BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (13):
Über Molche, Lurche und Lügen» von Tom B.
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«Die Behandlung der Menschen als Molche und Lurche führt dazu,
daß sie sich wie Molche und Lurche verhalten.»
(Theodor W. Adorno)

Lieber Leser, liebe Leserin, folgen sie mir doch einmal in eine meiner Klassen aus dem letzten Schuljahr, denn hinter die Türen von Klassenzimmern zu schauen macht großen Spaß! Heute steht ‹Grammatik› auf dem Programm, da die ersten Aufsätze im Englischen in dieser Klasse das Prädikat grausam verdienten. Was mache ich also? Genau: Ich wiederhole ca. ein Jahr nach dem offiziellen Abschluß des grammatikalischen Unterrichts die komplette Grammatik. Nachdem ich mit dieser Klasse aber mittlerweile in der sogenannten ‹Oberstufe› angekommen bin, benutze ich ein Grammatikbuch, das nicht sonderlich lügt, und fange mit einem Konzept an, das den meisten Englischlernern vorenthalten wird, weil es angeblich zu komplex sei, wobei es allerdings in der Sprachwissenschaft durchaus etabliert ist.

Nun, und was passiert nach der Vorstellung dieses neuen Systems? Ich bekomme Ärger mit meinen Schülern, besonders mit den ‹leistungsstarken›. Denn gerade diese sind komplett davon überzeugt, daß das, was sie in den letzten fünf Jahren gelernt haben, so sein muß, und daß die Welt des Englischen nun von diesem Besserwisser (also von mir) auf den Kopf gestellt wird, der alles in Frage stellt, was den eigenen Pseudoerfolg gesichert hat. Nun, das zeigt sehr viel über die Psychologie unserer Schüler, und ich werde darauf zurückkommen, aber es gibt hier noch ein etwas spannenderes Phänomen. Denn die ‹schwächeren› Schüler stellen eine für mich interessantere Frage: «Wenn das, was sie uns da zeigen, doch viel einfacher ist, warum bekommen wir das nicht gleich gezeigt?»

Die Antwort auf diese Frage, die mir meist noch mehr Ärger beschert, fängt mit der lapidaren Feststellung an, daß die Welt, die wir wahrnehmen, hochkomplex ist. Nun sollte man ja meinen, daß es die Aufgabe einer Institution, die sich der Bildung von Menschen verschrieben hat, ist, ihn, den Menschen, dieses komplexe System besser verstehen zu lehren. Leider setzte sich jedoch in den modernen Didaktiken die Idee durch, daß der ‹Lernstoff› auf das Schülerniveau reduziert werden müsse. Das ist soweit nachvollziehbar und in etlichen Fällen auch sinnvoll. Meistens ist es aber besser, die Geschichte eines Wissensgebietes von vorne aufzurollen und es einfach folgerichtig, aber komplex, darzustellen. Rätsel können faszinieren!

Die Idee der didaktischen Reduktion hat sich mittlerweile selbständig gemacht und als ein pädagogisches Paradigma verfestigt, welches impliziert, daß Schüler eben nicht schlau genug seien, um ‹die Welt da draußen› zu verstehen. Ich weiß nicht, ob Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, das auch schon passiert ist, aber gerade der Scharfsinn von Kindern fasziniert mich immer wieder, und ich frage mich oft, wie man auf die Idee kommen kann, daß diesen wunderbaren Wesen etwas zu komplex sein könnte. ‹Kindheit› und insbesondere die ‹Jugend› sind ja sehr neue begriffliche Erfindungen in der Pädagogik, mit denen man anscheinend auch gleichzeitig eine Unmündigkeit in die beiden Gruppen hinein erfindet. Deswegen müssen wir alles, was wir den Kindern und Jugendlichen beibringen, reduzieren. Klar, wir sollen ‹Schüler da abholen, wo sie sind›.

