BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (11):
Sequenzen (1)» von Sophia Kristina K.
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«Da, wo ich herkomme, verneigen wir uns immer,
wenn jemand eine witzige Frage stellt [...]
Und je tiefsinniger die Frage ist, um so tiefer verneigen wir uns [...]
Wer sich verneigt, beugt sich. Du darfst dich nie einer Antwort beugen.»
«Warum nicht?»
«Eine Antwort ist immer ein Stück des Weges, der hinter dir liegt.
Nur eine Frage kann uns weiter führen.»
(Jostein Gaarder)

Mit meinen Schülern der 9. Klasse besuche ich das Werk eines Autoherstellers.
Auf dem Rückweg frage ich einen Schüler, ob er sich vorstellen könne, dort zu arbeiten.
«Nee. Ich stehe auf Züge. Ich will zur Bahn.»
«Weißt du denn, wo die ICEs gebaut werden?»
«Nein, das weiß ich nicht. Wissen Sie es?»
«Nein.»
«Wieso fragen Sie mich dann?»


Mit meiner Kollegin bereite ich Fragen für die Prüfungsgespräche mit den Schülern vor. Eine der Fragen bezieht sich auf einen Zeitungsausschnitt über den Aralsee. Ein Arzt berichtet, dass bei einer bestimmten Windrichtung das Risiko, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, beinahe 100% beträgt. Die Fragestellung lautet: Wie würdest du das erklären?
Besagter Kollegin gebe ich die Aufgaben «zum Gegenzeichnen».
«Die Aufgaben sind interessant, aber die Fragen sind falsch. Da muss stehen: Was ist die Ursache?»


Die Schüler sollen sich selbstständig ein Themengebiet erarbeiten.
«Was willst du wissen? Formuliere doch mal zwei, drei Fragen.»
Nach einer Weile kommt ein Schüler zu mir und zeigt mir seine Fragen:
Wie viele Menschen kamen im zweiten Weltkrieg um?
Von wann bis wann ging der zweite Weltkrieg?
Welche Waffen wurden eingesetzt?
«Geht das so? Auf die ersten beiden Fragen weiß ich nämlich die Antwort schon. Und bei der dritten schaue ich im Internet nach.»


Eine Schülerin, der ich ebenfalls den Rat gebe, ein paar Fragen zu formulieren, meint besorgt:
«Aber wenn ich Fragen formuliere, dann heißt das doch, dass ich es nicht weiß.»


Ein Schüler hält ein kurzes Referat über den zweiten Weltkrieg. Er hat sich intensiv vorbereitet. Am Ende fragt er:
«Gibt es Fragen?»
Ein Schüler meldet sich:
«Du hast gesagt, dass die Atombombe auf Hiroshima abgeworfen wurde. Kannst Du mir mal sagen, wer die Atombombe erfunden hat?»
Schweigen.
Ich wende mich an den Fragesteller:
«Weißt du es?»
«Ja.»
«Warum fragst du dann?»


«Frau K., im Internet steht, dass der Panama-Kanal 81,3 km lang ist. Aber im Lexikon steht, dass er 81,7 km lang ist. Was ist denn nun richtig?»


«Wie weit bist du mit deinem Plakat?»
«Eigentlich wollte ich es bis heute fertig haben, aber ich weiß nicht, was für Fragen mir noch einfallen. Ich muss erst mal lesen und nachdenken.»


Hannes ist schwierig. Hannes soll in die Psychiatrie. Mit Hannes stimmt etwas nicht.
Hannes stellt interessante Fragen. Er ist hilfsbereit. Er kann gut organisieren.
Hannes möchte nur eines: Aufrichtigkeit.
Irgendwann organisiert er das Talentefest.
Irgendwann entscheidet er sich, mir zu vertrauen.
Irgendwann baut er sich vor mir auf:
«Frau K., mögen Sie mich eigentlich?»
«Ja, Hannes, ich mag dich.»
...
Hannes wird versetzt, und er muss nicht in die Psychiatrie.
Irgendwann baut er sich vor mir auf:
«Sie wollen also, dass ich Sie weiterhin nerve?»
«Ja, Hannes, ich geb' dich nicht her.»


Vor einiger Zeit begann ich, bestimmten Schülern kleine Briefchen zu schreiben. Sie enthalten freundliche Botschaften für das Wochenende und über Dinge, die gut gelungen sind. Ich bemerke, dass die Briefchen etwas besonderes für die Schüler sind und schreibe über das Schuljahr verteilt mehrere Briefe an jeden Schüler.
Nach den Ferien steht Dave mit den gesammelten Briefen vor mir. Sie sehen zerlesen und abgegriffen aus.
«Das sind alle Briefe, die Sie mir geschrieben haben. Wenn Sie die lesen, dann sehen Sie, wie sehr ich mich verändert habe.»



Erstellt: 29. August 2008 – letzte Überarbeitung: 1. September 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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