BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ethik - Ein fiktiver Dialog»
von nele
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W und O sitzen in einer Ecke eines gemütlichen, kaum besuchten Cafés R, in dem sie sich seit unbekannter Zeit wohl jeden zweiten Sonntag treffen, um ein wenig über das Alltägliche hinaus zu sprechen und zu denken. Die meisten dieser Dialoge beginnen, nach einem alltäglichen Begrüßungsritual, auffälligerweise wie folgt:

W: Hast Du schon mal über ... nachgedacht?
O: Ich brauch' erst mal was für meine grauen Zellen. (Er winkt T heran) Bringst Du mir bitte einen, ähm ...
T: ... gleich wieder 'ne ganze Flasche?
O: Ja, würde Sinn machen.
W: Ist Dir schon mal aufgefallen, daß die Anfänge unserer Treffen immer gleich verlaufen? (zu T) Einen Kaffee bitte!
O: Nö.

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W: Also, lass uns heute endlich mal über Ethik sprechen.
O: Ethik? Wieso Ethik?
W: Weil mir aufgefallen ist, daß die meisten unserer Dialoge auf ethische Fragen hinauslaufen.
O: Ich habe da neulich etwas über Konstruktivismus und Ethik gelesen, das war im Internet. Die Seite hieß, äh...
W: ... mag sein, aber wer beschäftigt sich schon mit Konstruktivismus? Es scheint doch eine Menge Vorstellungen davon zu geben, was ethisch oder Ethik ist. Abgesehen davon wird Dir der Name der Seite gleich wieder einfallen, da kommt schon Dein Bordeaux ...
O: (bedankt sich bei T, die ihm einschenkt, und nimmt gleich den ersten Schluck) Hm, dazu müssten wir zunächst natürlich einmal schauen, welches ethische Vokabular im öffentlichen Diskurs verwendet wird.
W: Zumindest scheinen wir nicht abgeneigt zu sein, stets und ständig moralische Wertungen vorzunehmen: gut, böse, verwerflich, machthungrig, verantwortungslos, gerecht, ungerecht, glaubwürdig, liebevoll, mutig, bewundernswert, rücksichtslos, gemein, geizig, neidisch, faul, träge, hilfsbereit, vernünftig, ethisch, amoralisch, spießig, besonnen, bescheiden, elitär, faschistoid, terroristisch ...
O: ... und nicht zu vergessen auch das Vokabular, welches eigentlich zur Beschreibung von Gegenständen, Ereignissen und Situationen benutzt wird: flexibel, mobil, toll, geil, cool, interessant, ätzend, abstoßend, ekelerregend, abartig, etc. Jedenfalls können wir alle diese Begriffe in die Kategorien ‹positiv› oder ‹negativ› einteilen.
W: Aber sind das auch moralische Begriffe?
O: Zumindest werden Menschen damit beschrieben und kategorisiert.
W: Aber diese Begriffe sagen doch gar nichts aus!
O: Ok, aber wie sieht es denn mit Deinen Vorschlägen aus?
W: Diese Begriffe dienen doch der Bewertung von Handeln und Sprechen. Trotzdem würde ich meinen, daß sie eine bestimmte Ethik implizieren. Wenn ich etwas als verantwortungslos bezeichne, dann stelle ich gleichzeitig die Forderung, etwas anders zu machen, was eben verantwortlich ist.
O: Das ist mir zu allgemein. Ethik findet ja zwischen den Menschen statt. Das Handeln und Sprechen von jemandem zu bewerten, kann doch nichts mit Ethik zu tun haben. Man bräuchte einen Bewertungsmaßstab. Und sind Bewertungen von Personen nicht selbst schon wieder unethisch? Wer gibt einem denn das Recht, jemanden anders zu bewerten?
W: Warte mal. Ich glaube zu wissen, was Du meinst. Ethisch sprechen und über Ethik sprechen sind natürlich zwei verschiedene Dinge. Also müssen wir hier scharf unterscheiden, wenn das denn geht... Und ich verstehe Deinen Einwand. Trotzdem finden diese Bewertungen doch statt. Schau nur mal in die Schulen und Universitäten!
O: Dort wird doch aber kein Handeln nach seiner ethischen Dimension bewertet.