Und wie reduziert man in der modernen Didaktik eine komplexe Welt? Grundsätzlich so, indem man die Schüler – die Komplexität der Welt betreffend – anlügt. Ist das Weglassen von ‹Informationen› teilweise sinnvoll, insbesondere dann, wenn der oben angesprochene Aufbau eines Wissensgebietes gewisse Gleichzeitigkeiten mit sich bringt, die man zuerst aufholen und getrennt besprechen muß, bevor man sie zusammenführt, wird es in der Breite, in der es veranstaltet wird, zur Großlüge. Meine Erfahrung aus dem Sprachunterricht im Englischen ist, daß alles, was den Schülern in einer Reduktion als absolute Wahrheit verkauft wird, denselben später wieder als Geist mit Rotstift erscheint, weil es eben doch keine absolute Wahrheit war und Sprachen sowieso diesen grausamen Hang haben, hochkomplex und komplett unlogisch zu sein. Dies ist nur eine kleine Wahrheit, sie bringt aber immense Probleme mit sich, wenn man sich anschaut, wie Schülern ein ‹Grammatikwissen› vermittelt wird.

Moderne Lehrwerke des Englischen haben nämlich den spannenden Hang, immer noch ganz einfache Grammatik-Regeln zu bevorzugen und sich dabei an allem auszurichten, was traditionell gut und richtig ist – aber nichts mit einer modernen Sprachwissenschaft zu tun hat. Als Beispiel können wir etwa die Zeitenfolge nennen, die den Schülern auch heute noch völlig ‹reduziert› nahe gebracht wird, weil es auf diese Weise anscheinend ‹einfacher› ist, oder besser, weil die Einführung eines Lehrkonzeptes jenseits der bekannten ‹Zeiten› verboten überkomplex wäre. Die Schüler sind halt mental noch nicht für sowas geeignet, jedenfalls nicht, wenn man die Didaktik fragt. Reduktion ist nötig! Schließlich sind Kinder dumm, obwohl sie doch bereits eine komplette Sprache – ganz ohne Regeln – gelernt haben.

Diese Einstellung hat verschiedene spannende Folgen. Die erste hiervon ist, daß dadurch, daß immer noch Wissen vor Verstehen geht, und die Schüler – um gute Noten zu bekommen – darauf konditioniert werden, dieses Wissen in den allfälligen Tests unreflektiert auszuspucken, die Grammatik zu einer Art Bibel wird. Es kann und darf nicht anders sein, und so ist Leistung in unserem Bildungssystem ein Ausdruck von Konformität.

Daran schließt sich auch die zweite Folge, daß eine Begegnung mit der komplexen Realität in vielen Fällen zu einem mentalen Crash führt, bei dem die Schüler mit ihrer eigenen reduzierten Weltwahrnehmung gegen die Komplexität dessen, was man so Realität nennen könnte, rennen und da oft zerschellen. Als Weltbewältigung hält man sich dann wahlweise an das althergebrachte Wissen, oder man versucht, ein Haar in der Suppe der neuen Erkenntnisse zu finden. Denn wenn einem vier Lehrer die Richtigkeit eines Weltzugangs bestätigen und dieser auch noch ‹im Buche› steht, dann muß er – insbesondere im nach Autoritäten lechzenden Freistaat Bayern – richtig und triftig sein. Er ist es aber meistens nicht.

Unsere Schüler wurden und werden leider wie eindimensionale und halbverblödete Molche und Lurche behandelt, und es muß sich wirklich überhaupt keiner darüber wundern, daß ‹hohe› Bildungsziele wie ‹eigenständiges Denken› und ‹geistige Flexibilität› bei keinem Abiturienten zu finden sind.

Wenn ich auf mein Eingangsbeispiel zurückkomme, dann sehen wir, daß ein offener und geduldiger Umgang mit der vollen Komplexität der Welt und ein Erfüllen des Berufes des Lehrers als der, der diese Welt von verschiedenen Blickwinkeln her deutbar macht, viel Leid für alle Beteiligten ersparen kann. Die Vorraussetzung hierfür ist allerdings die schlichte Annahme, daß Kinder und Jugendliche nicht dumm sind.



