«Freiheit ist immer ein Risiko.»
(Artus P. Feldmann)
Einführung
Wie sehen und hören es jeden Tag: ‹Angehörige› sozialer Gruppen, sozialer Räume und sozialer Systeme grenzen sich von den Angehörigen anderer sozialer Gruppen und Systeme ab.
[1] In der untersten Stufe der Abgrenzung fragen ein paar Jugendliche in Berlin einen älteren Mann, ob er Jude sei, um ihn dann zu verprügeln. Eine nächste Stufe könnten die Haß- und Spottgesänge von ‹Fußballfans› oder die unsäglichen Beleidigungen, Beschimpfungen oder Verleumdungen des sog. ‹politischen Gegners› durch etablierte ‹Politiker› sein. Nach ‹oben› ist der Zahl der Möglichkeiten keine Grenze gesetzt. Das ist Alltag. Unser sozial überdefinierter Alltag. Aber gerade deswegen schauen wir uns in diesem kleinen Essay mal näher an, was hier eigentlich passiert und welche Konsequenzen das hat.
Beginnen müssen wir mit dem Schlüsselbegriff ‹Autopoiese›, den wir in unserem
Arbeitspapier Nr. 7 ausführlich erläutert haben.
Autopoiese
In der postmodernen Literatur ist der Begriff der ‹Autopoiese› viel tausendfach kommentiert worden. Und natürlich haben nur wenige ihn verstanden. Deswegen jetzt mal ganz genau:
- Autopoiese ist das Gegenteil von Allopoiese. Denn jene ist ein Erzeugungsprozeß, in dem etwas von sich selbst verschiedenes produziert wird. Maschinen funktionieren allopoietisch. Autopoiese hingegen benennt die Organisation eines (lebenden) Systems, welches sich immer wieder selbst erzeugt und aufrecht erhält. Ein solches System ist bezüglich seiner autopoietischen Organisation unveränderlich. Die Strukturen des Systems sind allerdings veränderbar. Und: Die einzige Aufgabe eines Systems ist die Selbsterhaltung.
Mit der Autopoiese werden im allgemeinen drei Prozesse, Zustände oder Vorgänge in Verbindung gebracht:
- Zum einen spricht man hier von ‹Selbstreferentialität›. Dies soll bedeuten, daß ein autopoietisch organisiertes (lebendes) System sich nur auf sich selbst und seine eigenen Zustände und Strukturen berufen kann. Und über bestehende Strukturen des Systems hinaus kann nichts wahrgenommen werden.
- Um diese Selbstreferentialität erklären zu können, wird zum anderen von einer ‹operativen (oder operationalen) Geschlossenheit› des Systems gesprochen. Dies soll bedeuten, daß – etwa beim lebenden System Mensch – das Gehirn nur eigene Zustandsveränderungen wahrnehmen kann. Ein Reiz von außen kann nur eine Störung, eine Perturbation initiieren, mehr nicht. Eine Perturbation ist also kein von außen eindringendes Ereignis, sondern etwas, das vom System wahrgenommen wird. Wie es wahrgenommen wird und was dann geschieht, entscheidet das System.
- Der dritte Prozess, der im Zusammenhang mit autopoietisch organisierten Systemen eine große Rolle spielt, ist die sogenannte ‹strukturelle Kopplung›. Damit ist gemeint, daß Systeme sich ihre Außenkontakte selbst aussuchen. Sie neigen zu den Ereignissen, Zuständen oder ‹Informationen› ihrer ‹Umwelt›, für die sie im Rahmen ihrer sozialen Räume (nicht nur kognitive) Strukturen entwickelt haben.
Für den weiteren Verlauf unserer Argumentation ist es bedeutend, zu verstehen, daß autopoietische Systeme aufgrund ihrer operationalen Geschlossenheit und Selbstreferentialität für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz keinerlei Informationen benötigen, die nicht in der einen oder anderen Form in ihnen selbst angelegt wären. Diesen Satz, lieber Leser und liebe Leserin, sollte Sie vielleicht noch einmal lesen.