W: Aber es wird bewertet und Schüler und Studenten lernen eigentlich die ganzen Jahre über, daß sie bewertet werden... Also, ich denke, wir haben uns gleich zu Beginn ganz schön verfahren. Natürlich kann man einen Menschen bewerten, aber das kann man auf vielerlei Art und Weise tun. Wenn ich über jemanden eine positive Aussage treffe, dann bedeutet das noch lange nicht, daß dieser Mensch moralisch gut ist. Mich erinnert das einfach zu sehr an die Beschreibung von Sachen. Jemand kommt zu mir und fragt mich, ob ich schon mal diesen oder jenen Film gesehen habe, und daß der ganz toll sei. Ich frage ihn dann, warum er den Film ganz toll finde. Und er zählt dann ein paar Dinge auf, die auf zig andere Filme auch zutreffen, jedoch nicht auf mein Verständnis, was ein guter Film sei. Also, ich glaube, daß es so etwas wie ethische Handlungen gar nicht gibt, und schon gar nicht glaube ich an moralische Menschen! Was soll das denn sein? Einen Menschen kann man nicht nach ethischen Kriterien bewerten wie einen CD-Player oder ein Kunstwerk nach ihrer Qualität. Das erscheint mir menschenunwürdig ...
O: ... wir wollten ja auch über Ethik sprechen und nicht darüber, wann ein Mensch moralisch ist und wann nicht. Wir haben uns allerdings noch nicht darüber geeinigt, auf welche Weise wir über Ethik sprechen wollen. Wir können uns zum Beispiel fragen, wie in einer Gesellschaft über Ethik gesprochen wird, statt dessen haben wir nur einige Bewertungsvokabeln genannt, die verwendet werden, um Menschen und deren Handeln wertzuschätzen oder herabzuwürdigen. Aber das unterliegt ja einer großen Beliebigkeit und modischen Erscheinungen. Ethik sollte doch mehr so was Universelles sein und sich um die Frage kümmern: Wie soll ein Mensch in dieser und jener Situation handeln?
W: An dieser Stelle frage ich mich, ob Ethik ein System von Imperativen ist und sein kann. Wer legt fest, was ethisch ist, was verantwortlich ist? Ist das eine Institution, ist das die Universität, wo man gelehrt bekommt, wann eine Handlung ethisch ist und wann nicht?
O: Tja, da sind wir wohl bei einem alten Problem gelandet: Sollte jeder für sich selbst entscheiden, was für ihn ethisch ist oder sollte es verbindliche Normen für alle geben, wie es eben auch Gesetze und Regeln gibt?
W: Und schon wieder ist da dieses Sollen ... Ich glaube, das bringt uns nicht weiter. Ich finde, dieses Sollen ergibt keinen Sinn. Unsere Gesellschaft braucht doch eigentlich gar kein Sollen. O: Schau mal, ein Mensch wird in ein soziales System mit all seinen Normen und Werten hinein geboren, er muss sich gar nicht mehr die Frage stellen, was ethisch ist und was nicht. Er bekommt von den Menschen alles gelehrt, was er für ethisches Verhalten zu halten hat, ganz selbstverständlich. Er tut so lange das Richtige, wie es nicht sanktioniert wird.
W: Na, dann brauchen wir nicht mehr weiter zu reden. Ist etwa alles ethisch, was nicht sanktioniert wird? Ist alles ethisch, was legal ist?
O: Was mir eben sehr wichtig erscheint, ist die verbale Unterlegung des Handelns. Fast der gesamte Alltag scheint aus Gewohnheiten zu bestehen. Die Menschen tun das, was sie schon immer getan haben und daher reagieren die meisten dann auch verstört, wenn man sie nach den Gründen fragt oder gar erst nach der Ethik! Sie sehen sich dann schnell gedrängt, ihr Tun und Lassen zu legitimieren... Und die allerwenigsten werden nachdenklich.
W: Ach, das nervt mich gewaltig. Die Menschen tun was und dann denken sie sich Gründe aus, warum sie das getan haben. Wozu sprechen wir dann noch darüber?
O: Du wolltest doch über Ethik sprechen! (nimmt einen großen Schluck und zündet sich eine Zigarette an, W sieht ihn skeptisch an) Und übrigens heißt Ethik ursprünglich ja auch Gewohnheit, Brauch, Sitte.
W: Aber welche Gewohnheiten sind denn nun ethisch vertretbar?
O: Das kann ich Dir nicht beantworten. Ich halte es aber für unumgänglich, sich mit ethischen Fragen zu beschäftigen. Das einzige Sollen, das es geben kann, ist dieses: Beschäftige Dich mit der ethischen Dimension Deines eigenen Handelns, denn das der anderen wirst Du möglicherweise nicht ändern können.
