BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (10): Der Bildungsbegriff des bayrischen Kultusministeriums oder: Palmström für Fortgeschrittene.» von Tom B.
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«Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.»

(Christian Morgenstern:
Die unerhörte Tatsache)

Einführung

Spätestens seit den Länderstudien zu PISA (Programme for International Student Assessment) 2000 bis 2006 wissen wir, daß Bayern die letzte Bastion ‹guter› Bildung ist. So sieht es jedenfalls das weiß-blaue Kultusministerium, und sicherlich läßt sich über das Lehrpersonal sagen, daß es im statistischen Durchschnitt durchaus gut geschult und motiviert ist. Glauben Sie mir, liebe Leserin und lieber Leser, ich nehme Stichproben, die bisher ganz erfreulich sind. Doch gibt es ein paar interessante Unterschiede zwischen den Ansichten des Personals und den Herren des Wörterbuches, die da entscheiden, wie wir ‹Bildung› zu sehen haben. Im folgenden will ich Ihnen, liebe Leserschaft, aufzeigen, wie man in Bayern, in dieser Außenstelle Gottes, über Bildung denkt – und meinen kritischen Senf dazugeben. Als letztes möchte ich noch hinzufügen, daß ich mich zwar mit dem bayrischen Bildungssystem auseinandersetze, aber diese Ideen sich auch im Rest Deutschlands in abgeänderter und abgeschwächter Form finden lassen.


Selektion und Leistungswut

Beginnen wir mit den Grundlagen bayrischen Bildungsdenkens, und damit auch den Grundlagen des Bildungssystems. Die soziale Institution Bildungssystem hat folgende Aufgaben: Qualifikation und Wissensvermittlung, Selektion sowie Sozialisation und Enkulturation. Allgemeinhin werden die beiden zuerst genannten Aufgaben als primär angesehen, während die meisten Menschen nicht einmal wissen, daß es die letztere gibt, und soziale Selektion als Ziel in der Gesellschaft moralisch eher negativ besetzt ist oder zumindest sein sollte.

Doch das bayrische Kultusministerium legt seinen Schwerpunkt auf Selektion und verkauft dies schon seit Ewigkeiten als Qualitätsmerkmal, weil ja unser dreigliedriges Bildungssystem jeden Schüler seinem Leistungsniveau entsprechend fördere. Deswegen wurden als Reaktion auf das "Gewinnen" der PISA Ländervergleiche neue Jahrgangsstufentests und Selektionsverfahren in der Grundschule eingeführt, um Kinder möglichst früh und möglichst endgültig zurückweisen zu können. Dieselben PISA-Studien, in denen Bayern so glorreich abschneidet, weisen übrigens auch nach, daß im deutschen Bildungssystem vehement nach sozialem Status selektiert wird und nicht nach ‹Leistung›. Ansonsten ist es kaum möglich, zu erklären, daß 61% der Gymnasiasten zum oberen Bereich der sozialen Statusgruppen gehören. Hätten wir hier eine Selektion nach Leistung, die das Lehrpersonal mit den gegebenen Instrumenten weder leisten kann noch ideologisch aufgefordert wird, diese zu leisten, dann wäre hier eine grobe Gleichverteilung in den sozialen Merkmalen der Schüler zu erwarten.

Interessanterweise ist ‹Leistung› aber auch ein Thema, das man gerade als Gymnasiallehrer immer wieder serviert bekommt. Derzeit, hauptsächlich im Rahmen des sogenannten G8, des achtjährigen Gymnasiums, ist es beliebt, von ‹Überforderung› der Schüler zu reden. Nachdem die elfte Klasse aus Kostengründen in einer Blitzaktion gestrichen wurde, zeigt sich immer mehr, daß der bayrische Anspruch sich in einem nun definitiv überfüllten Lehrplan und damit in einem verpflichtendem Nachmittagsunterricht niederschlägt. Zum Vergleich sei hier gesagt, daß Länder, die seit langem achtjährige Gymnasien besitzen, ihren Schülern weitaus weniger Nachmittagsunterricht zumuten. Allerdings wurde hier auch der sogenannte ‹Stoff› nicht in einen bereits übervollen Stundenplan gequetscht, sondern pragmatisch auf die acht Jahre verteilt. Doch da man in Bayern ‹Leistung› fordert, nimmt man Kindern im Alter zwischen 10 und 16 Jahren zwei Nachmittage die Woche. Die Sportvereine und Musikschulen Bayerns sind übrigens begeistert darüber, daß die Schüler nun in weniger Zeit mehr leisten müssen. Schließlich leben wir in einer Leistungsgesellschaft, wer braucht da schon Musiker, Künstler oder sogar Sportler?

Das bayrische Kultusministerium vertritt eine ganz schlichte Ideologie der Selektion, die nicht nur ironischerweise den Modellen der internationalen ''Sieger'' besagter PISA-Schulstudien und den Weisheiten der wissenschaftlichen Pädagogik entgegensteht, sondern auch einen eklatanten Mißstand unserer Bildungssysteme als positiv und wünschenswert hinstellt. Dazu kommt noch eine Vorstellung, daß man das hohe bayrische Leistungsniveau, immerhin sind sie die besten im schlechten Deutschland, unbedingt halten müsse. Doch das ist nicht alles, die vorher erwähnte Selektion muß ja erst durch sogenannte Leistungserhebungen produziert werden und hier erleben wir einen bürokratischen Mechanismus, der den Normalbürger doch sehr erstaunen läßt.