Zur epistemischen Geschlossenheit sozialer Systeme
Wenn wir nun einige wesentliche Überlegungen zur Autopoiese von (lebenden) Systemen auf soziale Systeme – oder soziale Räume, als die wir sie so gerne bezeichnen – übertragen, stehen wir verblüfft vor dem, was soziale Systeme eigentlich ausmacht und was wir ohne die Hilfe systemtheoretischer Überlegungen nie recht verstanden hätten: Dieses Eigenleben, diese Abschottung, diese Diffamierung Andersdenkender aus anderen Systemen oder Räumen. Jetzt haben wir endlich Begriffe bei der Hand, die uns weiter helfen. Und mehr können Begriffe eh nicht leisten.
Ein soziales System erscheint uns als Konstruktivistinnen also als ein System, welches die Aufgabe hat, sich immer wieder selbst zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. Klar, nach außen hin kann sich das soziale System (als Familie, Firma, Ethnie, politische Partei, Weltanschauungs- oder Wohltätigkeitsverein) auch auf andere Aufgaben berufen, doch die eigentliche Aufgabe ist, das System zu erhalten. Dabei hilft ganz unbedingt, daß ein autopoietisch organisiertes soziales System sich nur auf sich selbst und seine eigenen Zustände und Strukturen berufen kann. Und über bestehende Strukturen des Systems hinaus kann nichts wahrgenommen oder gesagt werden. Und ‹Fakten› und ‹Tatsachen› helfen da überhaupt nicht weiter.
Genau dies erleben wir tagtäglich. Schauen wir nur auf zwei Beispiele:
- Konfrontieren wir den Systeminsassen einer konservativen Partei mit Begriffen wie Klimawandel oder Armut, kann derselbe damit überhaupt nichts anfangen. Er wird die Tatsächlichkeit, den Wirklichkeitsbezug dieser Begriffe verneinen, denn in seinem sozialen System spielen sie keine Rolle. Ja, sein soziales System wird durch diese Begriffe nicht einmal perturbiert. Und die Tageszeitung, die seine politische ‹Agenda› unterstützt, wird regelmäßig Beiträge liefern, in denen erklärt wird, daß es weder Armut noch eine von Menschen gemachte Klimaveränderung gebe.
- Konfrontieren wir einen Angehörigen des sozialen Systems der Apple-Hasser mit einer völlig beliebigen ‹Information› über Wohl oder Wehe der Firma Apple, muß er sogleich hundertfach in allen möglichen Internet-Foren seiner Abscheu über diese Firma Ausdruck verleihen. Das ist sehr lustig, insbesondere, weil in diesem sozialen System immer wieder und stereotyp ‹Fakten› und ‹Tatsachen› behauptet werden, die unsinnig sind. [2] Bis heute hält sich bei den Hassern die Überzeugung, daß die ‹Maus› bei Apple-Computern nur eine linke Taste habe. Oder daß man in das Programm iTunes keine eigenen CDs oder mp3-Dateien importieren könne. Etc. etc. etc.
Die epistemische Geschlossenheit (epistemic closure) sozialer Systeme erzeugt von der Außenwelt gleichsam abgeschlossene Informations- und Glaubenssysteme. Da kommt nichts rein. Und es gibt keine Chance, von außen mit Hilfe von ‹Informationen›, ‹Fakten› oder ‹Tatsachen› in ein solches System einzudringen. Denn es gibt keine instruktive Interaktion. Und, ganz ehrlich, was sind schon Fakten? Jedes soziale System hat seine eigenen Fakten. Das zeigt sich nicht nur in allen großen Prozessen vor Gericht, sondern auch in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, in denen es um den Nutzen von Pharmaka oder Operationen etc. etc. geht.
