch im Wasser. Nur ein sehr dumpfe und distante innere Stimme treibt ihn gelegentlich dazu, sich zu verändern, ohne sich zu verändern. Doch sofort danach kehrt er wieder in die heimelige Welt seines Kleinbürgerdaseins zurück. Die Frisur verliert ihren Reiz und eine neue muß her, die zeigt, daß wieder einmal alles gleich geblieben ist. Und der Abenteuer-Urlaub mit Gruppenführung und Mehrfachversicherung wird zum ständig wiederkehrenden Event, bis es ihn langweilt. Was lernen wir daraus über den Kleinbürger? Wenn er glaubt, keiner mehr zu sein, ist er es erst recht.

Kleinbürger klatschen sehr gerne Beifall. Die Produktion unzähliger TV-Formate wäre ohne die Nick- und Klatscheseleien von Kleinbürgern nicht denkbar. Stolz sitzt er in einem TV-Studio und klatscht! Und nichts verschafft ein solch' tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie eine klatschende Armee von auf geistig jung getrimmten Papis und Mamis, die sich durch diesen Akt des Lärms gegenseitig ihrer Bedeutung versichern.

So traut sich der Kleinbürger auch nur in Gruppen aus dem üblichen Rahmen seines Verhaltensrepertoires zu fallen. Darin ist er durchaus gewalttätigen Fußballfans ähnlich, die in Gruppen randalierend durch die Straßen ziehen. Natürlich kommt es beim Kleinbürger in der Regel nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen. Seine Methode ist subtiler, wenn auch deshalb nicht niveauvoller. Mit ‹freundlichen› Sticheleien schlägt er in der Gruppe seinen Kleinbürgerfreunden verbal links und rechts eins um die Ohren, daß es nur so kracht. Oder er kommt so richtig aus sich heraus, wenn er beim Kegeln schreit oder im Fußballstadion brüllt. Mit sich allein ist der deutsche Kleinbürger aber wieder brav, und unter Fremden ist er es erst recht. Da kann er dann kein Wässerchen mehr trüben, so wie ein Kind, daß sich in der Gegenwart Fremder nicht traut, der Mutter vor das Schienbein zu treten.

Werfen wir noch einen Blick auf den Humor des Kleinbürgers, auf den er sich so viel zugute hält: Sein Humor ist seicht und auf das Oberflächliche und Deftige beschränkt. So liebt er - als gutes Beispiel - aufziehbare Puppen, die Unanständigkeiten von sich geben, nachdem man an einem Band gezogen oder der Puppe einen Klaps gegeben hat: «Du kleine geile Sau!» tönt es dann. Eine Kleinbürgerrunde wird dies äußerst vergnüglich finden, insbesondere deshalb, weil hier stellvertretend Wörter ausgesprochen werden, die der Kleinbürger - im Unterschied zum Proleten - ansonsten nur still in seinem Kopf hin- und herbewegt.

Der Kleinbürger-Humor kennt kaum Nuancen oder Zwischentöne. Ironie ist ihm fremd, ja suspekt, denn nun muß er denken, wie etwas gemeint sein könnte. Und das bereitet ihm Schwierigkeiten, weil die Ironie seinem Verständnis von Eindeutigkeit und Linearität widerspricht. Hingegen lacht er gerne über das Unsinnige, weil es das ihm Sinnige so sehr bestätigt. Insbesondere aber liebt der Kleinbürger Wortspiele, die in Reimen daherkommen: «Was sind Sie heut´so forsch, Frau Porsch!», «Pizza, Pizza, frisch aus Nizza!», «Am Busen, da läßt sich gut schmusen!» Das stereotype und wiederholte Aufsagen solcher Reime, die er irgendwo aufgeschnappt hat, belustigt den Kleinbürger ganz außerordentlich, das macht ihm Laune, das macht ihm Spaß - und fertig ist die eingekapselte Glückseligkeit des Kleinbürgers. Hinterher kann er stolz erzählen: «Haben wir gelacht!»



Erstellt: 20. August 2003 – letzte Überarbeitung: 20. August 2003
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