BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kunst des Verstehens (3): Wurzeln»
von Lisa Blausonne
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Simon Whitechapel & Stefan Bärnwald haben in ihrem skurrilen ‹Literarischen Duell/Duett› eine mich sehr beeindruckende Szene erfunden, in der - nach meinem Verständnis, und es geht ja hier um die Kunst des ‹Verstehens› - ein Mensch zu einem Baum wird, der Wurzeln schlägt, und dies just in dem Moment, in dem sich eine Wissenschaftlerin aufschwingt, gottgleich sein zu wollen.

Meine erste Assoziation dazu war die Erinnerung an einen Text von Slavoj Žižek [1] Slavoj Žižek (2000): Das Selbst als das Andere des Subjekts. In: Ich ist etwas Anderes. Katalog zur Ausstellung, Düsseldorf: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Seite 73-79., in dem dieser Hegel zitiert: Eine Pflanze sei ein Tier, heißt es da, dessen Eingeweide sich, in Gestalt der in die Erde versenkten Wurzeln, außerhalb ihres Körpers befänden. Wenn eine Pflanze ein Tier ist, dessen Eingeweide sich außerhalb seiner selbst befinden, und wenn folglich ein Tier eine Pflanze ist, dessen Wurzeln sich innerhalb seiner selbst befinden, dann sei der Mensch zwar in biologischer Hinsicht ein Tier, aber in geistiger eine Pflanze, die fester Wurzeln bedarf. Geistige Nahrung, die sich außerhalb seiner selbst befinde, beziehe der Mensch aus seinen Wurzeln. Žižek zweifelt damit den New Age-Traum an, den Menschen in ein wahrhaft geistiges Tier verwandeln zu können, das frei im geistigen Raum schwebt und keiner substantiellen Wurzeln außerhalb seiner selbst bedarf. Ja, für Žižek ist die Erfüllung dieses Traumes unmöglich.

Die Wissenschaftlerin in Whitechapel & Bärnwalds schönem Text - so ‹verstehe› ich es - wähnt sich also - wie eingangs erwähnt - gottgleich, sie möchte eine die Welt erschaffende und die Wurzeln in sich tragende Lichtgestalt sein. Die Wurzeln können als unsere ‹Wirklichkeitsgewohnheiten› gesehen werden, die verankert sind in unseren Traditionen, unserer Kultur und unseren Sagbarkeiten. Wir können nicht verleugnen, dass wir keine Welt ohne Wirklichkeitsgewohnheiten herstellen können, wir sind eben keine schwebenden ‹Tiere› oder ‹Götter›, die die Dinge so erkennen können, wie sie wirklich sind. In dem Moment aber, in dem wir das nicht reflektieren, feiern die Dämonen - im Text sind es die kleinen Zwerge - ihren Reigen und lachen über uns.

Die Wissenschaftlerin stirbt, sie wird nicht zu einem Gott oder einer Göttin, sondern sie verschwindet in dem Licht, das dem Menschen in seiner Baumwerdung noch begegnet. In dem Sinne ‹verstehe› ich die Geschichte als Entblößung, als Hinweis auf die Lächerlichkeit einer Gesellschaft, deren Teilnehmer sich dem Wahn hingeben, vermeintlich unabhängig voneinander einen Weg zu wählen - der dann auch noch als einzig richtiger interpretiert wird - ohne weitere in Betracht zu ziehen, und sich gar als Herrscher zu betrachten, die die Weltformel in sich tragen.

Was mir noch einfällt: Die beiden Geschichten, die zusammengehören und nur symbolisch getrennt werden, erreichen das gemeinsame Ende, indem sie nicht als geteilt angesehen werden, sondern als reflexive Teilung des Sagbaren und seiner jeweiligen Absenz. Vielleicht würde die Wissenschaftlerin in der Geschichte den Sieg (V) davon tragen und überleben, wenn sie reflektierte, dass ihre Art, eine Welt erschaffen zu wollen, nur eine Möglichkeit unter vielen darstellt, und daß diese eine von ihr gewählte Möglichkeit den Raum aller Möglichkeiten überhaupt nicht ausschöpft.



Erstellt: 4. Juli 2006 - letzte Überarbeitung: 10. Juli 2006
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