Sagen wir es noch einmal: Jedes soziale System hat seine eigenen Fakten! Wer das versteht, versteht endlich dieses endlose ‹Nicht-zueinander-finden-können›, dieses ‹Sich-nicht strukturell-koppeln-können› in Diskursen, Diskussionen und Auseinandersetzungen aller Art. Die Strukturen der sozialen Systeme haben eben keine Passung. Und ein echter Angehöriger eines sozialen Raumes kann und darf sich nicht um eine Passung, eine Kopplung bemühen.
Albertine Devilder schreibt in den
‹Skizzen zu einer sozial-konstruktivistischen Psychologie›:
«
Vor allem können wir mit Hilfe der Begriffe Selbstreferentialität, informationelle Geschlossenheit und Selbsterhaltung ziemlich präzise den mundanen Konservatismus sozialer Systeme beschreiben! Der zeigt sich erstaunlich oft und erstaunlich vehement darin, daß soziale Systeme dazu neigen, sich selbst zu erhalten, sich selbst aufrechtzuerhalten, sich einzubunkern, koste es was es wolle. Das beginnt schon mit den Initiationsritualen, den Mutproben und Aufnahmeprüfungen für neue Bewerber. In das System werden nur Neulinge aufgenommen, von denen vorher ganz sicher feststeht, daß sie das System nicht gefährden werden.
Die Struktur eines sozialen Systems wird dann als nächstes dadurch aufrechterhalten, daß alle Systemteilnehmerinnen gleichsam versprechen müssen, die systemspezifischen Sprachfiguren und Kodes ununterbrochen mit ernstem oder lächelndem Gesicht (je nachdem) aufzusagen und niemals über die wenigen sprachlich definierten Prämissen des Systems nachzudenken oder diese gar zu kritisieren. Das scheint das allerwichtigste zu sein. Das führt natürlich dazu, daß das soziale System erstaunlich häufig nur mit sich selbst, nur mit der Aufrechterhaltung seiner selbst beschäftigt ist. Und um sich aufrechterhalten zu können, muß insbesondere die informationelle Geschlossenheit des Systems gepflegt werden, da darf nichts hineindringen, was Unruhe schaffen könnte. Ein Arsenal sozialer Kontrollen wacht darüber, daß die Systemteilnehmer den historisch gewachsenen und den gemeinsam hergestellten Wirklichkeitsbereich nicht verlassen.
Geschieht dies aber doch einmal, wird beispielsweise öffentlich, d.h. außerhalb des Systems, in einem anderen System, Kritik geäußert, ist man ein ‹Nestbeschmutzer›, der aus dem Nest gestoßen werden muß, um das Nest sauber zu halten. Die erste Reaktion auf öffentliche Systemkritik ist fast immer wie folgt: ‹Dies hätte man doch innerhalb der Familie (der Partei, des Vereins) in aller Ruhe besprechen können! Das mußte doch nicht nach außen dringen!› Der Witz ist aber, und das haben Sie, lieber Leser und liebe Leserin, längst verstanden, daß die Kritik eben nicht innerhalb des Systems geäußert werden konnte!»
Das Lustige ist nun, daß soziale Systeme bei Problemen irgendwelcher Art von ihren Systeminsassen immer eine Geschlossenheit einfordern, ein ‹Zusammenrücken› oder einen ‹Schulterschluß›, und von ihren Sprechern eine
automatisierte Exkulpationserklärung. Da die Sprecher der üblichen sozialen Systeme keine Ahnung von Selbstreferentialität oder informationeller Geschlossenheit haben, wissen sie gar nicht, wie komisch das klingt, wenn sie das Wort ‹Geschlossenheit› im Munde führen. Und selbstredend, gleichsam naturbedingt, müssen die ‹schwarzen Schafe› aus dem System verbannt werden. Denn sie könnten andere ‹Schafe› infizieren. Und ein Ende des Systems, oder gar nur die Gefahr eines Endes, ist für das System unvorstellbar.