W: Im Grunde geht es Dir gar nicht um ein ethisch richtiges oder falsches Handeln, sondern um das Nachdenken, das Reflektieren der eigenen Gewohnheiten?
O: So könnte man das sagen, ja, es geht mir um das Nachdenken oder auch um das Vordenken, je nachdem. Ethik fängt beim Denken an.
W: Und beim Sprechen. Du sprachst gerade von der verbalen Unterlegung der Handlungen. Mir scheint aber, daß die Kategorisierung der Wertungen sukzessive untergraben wird, durch die Medien, durch den öffentlichen politischen und wirtschaftlichen Diskurs. Auch damit werden Entscheidungen legitimiert, die meist einer kleinen Minderheit oder angeblich der Wirtschaft nützen. Irgendwie lösen sich dabei die bisherigen Konnotationen auf. Geiz steht jetzt weit oben auf der Liste! Damit reden und denken Menschen positiv über Sachverhalte, die nun alles andere als ethisch vertretbar sind, die Biografien ruinieren, die dem Leben schaden - ob es sich nun um Tiere oder um Menschen handelt.
O: Stimmt, Geiz ist keine schlechte Sache mehr. Das ist traurig und faszinierend zugleich, wie sich die Leute hinreißen lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß in einem anderen gesellschaftlichen Gefüge ein Unternehmen mit einer solchen Kampagne pleite gegangen wäre. Und ich werde den Verdacht nicht los, daß damit den Leuten suggeriert werden soll, daß auch sie Kapitalisten sein dürfen, und sie fallen natürlich darauf 'rein, sie lassen sich täuschen durch das verdrehte Satzgewimmel in den Medien... Die Begriffe bekommen alle andere Bedeutungen, das ist das Problem...
W: Das leuchtet mir ein. Der Begriff der Verantwortung hat zum Beispiel eine sehr ambivalente Konjunktur in Wirtschaft und Politik. In der kapitalistischen Ökonomie wird er gerne benutzt, um eigennützige Interessenansprüche durchzusetzen und zu rechtfertigen, und um Verantwortung abzugeben! Denk mal an die sprachliche Unterlegung der 'Entlassungswellen': «Wir müssen entlassen, weil wir die Verantwortung für das Unternehmen tragen...», «Es ist in diesem Fall unverantwortlich nicht zu entlassen, denn es geht darum, all die anderen Arbeitsplätze zu retten.»
O: Außerdem wird ja mit dem Begriff der Verantwortung auch Tierquälerei gerechtfertigt: Die Existenz der bäuerischen Unternehmer wird damit gegen die Grausamkeit der Massentierhaltung ins Feld geführt. Moral muss sich rechnen und für Tiere haben wir nur was übrig, wenn es nichts kostet. Und vergessen wir nicht: In der so genannten Forschung sind Tierexperimente noch immer erlaubt.
W: Das Sprechen über Ethik dient also überwiegend einer Legitimierung des Bestehenden. Das ist auch wunderbar zu beobachten bei politischen Debatten. Wenn der Staat finanziell nicht mehr weiter weiß, dann wird an die Verantwortung der Bürger appelliert. Das hat dann so einen Beigeschmack von: Wir wollen den Bürger doch zu einem mündigen, freien Menschen erziehen! Wenn es jedoch um Volksentscheide geht, dann wird anders gesprochen: Bei Volksentscheiden haben wir es mit Konsequenzen zu tun, die fast jeden betreffen könnten. Der treue Bürger soll aber nur lernen, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Und da sind Volksentscheide wirklich unverantwortlich!
O: Und kannst du dich noch ans Kanzlerduell 2005 erinnern? Da appellierte unser ehemaliger Kanzler an die Verantwortung der Mineralölkonzerne, die Benzinpreise nicht zu radikal anzuheben, damit der deutsche Bürger sich auch weiterhin über sein Lieblingsspielzeug und Statussymbol freuen kann, ohne für diese wohlverdiente Freude zu tief in die Tasche greifen zu müssen.
W (fährt täglich Auto): Jetzt wirst Du aber komisch, das hat er so nicht gesagt ...