Kommentare


Lieber Tom,

eine Idee der so genannten didaktischen Reduktion besteht darin, dass der Schüler eben kein Gefäß ist. Das ist allgemein bekannt und wird auch in der gegenwärtigen Lehrerausbildung berücksichtigt. (Natürlich wird nicht berücksichtigt, dass auch Referendare keine Gefäße sind.)

Nun sprechen wir über Reduktion von Komplexität, auch wenn wir Luhmann nicht kennen. Dabei spielt es auch gar keine Rolle, wie komplex die Welt ist, die Theorie besagt, dass jeder Mensch diese Komplexität anders bewältigt. Selbst wenn Du Deinen Schülern die englische Grammatik von vorne bis hinten aufrollst, ist die Frage, was Du damit erreichen möchtest und dass keiner der Schüler dies dann auch in der Form „aufnimmt“ wie Du es lehrst (bzw. Deine Begeisterung). Die didaktische Reduktion ist nicht mit einer Reduktion der Schüler gleichzusetzen, sondern sie soll die Lebenswelt der Schüler berücksichtigen, die kognitiven Fähigkeiten etc. und natürlich nicht zu vergessen: die so genannten Lernziele!!!

Ich denke daher nicht, dass die didaktische Reduktion daraus resultiert, dass man – wer auch immer – die Schüler für dumm hält. Sie ist eine Lösung eines Systemproblems, und zwar des schulischen Fachunterrichts, der – weil ein solches Lernen einfach nicht natürlich ist – notwendigerweise an den Lebenswirklichkeiten der Schüler vorbeigeht und übrigens auch an den kognitiven Fähigkeiten der Schüler, wie Du schon bemerkt hast. Dafür hat man dann das Phänomen der Binnendifferenzierung und der didaktischen Reduktion erfunden. Und so treibt das traditionelle System seltsame Blüten, eigenartige Probleme und Problemlösungen hervor, weil die Befürworter und Macher des derzeitigen Systems nicht in der Lage sind, das Lernen in die Hand der Lernenden abzugeben, die Schulen zwar tolle Konzepte entwickeln, aber ohne konsequente Mitbestimmung der Schüler. Es ist alles nur gut gemeint.

In einer Klasse mit 30 Schülern und einer 45 Minuten-Stunde muss didaktisch reduziert werden, damit Du einfach „alle“ Schüler mit ins Boot nehmen kannst, und nicht einige Schüler wegen Überforderung abschalten, und das tun sie vor allem dann, wenn alles dargestellt wird. Sie sollen ja selbst erkunden, um zu Erkenntnissen zu kommen, und zwar zu ihren eigenen. Das hört sich zwar selbstverständlich an, aber in der Praxis bestehen so genannte Lernerfolge meistens im Wiedergeben des behandelten Stoffes. Und wenn Du den Schülern im derzeitigen Schulsystem die Eigenbearbeitung zutraust, dann dauert das eben – und daher ist eine didaktische Reduktion geboten, sonst wirst Du ein ganzes Jahr an der Grammatik verbringen und dann werden Dir womöglich andere Lehrer und Eltern den Weg weisen.

Grundsätzliche nachhaltige Neugier wird durch die Struktur eines solchen Systems natürlich schon verhindert. Das ist mir bewusst. Doch diese Reduktion ist eine Lösung passend zu unserem System. Aber Dir steht ja auch offen, vielleicht eine Englisch AG anzubieten.

Nur klar ist: Wir brauchen eine andere Schule.


Liebe Mitstreitergrüße von nele, die Deine Gedanken zur Pädagogik sehr mag



Erstellt: 21. März 2009 – letzte Überarbeitung: 25. März 2009
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