BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wissenschaft: Dagegen. Dafür. Wohin?» [1] Thesen zu einem Diskussionsabend der Gruppe Lorem Ipsum, Zürich, 10.10.2002.
von Christian Hennig
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Dagegen

Das grundlegende Konzept von der «Objektivität» funktioniert grundsätzlich nicht.

Wissenschaft ist blind dafür, dass sie die Realität herstellt, die sie doch bloß zu erforschen glaubt.

Wissenschaft verdrängt ihre Abhängigkeit von Interessen, Geldgebern, Befindlichkeiten, Machtkämpfen, kommunikativen Riten etc.

Wissenschaft schafft neue Hierarchien. Und Expertokratie ist undemokratisch.

Die Wissenschaft verkauft ihre Inhalte im Stil religiöser Dogmen.

Wissenschaft lernen heißt nicht denken, sondern sich anpassen lernen.

Unter der Flagge des «Pragmatismus» verkommt Wissenschaft zur Technokratie. Dabei werden Kritikfähigkeit, Bedächtigkeit und Gründlichkeit diffamiert.

Wissenschaft ist blind für die Grenzen der Rationalität. Emotionen und Querdenkereien wird die Bedeutung abgesprochen.

Der universalistische Anspruch der Wissenschaft ist nicht nur verfehlt, sondern auch gefährlich.



Dafür

In der Wissenschaft wird nichts einfach so hingenommen; es darf immer argumentiert, überprüft, geändert und nachgefragt werden.

Die Frage «warum» verdient in der Wissenschaft immer eine Antwort.

Wissenschaft beruht auf Einigkeit in sozialen Räumen. Damit führt sie Menschen zueinander und ist kulturell ungeheuer machtvoll.

Wissenschaft ist ein riesiges Lager von Gedanken und Ideen und birgt ein unerschöpfliches Potenzial für kreative Menschen.

Wissenschaft fordert jeden religiösen oder politischen Absolutismus zur Argumentation heraus.

Die Wissenschaft hat das Potential, sich in ihren Schwächen selbst ad absurdum zu führen und sich aus sich selbst heraus zu ändern.

Systematisches Denken ist ein Genuss.

Ein paar Erzeugnisse der Wissenschaft möchten wir nicht missen.



Wohin?

Der Mythos von der wissenschaftlichen Objektivität - und einhergehend damit die Eitelkeit und Machtversessenheit der WissenschaftlerInnen - verursacht eine anhaltende Tendenz der Wissenschaft, sich aus der Menschlichkeit in eine Art «Über-Menschlichkeit» zu verabschieden. Doch «über-menschlich», über den Menschen stehend, kann die Wissenschaft nicht durch eigene Kraft und Einsicht werden, sondern nur durch die Ignoranz ihrer Voraussetzungen und Wirkungen.

«Kulturell machtvolle Einigkeit» innerhalb wissenschaftlicher sozialer Systeme und der Mythos von der «Objektivität» sind so nahe verwandt, dass die Wissenschaft dies niemals wird auseinander dividieren können.

Eine positive Utopie von einer Wissenschaft der Zukunft könnte beinhalten, dass so viele - sich verantwortlich fühlende - WissenschaftlerInnen wie möglich dem «mainstream» in den jeweiligen Fächern bewusst sind und ständig entgegen steuern. Das bedeutet: Die mangelnde Objektivität und die Angreifbarkeit aller wissenschaftlichen «Resultate» zu betonen, statt sie zu verschleiern.

Die Wissenschaft sollte in ihrer Lehre und den damit verbundenen Prüfungen nicht auf reproduzierbarem Wissen bestehen, sondern das Denken lehren - und prüfen. Ohne Anregungen zum Denken und ohne Freiräume geht das nicht.

Die wissenschaftliche Lehre sollte befreit werden von der Tyrannei des «richtig-falsch».

Die Wissenschaft sollte ganz ausdrücklich offen legen, wie wissenschaftliche Befunde von den Menschen abhängen, die sie machen.

Die Wissenschaft sollte ganz ausdrücklich die möglichen Folgen von Forschung - und der Art, wie sie kommuniziert wird - thematisieren.

Die Wissenschaft sollte die Vielfalt von Ansichten und Ansätzen anerkennen, ohne sich von dem «Traumziel» einer Einigkeit in wissenschaftlichen Fragen zu verabschieden.

Die Wissenschaft könnte sich mehr an der Kunst orientieren, die der Wissenschaft viel voraus hat.

Das sinnvolle Gegenkonzept zu Objektivität ist nicht Willkür, sondern Verantwortung. Wissenschaft kann sich zum freien Denken sowohl sehr konstruktiv als auch sehr destruktiv verhalten.



