BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief»
von Helene Altemwhyl
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«Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen;
und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.»
(Ludwig Wittgenstein, im Vorwort zu seinem Tractatus logico-philosophicus, Wien, 1918)

Im August 1902 schreibt Hugo von Hofmannsthal den Brief des Lord Chandos, der den Anfang einer geplanten Reihe von Briefen und erfundenen Gesprächen darstellt, die Aussagen über das Selbstverständnis des Dichtertums und der Schriftstellerei enthalten sollten. Der nunmehr achtundzwanzigjährige Hofmannsthal, der sich als der dem Ästhetizismus verpflichtete Autor schon unter dem Pseudonym ‹Loris› einige Beachtung unter den Dichtern des ‹Jungen Wien› erarbeitet hatte, wählt hier erneut eine fiktive Figur als Absender eines Briefes, für den er sich in vollkommener Verschiebung der origo einen Adressaten auswählt, der zumindest dem wissenschaftstheoretisch oder -historisch interessiertem Publikum ein Begriff gewesen sein dürfte. Als Ausgangspunkt und Anlaß für seinen Brief konstruiert Hofmannsthal die Frage des im Chandos-Brief identifizierten Adressaten, Sir Francis Bacon, nach den Gründen, warum ein junger begabter Dichter, nunmehr der Absender, Lord Chandos, als scheinbares Opfer einer Schaffenskrise nicht mehr literarisch tätig sei.

Nachdem so Rahmen und Anlaß des Briefes gesteckt sind, benutzt Hofmannsthal den Lord Chandos als Instrument seiner Reflexion über philosophisch-programmatische Fragen in Bezug auf den Menschen und der ihn kennzeichenenden Fähigkeit zur Sprache. Als Mittelpunkt des Briefes erscheint dann auch zusammengefaßt das Dilemma, unter dem Lord Chandos zu leiden glaubt, und das ihn Opfer einer zweijährigen Schaffenspause werden läßt:

«Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.» (Hofmannsthal, zit. nach Wunberg, 1981, S. 436)

Der Verlust von Zusammenhängen, wie Chandos ihn an dieser Stelle ausdrückt, führt ihn zu einer allgemeinen und allgegenwärtigen Unfähigkeit Urteile zu fällen, Abstrakta zu gebrauchen und sich an der Konversation des alltäglichen Lebens zu beteiligen. Während sich dieses Phänomen anfangs nur auf gelehrte Gespräche und Diskussionen, basierend auf abstrakten Begriffen, bezog, weitete es sich, einmal etabliert und bewußt empfunden, auf den gesamten Lebensbereich des Lord Chandos aus, bis hin zu den als bisher selbstverständlich empfundenen Gewohnheitsgesprächen mit Nachbarn oder seiner kleinen Tochter. Der nun geschärfte Blick für die Schwierigkeiten des Gebrauchs der menschlichen Sprache und ihrer bisher angenommenen wenig hinterfragten aliquid sta pro aliquo Semantik, der internalisierten Konventionen, bricht bisher hingenommene Zusammenhänge auf, bis hin zu der von ihm persönlich empfundenen Isolation. Chandos empfindet in seiner Krise schmerzlich den Verlust der Basis des Mit-Einander-Kommunizierens, der nicht hinterfragten Präsuppositionen als Ausgangspunkte jeglichen sozialen Kontaktes, die ihn selbst zum Ausgestoßenen einer sprachlichen und sozialen Gemeinschaft werden läßt. Da alles das, was üblicherweise fraglos und scheinbar ohne besondere Bedeutung als Kontext einer Aussage unbeachtet und ohne Hemmungen in einer sprachlichen Äußerung mitgeäußert wurde, nun dem Lord Chandos als Gegenstand seiner Aufmerksamkeit erscheint, kann er den intendierten Fokus einer Aussage nicht mehr erfassen, findet er doch alles bedenkenswert und nichts mehr selbstverständlich:

«Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.» (Hofmannsthal, zit. nach Wunberg, 1981, S. 437f)

Allerdings, so der Eindruck beim Lesen, scheint Chandos die Krise, die ja auf einem Verlust des Vertrauens in die Sprache und ihrer Ausdruckskraft beruht, sehr genau beschreiben zu können. Gut strukturiert und gegliedert erscheint die Herbeileitung von Problemen und ihren Auswirkungen, Thema und Rhema seiner Ausführungen sind leicht erfaßbar und lassen den Leser unmittelbar an dem Leidensdruck des Autors teilhaben. Auch der von Chandos beschriebene Verlust von Identität und die Nicht-Beständigkeit des Ichs sind reflektiert und anschaulich belegt an der eigenen Biographie; unter implizitem Berufen auf die Gedanken Machs und im Anschluß an den Ausruf der Nicht-Rettbarkeit des Ichs von Herrmann Bahr, bieten Sie dem Leser Einblick in die zeitgenössische Philosophie und ein klares, an Hand jener Gedanken definiertes Selbstverständnis der Person des Lord Chandos.

