BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Konstruktivismus und der ‹gesunde› Menschenverstand»
von Albertine Devilder
Als PDF-Datei laden

Der ‹gesunde› Menschenverstand, gekennzeichnet durch einen überbordenden ‹naiven Realismus› und immerfort transportiert und festgeklopft von Wichtigkeitswichteln, Schmierlappenzeitungen und Schausendungen aller Art, hat uns in diesem ‹Skepsis-Reservat› schon oft beschäftigt und dazu bewegt, etliche Traktate zu verfassen. In diesem kleinen Text nun möchte ich einigen wesentlichen Unterschieden zwischen einem Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand und einem Menschen, der sich dem Konstruktivismus zugewandt hat, nachspüren.

Was bei einem Menschen mit einem ‹gesunden› Menschenverstand als allererstes auffällt, ist sein fragloses ‹In der Welt Sein›. Dieser Mensch läßt sich nicht irre machen. Doch dieses ‹In der Welt Sein› ist leider für außen Stehende mit einer ‹ratternden Konversationsmaschine› (Berger & Luckmann) verknüpft, der sie kaum je entgehen können. Der Mensch mit einem ‹gesunden› Menschenverstand spricht also, und er spricht viel, und als naiver Realist hält er das, was er an Meinungen und Urteilen über sich und die ihn umgebende Welt hervor bringt, für wirklich. Schlimmer noch: Er glaubt, daß das, was er über die Welt sagt, nicht nur etwas mit eben dieser Welt zu tun habe, sondern sich auch der Wahrheit nähere. Denn ‹naive› Realisten mit ihrem ‹gesunden› Menschenverstand ‹tragen ein ‹Sortiment von Wörtern mit sich herum›, welches wir, mit Richard Rorty [1] Richard Rorty (1992): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp., als das ‹abschließende Vokabular› einer Person bezeichnen können. Das Wort ‹abschließend› ist von Richard Rorty sehr gut gewählt, denn wir kennen alle Diskurs-Situationen, in denen ein naiver Realist, mit zwei bis drei Rückfragen an das Ende seines Menschenverstand-Lateins gedrängt, so hilflos an den Gittern seines engen Wortgefängnisses rüttelt, daß er uns dauert. Der naive Realist hat hier seine engeren (Wachstum, die Linke, Reform) und weiteren (‹Na gut, mit Sicherheit, ich sach jetzt mal) Begriffe, seine Platitüden und Gemeinplätze ausgepackt, voll Stolz und in der unverrückbarer Überzeugung, daß diese Begriffe auf die Welt zielten und auf etwas in ihr zu zeigen vermöchten – und dennoch spürt er, daß es nicht reicht. Doch weiter kann er mit seinem ‹abschließenden Vokabular› nicht kommen. Er kann nicht darüber hinaus steigen. Wenn wir in einem solchen Diskurs Glück haben, wird der ‹naive› Realist irgendwann – hochmütig auf seiner Bastion der in seiner sozialen Umgebung verbreiteten Begriffe sitzend – schweigen. Wenn wir Pech haben, werden wir erleben, wie ihm nur noch Gewalttätigkeit weiterhilft, seinen Weltzugang zu retten.

Wenn wir uns die Haltung des ‹naiven› Realisten mit seinem ‹gesunden› Menschenverstand genau betrachten, stellen wir – mit Richard Rorty – ironischerweise fest, daß der ‹naive› Realist im wesentlichen ein Metaphysiker ist. Ausgerechnet! Aber es stimmt: «Er (der Metaphysiker) setzt voraus, daß das Vorhandensein eines Begriffes in seinem eigenen abschließenden Vokabular die Sicherheit dafür bietet, daß er sich auf etwas bezieht, daß eine reale Essenz hat.» [2] Richard Rorty (1992), a.a.O., Seite 129.

Ich kann mich an köstliche Diskurse und Dialoge in den heiligen Hallen einer Universität erinnern, in denen durch und durch ‹naive› Realisten – mit ihrem arg eingeschränkten Vokabular der Tatsachen – eine Konstruktivistin davon zu überzeugen versuchten, eben sie sei eine Metaphysikerin. Dabei ist es genau umgekehrt. Ja, das ist schon sehr lustig. Zur Satire wird es, wenn naiv-realistische Wissenschaftler glauben, daß Wörter, die sie erfunden haben (sagen wir mal ‹Leistungsbereitschaft›, ‹Intelligenz›, ‹Teamfähigkeit›) eine essentielle, das Wort widerspiegelnde Entsprechung in dem Menschen an sich – denn es wird immer nur der Mensch an sich untersucht, nicht der Mensch als Insasse eines sozialen Raumes - haben müßten. Doch versuchen wir im weiteren eine andere Position des Weltzugangs zu beschreiben.