O (fährt nicht Auto, hat noch nicht einmal eine Fahrerlaubnis) ... natürlich nicht, die Begründung ist von mir erfunden. Die Frage ist nun, welche Verantwortung er meint. Du vermutest sicherlich, wo es hingehen soll: Hier wird ein Dilemma konstruiert: Job und Wirtschaft oder Umwelt? Das heißt für viele: Existenz oder Umweltschutz? Realist oder Öko? Meines Erachtens versucht man mit solchen Dilemmata sämtliche oben genannte Begriffsbedeutungen ad absurdum zu führen. Die Herren des Wörterbuches tun momentan alles dafür, daß sich diese Bedeutungen relativieren und dem großen gemeinsamen Ziel des sogenannten Wirtschaftswachstums dienen. Ethik wird damit zum Spielball der Macht, der herrschenden Klasse. Außerdem lässt sich beobachten, daß Begriffe permanent entleert werden: «Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit.» Bis jetzt konnte mir keiner so recht erklären, was das bedeuten könnte, aber immerhin hört es sich gut an.
W (abfällig): «Herren des Wörterbuches» - Wo hast Du das denn her?
O (tut so, als ob er das nicht gehört hätte): Wie aber äußern sich Menschen dieses Landes über Ethik? Die wenigsten Menschen setzen sich ja explizit mit diesem Thema auseinander. Meist bekommt man zu hören:
«Ethik? Ich weiß gar nicht, was Du meinst.»
«Im Kapitalismus zählt doch eh nur das Geld.»
«Der Ehrliche ist immer der Dumme.»
«Was bringt es denn, darüber nachzudenken? Dadurch ändert sich die Welt auch nicht.»
«Hier muss sich jeder irgendwie durchkämpfen.»
«Uns hilft auch keiner.»
«Wenn man nicht rücksichtslos ist, sitzt man am Ende noch selbst auf der Straße.»
«Dafür müssen sich erst mal die gesellschaftlichen Bedingungen ändern.»
oder:
«Also, ich persönlich denke, das muss jeder für sich selbst entscheiden.» Immerhin verstehen die meisten Menschen, daß sich der Begriff der Ethik an etwas Soziales lehnt...
W: An den Universitäten hingegen werden moralische Dilemmata aller Art konstruiert, um sich dann entweder für eine universalethische Regelung oder für eine kulturrelativistische Variante zu entscheiden. Meistens wird dieser Diskurs vom Grundmodell eines Individuum-Gesellschaft- Gegensatzes, ganz à la Hobbes, geführt. Dieses überalterte Konzept lässt leider nicht viele Möglichkeiten zu: «Was soll ich nur tun? Mit allem, was ich unternehme, schränke ich ja schon die Freiheit des anderen ein!» Und der Umkehrschluss lautet demzufolge: «Mit allem, was andere tun, schränken sie meine Freiheit ein.» Es ist nicht schwer, dahinter unser momentan vorherrschendes Personenkonzept des besonderen und einzigartigen Ich, das sich gegen alle anderen Ichs behaupten muss, ausfindig zu machen. Damit bewegen sich akademische Ethikdiskurse der praktischen Philosophie parallel zum Alltagsdiskurs, der überwiegend durch systemtreue Medien gespeist wird.
O: Das hört sich aber sehr nach Sozialdarwinismus an. Klar, das strebt ja unsere derzeitige Politik offensichtlich auch an. Wie haben wir das nur früher im Osten gemacht mit diesem sozialen...
W: Jetzt werd' mal nicht nostalgisch. Ich sage Dir, wir könnten mal eine empirische Beweisstudie durchführen. Ich wette mit Dir, daß der überwiegende Teil unserer Gesellschaft sozialdarwinistisch denkt. Wirklich! Auch die Ostdeutschen! Aber wollten wir nicht über Ethik sprechen?
O: Lass mich mal kurz nachdenken. Das ist ja schon spannend. Wenn man anders denkt, dann handelt man ja auch anders. Aber offensichtlich sehen das die meisten Menschen nicht so.
W: Die meisten Menschen glauben, so wie es ist, so muss es sein und sie müssen sich da anpassen. Sie tun eben, was geschieht und reden, was sie hören. Damit reproduzieren sie diese Gesellschaft mit ihren ökonomisch ausgerichteten Werten stets und ständig, ohne es zu merken. Es gibt ja jede Menge Menschen, die sich darüber aufregen, wie Tiere misshandelt werden, daß die so genannte Kinderarmut auch in Deutschland größer wird - aber es passiert nichts, weil sie sich nicht als Teilhaber in einem System begreifen, welches diese Missstände bedingt und hervorruft. Sie beschweren sich über den Stau, ohne zu begreifen, daß sie selbst der Stau sind.