Gleichwertig dem Kunstgriff der Verschiebung der origo, die die Aufmerksamkeit des Lesers zunächst auf Sir Francis Bacon und den Bereich der Forderungen und Aussagen zum Empirismus lenkt, versteht es Hofmannsthal, in der Schilderung der Krise des Lord Chandos, programmatisches und erkenntnistheoretisches Gedankengut durch das Mittel der Selbsterfahrung und ihrer an manchen Stellen tragischen Beschreibung zu verbreiten. Das unrettbare Ich räsoniert in Selbstreflektion und Abrechnung mit bisherigen Taten und Werken über seine Beschaffenheit und seinen weiteren Werdegang. So findet man denn eine Dreiteilung der Darstellung von Chandos Persönlichkeit:

Zuerst wird der quasi-präexistentielle Charakter des jugendlichen Lord Chandos beschrieben. Ein junger Intellektueller aus der bürgerlichen Oberschicht, der, befreit von materiellen Grenzen oder Schwierigkeiten, ganz seinem Bildungsdrang nachgehen kann. Aus einer abgesicherten gesellschaftlichen Stellung heraus, vermag er sich ganz dem damals als mächtig empfundenen lyrischen Sprachschatz zu ergeben, und unbefleckt von einem etwaigen Prinzip der Relevanz sich in sprachmagische und theoretische Gedankenkonstrukte zu verstricken. Sein Schaffensdrang umfaßt alle Bereiche eines Bildungsideals, das sich als Gegenstand sowohl die schöne Literatur, die Historie, die Architektur als auch die Naturwissenschaften auserkoren hatte. Als Krönung dieser geistigen Erbauung jedoch wähnte er sich in der Hoffnung einer alles durchdringenden Erkenntnis, die fähig war, auf abstrakte Weise alles zu ordnen und das ganze Dasein als eine große Einheit darzustellen:

«Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen, belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.» (Hofmannsthal, zit. nach Wunberg, 1981, S. 433)

Das enzyklopädisch anmutende Werk, (als naive Utopie eines Gedankenkonstruktes fast eine Vorwegnahme von Hesses Glasperlenspiel), das der junge Chandos damals plante, sollte den Titel tragen «Nosce te ipsum» – Kenne dich selbst – als Ausdruck des sich Empfindens in allen Dingen der Natur und der kreativen Schöpfung anderer, ein fast faustisches Bestreben nach dem Erfahren der Dinge in der eigenen Person, das wie eine Klammer das ganze Dasein zusammenschließt.

Die schon angesprochene Krise, die allerdings auf diesen Schwall der Begierde an Erkenntnis und des Erfassens des Wahren folgte, läßt den, an der vermuteten Gesamtheit und Einheit der Dinge Berauschten, zum Skeptiker werden, der, durch die nun erfahrene Zerrissenheit der Dinge, defokussiert zu keinem stringenten Unternehmen mehr fähig ist. Aus dem renaissanceverhafteten Bildungsidealisten, der im Glauben an die verbindende und einheitsstiftende Erkenntnis die Glücklichkeit einer in sich homogenen Persönlichkeit erfuhr, wird Chandos in seiner Selbstbeschreibung zu einem sich in einer Krise befindenden, isolierten, nicht aussagefähigen und unsoziablen Beobachter des alltäglichen Lebens, an dem teilzunehmen er nicht mehr fähig ist. Mit sich und der Welt entzweit erscheint ihm alles sonderbar bekannt und doch vollkommen verfremdet, gleich einem heutigen Betrachter eines Videofilms, in dem er selbst, inmitten seiner ihn umgebenden Mitmenschen und Lebenswelt, Mitwirkender ist, das Treiben ihm jedoch zusammenhangslos und vollkommen unbegründet erscheint.

Dennoch, die im dritten Teil der Persönlichkeitsschilderung als Ausblick erscheinende Lösung aus der Krisensituation läßt auf ein weiteres Schaffen des Lord Chandos hoffen. Die von ihm zunächst als Last empfundene unfreiwillige Schärfung des Blickes auf alltägliche Selbstverständlichkeiten der Sprache (eidola), die die von ihm als Ideal empfundene Einheit der Dinge zerfallen ließ, läßt ihn Bilder des Alltages, die vorher seiner Aufmerksamkeit entschwunden waren, als Ruhepol und Gegenstand reflektierender Erbauung erfahren: «Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündigt. Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Albernheit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden.» (Hofmannsthal, zit. nach Wunberg, 1981, S. 438)

Die eidola, einmal als solche in ihrer Bedeutung für das Denken, Erkennen und Empfinden identifiziert, und der bewußte Versuch ihrer Ausschaltung, lassen Lord Chandos ohne ein vorab übernommenes kategoriales Raster alltägliche Bilder des Lebens und seiner Umwelt, die vorher nicht den Wert besaßen, den vorgeformten ästhetischen Zaun seiner Wahrnehmung zu durchbrechen, aufnehmen und genießen. War es in der präexistentiellen Phase seines Lebens noch sein Bestreben, sich selbst und seine Empfindungen in allen Dingen wahrzunehmen, scheint es nun so, daß, in der erfahrenen Individuation seiner Krise, der solipsistische Mittelpunkt des eigenen Ichs der Wahrnehmung als Filter nicht mehr vorhanden ist. Es drängt sich der Eindruck auf, daß auch der Anspruch, Empfindungen sofort hochstilisiert in Worte zu fassen und zu beschreiben, von Chandos fallen gelassen wird, da der einmal aufgekommene Zweifel an der Darstellungsfunktion der Sprache ihn zu der Gewißheit kommen läßt, daß es sich hier um unbenennbare Sachverhalte handelt.

