BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Aberglaube»
von Holger Wyrwa
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Die Theologie - die Lehre von Gott - ist der Versuch, sich Gott mit Hilfe von Worten untertan zu machen und ihn so zu entmachten. Doch die Sphäre des Göttlichen oder des Religiösen entzieht sich der Beherrschbarkeit durch die Sprache. Oder wie Ludwig Wittgenstein es allgemeiner formulierte, daß es für das Leben des Menschen allein auf das ankommt, worüber man zu schweigen hat.

Religion ist in nuce Freiheit von der Tyrannei jedweder Verhaftung. Theologie ist das Gegenteil davon. Denn hier werden Menschen im Namen einer Gottheit dazu verdammt, ihr Leben einer Reihe von Versen unterzuordnen. Und über Mittelsmänner werden Policen verteilt, die zu einem unbestimmten Fälligkeitstermin eingelöst werden können.

Wenn überhaupt, kann es nur eine persönliche Beziehung zwischen einem Gott, dem Universum, einem kosmischen Bewußtsein und einem Menschen geben. Für Cioran ist die Religion nur ein Lächeln, das über dem allgemeinen Unsinn schwebt, wie ein allerletzter Parfümhauch über den Wellen des Nichts. Und Nietzsche sagt, der erste und einzige Christ sei am Kreuz gestorben. Und brachte damit die traurige Erkenntnis zum Ausdruck, daß der Begründer einer Religion sowohl Anfang und Ende dieser Bewegung ist. Alles, was danach kommt, war und ist nur Makulatur des Religiösen - und hat den verlogenen Charme einer kleinbürgerlichen Kleingartenanlage.

Doch der Kleinbürger liebt nun einmal die Theologie und damit die Doktrin. Sich keine von anderen vorgefertigten Geschichten auftischen zu lassen, sondern lieber den eigenen zu erliegen, das ist eine Kunst, die er niemals beherrschen wird. So geht der kleinbürgerliche Christ brav in die Kirche, der Festlichkeit wegen, um seine Kinder im entsprechenden Ambiente taufen zu lassen, um im nicht weniger passenden Ambiente Hochzeit zu feiern, um eine Portion Sentimentalität einzukaufen und natürlich um den Sonntagmorgen zu vertrödeln.

Er ist dabei nicht selten einem Aberglauben verfallen, welcher seinem Hang nach Größenwahn und allerlei Hokuspokus entgegenkommt. Gefangen in der Dichotomie der Sprache, die seinen Horizont auf einen binären Code eingrenzt, sieht er überall die Zeichen Gottes oder des Teufels, wobei letzterer es ihm in besonderer Weise angetan hat: Da meint ein prototypischer Kleinbürger etwa, daß der Strichcode, der fast jeder Ware auf der Verpackung beigefügt ist, sich u.a. aus den Zahlen 666 - den Zahlen des Teufels - zusammensetze und insbesondere Nahrung in Tüten mit negativer Energie versorge. Der Gleiche meint ebenfalls herausgefunden zu haben, daß ein simpler horizontaler Strich durch den Code, ausgeführt mit einem Kugelschreiber oder einem anderen Schreibgerät, die negative Energie auflösen und verbannen könne.

Wie herrlich einfach ist so manches abergläubische Kleinbürgerhirn strukturiert, daß es Zuflucht nehmen muß zu den Wonnen der Magie, wenn, mit ihrer Hilfe, dem Teufel ein Schnippchen geschlagen werden soll. Doch auch Gott kommt nicht zu kurz: Da freut sich einer, daß Gott in seiner großen Güte, die Waschmaschine erst in dem Moment hat auslaufen lassen, als jener eine nach Hause kam. Ein anderer Kleinbürger ist davon angetan, daß eine, die aus der Kirche austrat, durch einen Unfall dafür von Gott bestraft wurde. Ein weiterer glaubt auch dann noch an einen liebenden Gott, wenn den Nachbarn der Schlag trifft, den er ihm immer gewünscht hat. Und der nächste bittet ‹seinen› Gott Woche für Woche - jeweils vor der Ziehung der Lottozahlen - daß er endlich Millionär werde.

Die Religion ist ein monumentales Kapitel in der Geschichte des menschlichen Egoismus, sagt William James. Deswegen macht der Kleinbürger seinen Gott auch so klein und überschaubar, damit er in seinen Gehirnkasten paßt. So kann er ihn für seine Zwecke mißbrauchen und sich im Glauben wiegen, ein kleinbürgerlicher Gott zeige Verständnis für die kleinbürgerlichen Genüsse und Gelüste des Alltags. Der Gott des Kleinbürgers, wie eine Fliege zwischen zwei Seiten eines Buches gefangen und zerquetscht, kann der Anthropomorphisierung nicht entkommen - und muß den Preis für diese Erniedrigung bezahlen.

Was dem kleinbürgerlichen Christen also an Gott gefällt, ist die Macht, die er sich über ihn sichern kann. Im Besitz einer moralisch-sittlichen Überlegenheit tritt der Kleinbürger als Experte in Sachen Mensch und Göttlichkeit auf. Wissend, belehrend, eine Ohnmacht erzeugende Liebenswürdigkeit ausstrahlend, versucht er über das Wasser zu gehen - und versinkt. Doch das kümmert ihn nicht weiter, solange er im Angesicht der anderen als integer dastehen kann, selbst wenn er in aller Heimlichkeit Dinge tut, die einem Teufel zur Ehre gereichen würden. Daß sein Leben dabei von einem - Gott sei Dank! - fernen Gott beäugt wird, gibt ihm Hoffnung auf Absolution und ist ihm sowohl Anlaß für Trost wie für Mißtrauen.

Für den Kleinbürger ist Gott letztlich die Instanz, die ihm dabei hilft, sich - ohne eigenes moralisches Zutun - besser zu fühlen als er ist. Selig sind die Kleinbürger, denn ihrer ist die Illusion. Wie hieß das Motto des ersten Traktates in dieser Reihe von Suaden? «Niemand kann sich selbst entkommen. Der Kleinbürger schon.» So ist es.



Erstellt: 29. Juni 2003 - letzte Überarbeitung: 29. Juni 2003
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