Fazit
Artus P. Feldmann sagt in
einem seiner Vorträge dies:
«
Wir leben in, von und mit kommunalen Mythen und transportieren diese während unseres Lebens ständig weiter. Wirklichkeitsgrammatiken zu haben heißt, kommunale Mythen zu leben, heißt in unserer Kultur, in Sprachfiguren Sinn zu sehen. Und, jetzt kommt es: der Sinn ist vorher da! Der Sinn liegt fest, bevor wir schauen und dann sehen, bevor wir lauschen und dann hören, bevor wir probieren und dann schmecken! Das ist es! Friedrich Hölderlin, sagte das in der letzten Fassung des «Patmos», etwa so um 1803, kurz bevor er wahnsinnig wurde und die letzten 36 Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung, also vermutlich in der Wahrheit und im Licht lebte: «Schauen, müssen wir mit Schlüssen, der Erfindung, vorher!» Und Otto Weininger, der viel geschmähte, der nur 23 Jahre alt geworden ist, hat es im Jahre 1900 so gesagt: «Wir erwehren uns der Welt durch unsere Begriffe!» Und Oswald Wiener, der vielgerühmte, hat es im Jahre 1969 so gesagt: «Populationen leben den Stil der Zitate, derer sie mächtig sind!» Alle drei Aphorismen sind so unglaublich präzise.»
Wobei der von uns sehr geschätzte Oswald Wiener mit seinem Aphorismus die ‹epistemic closure› sozialer Räume wohl am besten beschreibt. Weil er eben nicht nur sagt, daß die Besiedler sozialer Räume permanent die Zitate aufsagen, die in ihrem Raum angesagt sind und aufgesagt werden müssen (man denke hier wieder nur an eine politische Partei), sondern daß die Besiedler diese Zitate leben. Und nicht einmal das, sondern sie leben nur den ‹Stil› der Zitate, derer sie in ihrem sozialen Raum mächtig sind. Das ist eine unglaublich treffende Aussage. Kürzer und besser kann man es nicht sagen. Chapeau!
Kommen wir zum Schluß. Die schlichte und schmale Lehre des ‹Sozialen Konstruktivismus› besteht in der Behauptung, daß wir alle, je nach sozialen Raum, Herkunft und erlernten Überzeugungen, in der zweifellos existierenden Welt je Unterschiedliches sehen - und verstehen. Es geht also nie darum, was ‹wirklich› geschieht oder geschehen ist, sondern immer nur darum, wie darüber gesprochen wird. Das ist alles. Und der ‹Soziale Konstruktivismus› ist derzeit die einzige Lehre, die die epistemische Geschlossenheit sozialer Systeme (und eben auch die ausweglose Geschlossenheit
empirizistischer Wissenschaftsversuche) anschaulich erklären kann. Ob das der Grund ist, warum der ‹Soziale Konstruktivismus› derzeit an den (Exzellenz-)‹Universitäten› diffamiert wird?
Und noch etwas, schließlich müssen wir das oben genannte Motto doch einsammeln! Nun, wir empfehlen allen Insassen sozialer Räume gelegentlich den Kopf aus ihrem so wohl definierten sozialen Sinn-Gefängnis heraus zu strecken, um sich der ‹Luft der Freiheit›
[3] Wir sollten das festhalten: Im Siegel der ‹Leland Stanford Junior University› in den USA steht: ‹Die Luft der Freiheit weht›. Dem wohnt eine große Verpflichtung inne. Können wir uns ein solches Motto an einer deutschen ‹Exzellenz-Universität› vorstellen?, also den vielfältigen Sinn- und Glaubenseinrichtungen anderer sozialer Räume auszusetzen. Das kann in einer der wenigen Sternstunden, die uns in unserem Leben beschieden sind, dazu führen, daß wir tatsächlich so frei werden, unsere so unvollkommenen und einseitig an unserem sozialen Raum ausgerichteten Strukturen zu hinterfragen. Aber Obacht: Freiheit ist immer ein Risiko!
Erstellt: 02. September 2012 – letzte Überarbeitung: 03. September 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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Dr. Artus P. Feldmann.