Kommentare:


16. September

Lieber Christian,

Deine Auflistung der Probleme des derzeitigen Wissenschaftsbetriebes hat mir auf Anhieb gefallen. Ich hätte noch einige Bemerkungen dazu auf Lager, aber ich möchte hier nur einen Punkt ergänzen, der sowohl «dagegen» spricht, der sich aber - bei leicht geänderter Formulierung - in den Rubriken «Dafür» und «Wohin» ebenfalls gut machen würde. Was ich meine, ist dies:

Die derzeitigen «empirischen» Lebens-Wissenschaften (also Medizin, Psychologie, Soziologie und ähnliches) sind «Wissenschaften der guten Nachrichten». Dies bedeutet, daß - nach meinen vorsichtigen Schätzungen - etwa 2/3 bis 3/4 aller gezielten und auf ein bestimmtes Ergebnis schielenden «empirischen» Untersuchungen zu keinem erwünschten «Ergebnis» führen und deswegen - verschwiegen werden. Sei es , daß der Auftraggeber (etwa ein Pharmaunternehmen) nicht möchte, daß ein «empirisches» Scheitern bekannt wird, sei es, daß die Forschenden meinen, mit dem Nicht-Befund sei wissenschaftsintern kein Lorbeer zu ernten: Wir hören einfach nichts davon. Die einschlägigen Fachzeitschriften und Wissenschaftsseiten in der Groß-Presse sind ausschließlich gefüllt mit «erfolgreich» durchgeführten und äußerst befundhaltigen Studien. Klar, ab und zu gibt es mal einen Paradigmenwechsel, und daß, was vorher unabdingbar war, wird nun als überflüssig oder gar gefährlich eingeschätzt. Und ebenso klar, über die Qualität all dieser Untersuchungen brauchen wir jetzt nicht zu reden. Worum es mir geht, ist, daß es nicht nur für die community der Forschenden, sondern gerade auch für Laien sehr interessant und wichtig wäre, zu wissen, welche Hypothesen sich nicht «empirisch bestätigen» ließen - und aus welchen Gründen nicht. Und daß das veröffentlicht wird.

Und das Wissen um all die Untersuchungen, die zu keinem «erwünschten» Befund führten, würde es nahe legen, die tatsächlich publizierten «Befunde» und ihre Wirklichkeitswirksamkeit ‹angemessen› zu relativieren.

Grüße von

Britta

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Liebe Britta,

«Wissenschaften der guten Nachrichten» - ein guter Punkt! Ich glaube, dass diese Beschreibung nicht nur für die von dir genannten Wissenschaften gilt, sondern dass z.B. auch in Chemie oder Mathematik ein großer Druck herrscht, nur Erfolge zu melden.

Ich würde etwas anders schätzen als du; meine Erfahrung ist, dass die WissenschaftlerInnen mit allen Mitteln versuchen, zu solchen «Erfolgen» zu kommen, und daher die Ergebnisse ihrer Studien eher nicht verschwiegen, sondern mit dem äußerst flexiblen Arsenal der Methodenlehre so hingebogen werden, dass sie eben ‹erfolgreich› aussehen.

In der Konsequenz bin ich aber wieder einig mit dir. Wenn gescheiterte Studien publizierbar wären, könnten die WissenschaftlerInnen viel unvoreingenommener an ihr Studienobjekt herangehen, und müssten sich nicht so anstrengen, dass wirklich genau herauskommt, was sie wollen. Dann gäbe es vielleicht ein paar Überraschungen mehr in der Welt, und der Fortschritt würde etwas verlangsamt. Und das halte ich für eine sympathische Vision.

Deine ‹weiteren Bemerkungen› würden mich auch interessieren.

Beste Grüsse,
Christian

PS: Als Konstruktivist sollte ich denken, dass Unvoreingenommenheit ohnehin unmöglich ist und die WissenschaftlerInnen zu ihren Vorurteilen offen stehen sollten anstatt neutral zu tun. Trotzdem gefällt mir als Wissenschaftler eine Haltung der «Neutralität» zumindest insofern, als dass ich dem Thema meiner Untersuchung die Chance geben will, mich zu überraschen. Wie dem auch sei, die Frage «Sollte eine WissenschaftlerIn sich um Neutralität bemühen? Warum?» hat für mich immer noch den Status eines spannenden Puzzles für KonstruktivistInnen. Anmerkungen erwünscht.



Erstellt: 10. September 2003 – letzte Überarbeitung: 22. September 2003
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