Noten und Leistungsverteilung

Eine der ersten Informationen, die man als junger Lehrer erhält, ist, daß Schulaufgaben (bayrische Bezeichnungen für die größten Leistungstests im Schuljahr) mit einem Durchschnitt von unter 2,0 oder über 4,0 beim Schuldirektor vorgelegt und gerechtfertigt werden müssen. Bei über 4,0 ist sicherlich auch das Interesse der Schüler im Spiel, aber was bringt die Regelung mit unter 2,0?

Nun, wie oben erwähnt, verteilt sich die schulische Leistungsfähigkeit (was immer dies auch sein mag) auf die Bevölkerung unterschiedlich, es gibt sehr wenige sehr gute und sehr schlechte Schüler und viele durchschnittliche Schüler. Nun ist die Notenskala allerdings maximal ordinalskaliert und ihre Mitte liegt nicht bei der zu erwartenden 3, sondern eher bei der 4. Daraus ergibt sich, daß Schüler mit einer 3 oder 4 oder einer guten 5 (diese ist ja unverhältnismäßig größer als die 3 und die 4) den Leistungsdurchschnitt darstellen. In der Rhetorik der Bildungsexperten wird hier auch davon geredet, diesen Durchschnitt zu verschieben. Doch dies ist eigentlich nicht erlaubt. Denn, wie wir gleich sehen werden, haben die Bildungsbehörden dasselbe Problem wie Herr Palmström aus dem Eingangszitat.

Es wird nun allüberall angenommen, daß ‹Leistung› in der Bevölkerung normalverteilt sei. Was dem Lehrpersonal nun Ungemach beschert, wenn die Durchschnitte der Noten (das arithmetische Mittel ist übrigens bei dieser Ordinal-Skalierung weder zulässig noch aussagekräftig) zu hoch sind, ist die umgekehrte Annahme, daß sich diese Normalverteilung der ‹Leistung› auch in jeder einzelnen Klasse von 30 Schülern, in jedem einzelnen Test widerspiegeln muß, denn sonst stimmt ja die Statistik nicht, auch wenn jedem Testtheoretiker bei solchen Anwandlungen die Angstblässe ins Gesichts steigt. Wenn also ein Lehrer einen zu guten oder zu schlechten Durchschnitt produziert, sprich, mehr als die Hälfte der Schüler haben weniger als die Hälfte "richtige" Antworten, dann muß es an seinem Notenproduktionsverfahren liegen. Wenn ich hier von Produktion rede, dann meine ich dies tatsächlich in der Idee der Schöpfung, ähnlich wie in der Industrie, denn mit diesen Regularien kann von Leistungs''messung'', die ähnlich wie viele empirische Verfahren eine rationalistische Illusion ist, keine Rede sein.

Also bekommt der Lehrer Ärger, wenn die Realität seiner Notenerhebung sich nicht den Wünschen der offiziellen Vorgaben beugt. Spannend ist hier übrigens, daß die Idee, daß Schüler tatsächlich einmal ausnehmend gut in einem Test sein könnten, eher ignoriert wird, da es als viel wahrscheinlicher angenommen wird, der Lehrer habe bei der Produktion der ‹richtigen› Durchschnitte einen Fehler gemacht. Bei einer Leistungserhebung, die keinen standardisierten Kriterien gehorchen muß, ist dies auch sehr leicht nachzuweisen. Somit ist das System sicher, die Sündenböcke ausgemacht – bei schlechten Ergebnissen sind es übrigens eher die Schüler – und alle sind glücklich. Daß dieses Verfahren wohl eher als Realitätsproduktion respektive als Märchengenerierung gesehen werden kann, stört dabei weder Bevölkerung noch politische Eliten.


Schluß

Deren Ziel ist jedenfalls in Bayern klar: Der unbedingte Erhalt des status quo, der dem Land so gute [sic?] Ergebnisse in internationalen Vergleichen beschert hat. Ob dies aber am System liegt, oder daran, daß hier das Lehrpersonal am besten gegen das System kämpfen konnte, ist eine Frage, die offen bleibt. Was der klugen Leserin und dem geneigten Leser jedoch Bauchschmerzen machen sollte, ist die typisch bayrische Kombination aus gelogener Leistungserhebung und sozialer Selektion, die hier mit stolzgeschwellter Brust praktiziert wird und die die Verfestigung sozialer Unterschiede verstärkt. Das soll wohl so sein. Aber eine Kritik am Bildungsvorbild Bayern kann man in Bayern nicht äußern, denn dort weiß man, wie man ‹Bildung› richtig macht: In dem man dafür sorgt, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.



Erstellt: 19. August 2008 – letzte Überarbeitung: 21. August 2008
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