Auch die vorherige Kritik und die harte Beurteilung seiner jugendlichen Pläne indes halten Chandos nicht davon ab, von seinem jetzigen Zustand mit dergleichen Leidenschaft und Berauschung zu sprechen, die er vormals abgelehnt hatte. Unser begeisterungsfähiger Chandos spricht in diesem Zusammenhang selbst von einem Zustand der Bezauberung, den er jedoch nach Nachlassen der Wirkung nicht in Worte zu kleiden vermag:

«[…] ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist – von woher? Denn was hätte es mit Mitleid zu tun, was mit begreiflicher menschlicher Gedankenverknüpfung, wenn ich an einem anderen Abend unter einem Nußbaum eine halbvolle Gießkanne finde, die ein Gärtnerbursche dort vergessen hat, und wenn mich diese Gießkanne und das Wasser in ihr, das vom Schatten des Baumes finster ist, und ein Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum anderen rudert, wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen.» (Hofmannsthal, zit. nach Wunberg, 1981, S. 440)

Der romantisch verklärte Chandos dieses dritten Abschnittes des Briefes beschreibt eine mystisch pantheistische Erfahrung von Wahrnehmung, die wiederum, diesmal allerdings schwärmerisch verbrämt, sein eigenes Ich als Mittelpunkt der Welt darstellt. Die im ersten Teil des Briefes abgelehnte Überschätzung des Ichs, die wie eine jugendliche Torheit, die es durch die Krise zu bestrafen galt, als überwunden dargestellt wird, kehrt in intendierter Geläutertheit und Weisheit hier wieder. Allzugern wird die anfangs als tragisch beschriebene Isolation als mystisch geheimnisvolle Abgrenzung gegen die Alltäglichkeit des Daseins interpretiert; allzuschnell betreibt Chandos einen Vergleich seiner Selbst und seines Handelns mit dem ehemals mißverstandenen Crassus und dessen Empfindungen für eine zahme Muräne.

So, wie er sich mit einem Helden des römischen Altertums und Protagonisten der Rhetorik in einer verschworenen Gemeinschaft glaubt, so glaubt er auch, in Sir Francis Bacon einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben, der ihm würdig genug erscheint, sein Geheimnis zu teilen.

Die Kontrastierung der als schmerzlich und isolierend empfundenen gegenwärtigen philosophischen Erkenntnisse über die Unzulänglichkeit der Sprache, wie sie sich im Mittelteil des Briefes als die Krise des Lord Chandos wiederfinden, mit der als wohltuend geschilderten unverfälschten Wahrnehmung echter Gefühle, provoziert beim Rezipienten die Unterstellung einer sehnsüchtigen Bekehrung des Autors zu der Gedankenwelt des siebzehnten Jahrhunderts und zu der Figur des Sir Francis Bacon. Die Besinnung auf alte Werte, das Refokussieren auf die menschlichen Unzulänglichkeiten beim Beurteilen und Erfassen der Welt, droht hier allerdings aus der scharfsinnigen Analyse eines Francis Bacon in einen mystischen Glauben der Spiritualität auszuarten, wie er im Spätwerk Hofmannsthals beispielsweise im Prinzip der höheren Notwendigkeit wiederzufinden ist.

In diesem Zusammenhang scheint das eigentliche Anliegen des Lord Chandos, entgegen anderen üblichen Interpretationen dieses Prosastückes, in dem ersten und im dem letzten Teil des Briefes verborgen zu liegen: Geplant ist vor wie nach der Krise die erfüllungsbringende Konstruktion von Sprachmaterial des Dichters, das berauschende Schwelgen in wortmagisch-syntaktischen Konstellationen, als Tribut an die omnipotent erhoffte bildtransportierende Darstellungskraft der Sprache.

Der Erkenntnisdrang des Lord Chandos scheint sich, ablesbar an der beschriebenen Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit, von einem abstrahierend-deduktiven Weg erwünschter geistiger Erfüllung hin zu einem induktiv-sensualistischen zu wenden. Allein, das einsichtige Zweifeln an dem Sagbaren der Dinge und der baren Erkenntnisfähigkeit droht bei Chandos zu Gunsten einer gefühlstaumeligen Romantik auf der Strecke zu bleiben. Wie beneidenswert!


Literaturhinweis

Wunberg, Gotthart (1981) Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Philipp Reclam jun.



Erstellt: 29. Juni 2001 – letzte Überarbeitung: 29. Juni 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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