Eine Konstruktivistin unterscheidet sich von einem ‹naiven› Realisten mit seinem ‹gesunden› Menschenverstand in mehreren wesentlichen Punkten. Zunächst einmal ist sie eine radikal-skeptische Nominalistin. Sie ist zwar davon überzeugt, daß da draußen in der Welt allerlei ist, daß wir aber mit Hilfe von Wörtern nicht an die Essenz, an die eigentliche Natur dessen, was da draußen ist, herankommen. Sie zweifelt also an den Wörtern, die so leichtfertig in den verschiedenen sozialen Räumen herumgereicht werden. Das, was ‹naive› Realisten Wissenschaft nennen, also die ‹Entdeckung› von Fakten, bezeichnet sie amüsiert als Sprachspiel oder gar als die ‹Erfindung› von Fakten – und fühlt sich dabei von Wittgenstein sacht umarmt. Sie kann sich auch gar keinen Menschen an sich vorstellen, sondern immer nur das, was eine Kultur aus einem Menschen macht.

Eine Konstruktivistin würde niemals von der Wahrheit sprechen. Sie ist davon überzeugt, daß es, je nach Zeit und sozialem Raum, mehrere Wahrheiten gibt. Damit sind wir bei einem dritten wesentlichen Punkt, dem Historismus. Eine Konstruktivistin vermutet, daß Wahrheiten sich über die Zeit hinweg je unterschiedlich entwickeln, und daß Wahrheiten immer in Kulturen, also in Räumen, in denen Menschen zusammen leben, eingebettet sind. Eine Konstruktivistin vermutet, daß eine Sozialisation in verschiedenen sozialen Räumen zu ganz unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Sprachräumen führen kann, die oft nicht kommensurabel sind.

Die Konsequenz für eine Konstruktivistin aus all diesem ist die Einsicht, zufällig in ein bestimmtes ‹abschließendes Vokabular› hineingeboren worden zu sein, und deswegen immer vor der Frage zu stehen, ob ihr augenblickliches Vokabular ihr wenigstens einigermaßen durch das Leben hilft. Denn daß sie vermutet, ihr Vokabular habe einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit da draußen, ist ganz ausgeschlossen. So zweifelt sie an ihrem Vokabular, fragt sich ständig, inwieweit es geeignet sei, auf ihre eigene Welt zu zeigen, und interessiert sich sehr für andere Vokabulare. Sie hält sich an Fritz Mauthner: «Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten; darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich. Es ist möglich, den Stimmungsgehalt der Worte festzuhalten; darum ist eine Kunst durch Sprache möglich, eine Wortkunst, die Poesie.» [3] Fritz Mauthner (1906): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Band I: Zur Sprache und zur Psychologie. Stuttgart und Berlin: J.G. Cotta‘sche Buchhandlung Nachfolger. 2. Aufl. Seite 97.

Deswegen liest sie besonders gerne Romane, die von anderen Zeiten und anderen Kulturen handeln, und lyrische Schwelgereien, um einen Geschmack für andere, alternative Vokabulare zu bekommen. Kurz: Eine Konstruktivistin lebt immer im Zweifel, und damit pflegt sie genau das, was der ‹gesunde› Menschenverstand nicht erträgt.

Aber wenn es mal eng wird im Leben, hat die freche Konstruktivistin gegenüber dem ‹naiven› Realisten einen großen Vorteil. Während jener unbeirrt an seinem ‹abschließenden Vokabular› festhalten muß, auch wenn die Welt um ihn herum zusammen kracht, kann diese ihr Gewordensein zu jeder Zeit neu beschreiben und so neu ausdrücken, daß sie aus dem sie einengenden historisierenden Vokabular herausspringen und damit ihre Welt zusammen halten kann, nur eben auf eine andere Weise. Oder anders: Der ‹naive› Realist ist dazu verdammt, wirkungslos und rettungslos an den Gitterstäben seines allzu engen Sprachgefängnisses zu rütteln, während sich die Konstruktivistin, mit oft überraschend positiven Konsequenzen, ein anderes Sprachgefängnis aussucht – bis sie sich dazu gezwungen sieht, auch dieses zu verlassen. In der jeweiligen Zwischenzeit hält sie sich an Michel de Montaigne und sagt sich: «Unsere Meinungen von den Dingen quälen uns, nicht die Dinge selbst.» Denn: «Wären aber die Dinge wirklich das, für was wir sie halten, so müßten alle Menschen sie gleich empfinden.»



Erstellt: 24. September 2008 – letzte Überarbeitung: 24. September 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.