(Es folgt ein längeres Schweigen. O starrt nachdenklich an die gegenüberliegende Wand. W beobachtet ein das Café betretende Paar, das sich sogleich bei T nach einer rauchfreien Zone im Café erkundigt, während sich O genüsslich die nächste Zigarette anzündet.)

O: Also wir haben es mit drei Problemen zu tun, die sich voneinander ableiten: Einer realistischen Beschreibung, einem naturalistischen Fehlschluss und einem daraus abgeleiteten Sachzwang, aus dem man eine a-soziale und a-ökologische Lebensweise zu rechtfertigen versucht.
W: ... ?
O: Der Sozialdarwinismus ist doch eine Theorie und Theorien sind immer schon normativ und ethisch unterlegt. Normativ deshalb, weil sie uns vorgeben, wie wir die Welt erklären sollen. Ethisch deshalb, weil sich aus einer Erklärung ein Handlungsspielraum ergibt oder auch Verhaltensmöglichkeiten. Kannst Du mir folgen?
W: Nicht ganz, aber erzähl mal weiter.
O: Wie wir mittlerweile wissen, kann die kapitalistische Theorie ihr Versprechen «Wohlstand für alle» nicht aufrecht erhalten. Wir wissen aber auch, daß Systeme konservativ sind und einem gewissen Selbstlauf unterliegen. Dieser wird durch das Verhalten und die Macht von Gruppen aufrecht erhalten, welchen das System nützt und welche die Theorie für absolut erklären mittels realistischer Sichtweisen: Der Kapitalismus ist das beste aller Systeme und deshalb nehmen wir jegliche Opfer mitleidend und möglichst regulierend in Kauf. Das ist der Sachzwang: Wir haben keine Wahl, aber gemeinsam werden wir das schon schaffen. Diesen Sachzwang machen sich vor allem Unternehmer zunutze: «Unter diesen Umständen müssen wir unsere Produktion verlagern.» Das sozialdarwinistische Menschenbild, das dabei immer schon mitgedacht wird, reproduziert sich durch das ständige Aufsagen der gleichen Theorien immer wieder.
W: Ah ja, jetzt verstehe ich auch, was Konstruktivismus mit Ethik zu tun hat.
O: Vergiss den Konstruktivismus. Überlege lieber mal, was daraus für das Nachdenken über Ethik entsteht!
W: Na ja, wir haben so etwas wie ein Ist-System, dem sich jedes Nachdenken über Ethik realistischerweise unterordnen muss. Damit wird der Begriff der Ethik auf seine systemerhaltende Funktionalität reduziert: Ethisch ist demzufolge alles, was nicht als unethisch gilt. Da es hier aber sozusagen Sachzwänge gibt, können wir diese Sachzwänge nicht als unethisch erklären, da sie notwendig sind. Damit besitzt Ethik keinen absoluten Status mehr, sondern steht im Auftrag der Machtinteressen. Aber das hast Du ja schon gesagt.
O: Oder: Wir sehen, daß man sich offenbar nicht an ethische Grundsätze hält. Daraus entstehen Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Krieg, Armut, und so weiter. Wir können nun über eine universelle Ethik reflektieren, an die sich jeder halten sollte. Und wenn sich jeder daran hielte, würde sich alles zum Guten wenden. Das führt dann zu dieser endlosen Konsenssuche bei Habermas.
W: Aber Ethik ist doch immer Aushandlungssache, da sie sich sonst selbst ad absurdum führt. Ethik und Zwang vereinbaren sich nicht. Moralische Imperative können nur kontextabhängig von bestimmten Gemeinschaften formuliert werden. Zusätzlich verleiten gerade Prinzipien dazu, selbst nicht mehr differenziert nachdenken zu müssen. Im Nachhinein kann daraus kein Verantwortungsgefühl für das eigene Verhalten und Handeln entstehen, da die Verantwortung mit der Befolgung einer Vorschrift gleichgesetzt wird und demzufolge wieder ein Sachzwang proklamiert werden kann. Die Abweichung und Infragestellung von ethischen Regelungen in einer Gemeinschaft und Gesellschaft aber ist selbst ethische Reflektion.
