BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Alt»
von Holger Wyrwa
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Je älter der Kleinbürger wird, desto verlorener erscheint er in der Welt, in der er sich doch so komfortabel eingerichtet zu haben glaubt. Eine Ahnung, ein Gefühl der geistigen Leere, eine innere Stimme, welche ihm zuzuraunen scheint, daß irgendetwas in seinem Leben falsch gelaufen sein könnte, wird immer stärker. Doch Antworten auf die Frage, welcher Art denn seine Versäumungen, Leichtfertigkeiten und Unterlassungen waren, wird er nicht mehr finden, so wie man einen Satz, den man nur als Ahnung in sich trägt, in einem Buch nicht wieder findet, dessen Seiten man verzweifelt um und umblättert.

Das Leben des in die Jahre gekommenen Kleinbürgers bewegt sich in den Rhythmen fortschreitenden Verfalls. Da es nichts mehr zu erleben gibt, was ihn aus seiner Lethargie reißen könnte, langweilt er sich fürchterlich und nimmt den geringfügigsten Anlaß als Sensation. Seine geistige Totenstarre ist irreversibel eingetreten, die körperliche wird noch eine Weile auf sich warten lassen.

Brummig gehen Kleinbürger und Kleinbürgerin im Alter durch die Straßen und durch die Welt. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen betrachten sie alles, was ihren Blicken begegnet. Doch die Neugier beschränkt sich nur noch auf das Offensichtlichste des Offensichtlichen. So bleibt der Kleinbürger andächtig vor Litfaßsäulen stehen und liest interessiert jedes Wort von den aufgeklebten Plakaten ab. Oder er verharrt an Baustellen und prüft streng den Fortgang der Arbeiten: «Der Schacht ist viel zu tief, da hat der Architekt einen Fehler gemacht. Die werden ihr blaues Wunder erleben. - Was für ein komischer Stein da liegt. Da kann man drüber stolpern. Aber natürlich kümmert sich wieder keiner darum. - Das Gerüst könnte auch mal wieder einen Anstrich vertragen. - Die kommen überhaupt nicht voran. Gestern waren sie nicht weiter als heute. - Bestimmt ist hier alles voller Schwarzarbeiter. Eine Meldung von mir beim Arbeitsamt und die können den Laden hier dicht machen.»

Und eine Kleinbürgerin beschäftigt sich etwa mit folgenden Denkbewegungen: «Nein, wie die geht. Und was die anhat. - Da kommt ein Lastwagen. Rücksicht nehmen die ja schon lange nicht mehr. - Und wie das hier wieder aussieht, überall Papier und Müll.»

Weil der Kleinbürger müde geworden ist, gibt er sich in den allfälligen alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen kaum noch Mühe. Er wird in Diskursen ungeduldig, barsch und stur. Er drängelt sich dreist vor, nimmt Raum ein, wirkt unerbittlich. Seine Lieblingsrolle ist es, jüngere Menschen mit großen Gesten eines Besseren zu belehren. Doch spürt er, daß niemand mehr ernstlich etwas von ihm wissen will. Deswegen stürzt und stützt er sich auf seine Familie, soweit er sie noch hat, und bettelt um deren Aufmerksamkeit. So spielt er gerne mit seinen Enkelkindern und bemüht sich, ihnen um jeden Preis ein Lächeln abzuringen. Ist der Kleinbürger allein auf der Welt, flüchtet er sich zu Stammtischrunden, Kaffeefahrten und anderen Seniorenveranstaltungen. Im besten Fall besucht er einen Volkshochschulkurs, der ihn schon bald dann zu langweilen beginnt, wenn er nicht das Sagen hat.

Die brummige, barsche, frustrierte, nölige Grundstimmung des Kleinbürgers, die sich meist auch in vollkommener Weise in seinem Gesicht wieder spiegelt, rührt von der ihm immer bewußter werdenden Erkenntnis her, im Leben zu kurz gekommen zu sein. Also rächt er sich durch Beckmessereien und Sticheleien an allem und jedem. Denn über buchstäblich alles zu jammern und zu klagen ist seine größte Freude. Ja, im Sich-Beklagen findet der Kleinbürger das finale Ziel seiner Existenz. Ganz folgerichtig veröffentlicht er seine altersbedingten körperlichen Aberrationen - als die einzige Wahrheit, die ihm noch geblieben ist - wo und wann immer es ihm möglich ist.

Der Kleinbürger wird im Laufe der Jahre zu einer Karikatur seiner selbst. Er wird infantil; doch nicht aus einer altersbedingten Geistesschwäche heraus - dies wäre noch eine Gnade. Vielmehr vollendet sich hier der einmal von ihm eingeschlagene Weg, sich unter keinen Umständen geistig anzustrengen und weiterzuentwickeln. Der Kleinbürger hat im Alter ein Kunststück vollbracht, er hat der Zeit ein Schnippchen geschlagen, und es ist ihm gelungen, der zu werden, der er immer war.

Im Ende des Kleinbürgers schließt sich ein Kreis: Schon in jungen Jahren hatte er sich dafür entschieden, sein potentielles Menschsein, seine unendlichen Möglichkeiten aus sich heraus zu treiben und sich in seinem Leben rückwärts zu bewegen. Schon in jungen Jahren gab er sich dem Habitus des Ältlichen hin und war stets mit dem zufrieden, was sich unmittelbar vor seiner Nase abspielte. Der Kleinbürger ist verdammt zur ewigen Wiederkehr des Gleichen.

Das ganze Leben des Kleinbürgers besteht so letztlich darin, auf den Tod zu warten - und sich in der Zwischenzeit von den täglichen Spektakeln unterhalten zu lassen. Und arbeiten, Kinder in die Welt setzen, ein neues Auto kaufen, ein altes Auto verkaufen: Das alles hat der Kleinbürger in seinem Leben eher hingenommen als aktiv gestaltet. Denn der Kleinbürger lebte nicht, er wurde gelebt. Und das alles nur, um sich schließlich im Altersheim eine Pappnase aufsetzen zu lassen und sang- und klanglos zu verschwinden. Ende.



Erstellt: 16. August 2004 - letzte Überarbeitung: 16. August 2004
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