O: Genau! Und aus der Theorie, daß Theorien die Praxis bestimmen, und der Beobachtung, daß kaum jemand Theorien kritisch reflektiert, nehmen wir die Theorie des Sozialdarwinismus als implizite Regelung an. Die Philosophie des Kapitalismus, eine gefährliche Mischung von Sozialdarwinismus und verzerrtem Adam Smith, ist für die meisten Menschen zu einer Prinzipien-Ethik geworden. Sie können sich gar nicht vorstellen, daß es auch noch etwas anderes geben könnte als Fortschritt durch Konkurrenz, als Individuum gegen Gesellschaft und umgekehrt, als Interessen gegen Interessen, als Ökonomie versus Ökologie, als Reiche und Arme, als Ungerechtigkeit.
W: Da kann man sich ja nur noch beklagen.
O: Deutschland wird nicht umsonst von einigen Zeitgenossen als Klagegesellschaft beschrieben. Die meisten Menschen beschweren sich aber nicht über das System und seine Werte, sondern darüber, daß es ihnen selbst so schlecht geht, weil immer nur das Kapital zählt. Wenn man Werte kritisiert, nachdem man sie aufgedeckt und explizit gemacht hat, wird man den Anspruch einer Umorientierung zunächst an sich selbst stellen müssen. Findet das statt? Nein. Zumindest macht man bei sich selbst meist eine Ausnahme. Davon lebt das System! Die realistische Sichtweise eines Sozialdarwinismus hat eben Konsequenzen: Das daraus entwickelte Konkurrenzdenken als Fortschritt zu beschreiben, als menschlichen Antriebsmotor, als Natur. Deswegen müssen sich auch Bildungseinrichtungen der Realität unterwerfen.
W: Aber was hat das denn alles mit Ethik zu tun?
O: Es geht hier um die Vermischung von verschiedenen Kriterien. Das Subsidiaritätsprinzip wird hier gerne schon mal angeführt, um sich der kostspieligen Bildungsverantwortung zu entziehen. Das kann man gut und gerne auch als wirtschaftliche Kolonialisierung nichtökonomischer Bereiche bezeichnen. Und diese Ökonomisierung macht vor keinem Bereich Halt, auch nicht vor Kultur und lang erkämpften Werten. Natürlich versucht man diesen naturalistischen Fehlschluss in der Politik nicht ganz hinzunehmen. Der Staat muss sich also auch um das Wohl derer kümmern, die durch den Lauf der Natur ausgesondert werden, die Schwachen, Kinder, Behinderten, Alten, Arbeitslosen, Verrückten, Faulen. All diejenigen, die für das System nicht verwertbar sind, die weder Leistung bringen noch als Konsumenten tauglich sind. Ist das nicht human?
W: Jetzt wirst Du aber zynisch. Weißt Du, was mich nach Deinen Ausführungen beunruhigt? Das Sprechen über Ethik folgt schon impliziten Theorien derjenigen, die über Ethik sprechen. Ist doch klar, daß Sozialdarwinisten anders über Ethik sprechen als, ja, sagen wir mal Konstruktivisten.
O: Ich denke, die meisten Menschen wissen nicht, daß sie sich zum einen innerhalb eines Menschenbildes bewegen und sich zum anderen auch für ein anderes entscheiden könnten. Das ist traurig. Immerhin besteht ein Großteil der doch so oft angepriesenen individuellen Freiheit im Denken der vielen Möglichkeiten, die denkbar sind.
W: Dann lenkst Du Ethik in den Bereich des Subjekts. Vorhin stellten wir noch fest, daß Ethik etwas zwischen Menschen ist.
O: Ich glaube nicht an eine subjektive Ethik. Da erfindet jemand für sich ethische Prinzipien? Ich meine, daß die Entscheidung für oder gegen eine Ethik der vielen Möglichkeiten und Aushandlungen bei jedem selbst liegt. Doch die Menschen entscheiden sich immer nur für Preise und nicht für Denkweisen.
W: Dabei kosten die doch nichts.
O: Stimmt. Außer ein bisschen Geduld.
W: Und Selbstbeobachtung.
O: Und Zeit zum Lesen.
W: Und Zeit für offene Gespräche.
O: Und Toleranz.
W: Und Nachdenken.

...

O: Ganz schön viel eigentlich, findest Du nicht?
W: Nö.

(Schweigen.)







Erstellt: 4. April 2006 - letzte Überarbeitung: 4. April 2006
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