BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (14):
Sequenzen (2)» von Sophia Kristina K.
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«Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren
Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert.»
(Oscar Wilde)

Wir schreiben den zweiten Schultag des neuen Schuljahres. Seit heute morgen malern wir. Mittlerweile ist es fast 18 Uhr, schon seit Stunden entfernen wir die unerwünschten Kleckse. Ein Schüler, Joshua, schaut nach mir:
«Kann ich Ihnen helfen?»
«Mir ist nicht mehr zu helfen.»
«Wie meinen Sie denn das? Soll ich jetzt so handeln, wie ich meine Frage gestellt habe oder so, wie Sie mir geantwortet haben?»
«Wenn Du mir wirklich noch helfen willst, kannst Du die Leisten säubern.»
Joshua nimmt einen Lappen. Im Gehen dreht er sich um:
«Wenn ich noch der wäre, der ich mal war, dann würde ich jetzt gar nichts mehr machen.»
«Wenn Du noch der wärst, der Du mal warst, dann würden wir hier nicht zusammen malern.»
Joshua grinst:
«Vielleicht werde ich ja wieder der, der ich mal war.»
Schweigen.
«Das ist Deine Entscheidung.»
Stille.
Dann lächelt Joshua und schaut mich an:
«Ich will aber nicht der werden, der ich mal war.»



Ein Schüler, den schon alle aufgegeben haben, soll in eine andere Klasse versetzt werden. Die zukünftige Lehrerin kommt eines Tages auf ihn zu:
«Hey, Sebastian, wir freuen uns auf Dich!»
«Hä?»
«Wir freuen uns, dass Du in unsere Klasse kommst!»
Sebastian begibt sich daraufhin zügig zu seinem Klassenleiter, nur um ihm zu berichten, dass sich die neue Klasse auf ihn freue.
Ein halbes Jahr später fragt dieser ihn auf dem Flur:
«Und, wie läuft es denn so in der neuen Klasse?»
«Gut, nur das mit meiner Verhaltensstörung, das funktioniert nicht mehr so richtig.»



Bastian ist 12 Jahre. Bastian kann nicht lesen. Und alle wissen das.
Im Auswertungskreis vor einer neuen Lehrerin hat er einen Stapel Bücher vor sich liegen:
«Und dann habe ich noch das gelesen ...»
Er beantragt nach dem Abrechnungsmodus der Klasse zwei Häkchen für das Lesen. Das ist das höchste, was man an einem Tag für eine Tätigkeit bekommen kann.
Die Lehrerin fragt ihn:
«Was steht denn drin?»
Bastian druckst herum und schließt von den Abbildungen auf dem Einband des Buches auf dessen Inhalt:
«Hier geht es um Pistolen.»
Beim nächsten Buch angelangt erfindet Bastian Geschichten. Nicht einmal den Titel liest er fehlerfrei. Einige beginnen leise zu kichern - die Lehrerin schaut zu ihnen hinüber, wendet sich daraufhin Bastian zu und fragt:
«Wie viele Häkchen hast du für das Lesen verdient?»
«Keines ... Aber gerechnet habe ich gut.»
Nachdem sie die Häkchen für die anderen Tätigkeiten Bastians eingetragen hat, meint die Lehrerin zu ihm: «Ich mache dir einen Vorschlag: Sag mir Bescheid, wenn du das nächste Mal lesen möchtest. Ich würde das gerne mit dir zusammen tun.»
Bastian nickt erleichtert und zufrieden.
Nach einem Jahr kann Bastian lesen.



Es ist Freitag. Wir sitzen in der Auswertungsrunde. Meine neue Klasse, die bereits acht Schuljahre hinter sich hat, mein Kollege und ich. Ich habe die Mathematikbücher in die Mitte gelegt:
«Wer noch üben will, kann ein Buch mit nach Hause nehmen.»
«Keine Zeit! ... Wir haben das schon gemacht! ... Ich kann das! ... Wir haben in den anderen Fächern so viel auf!»
«Gut, wenn ihr alle so sicher im Lösen von Gleichungen seid, dann sollt ihr das auch zeigen können. Wir schreiben am Dienstag einen kleinen Test.»
Die Bücher sind innerhalb kürzester Zeit vergeben. Am Dienstag sehe ich viele gelöste Aufgaben, doch es haben bei weitem nicht alle geübt.
Als ich die Geschichte zu Hause erzähle, sagt mein Sohn, der genauso alt ist wie meine Schüler und das Gymnasium besucht:
«Mama, was hast du eigentlich anderes studiert als meine Lehrerin? Ihr habt doch genau die gleiche Ausbildung.»



Daniel möchte im 9. Schuljahr gern ins Gymnasium wechseln. Und während die anderen ihr Praktikum in einem Betrieb absolvieren, will er es mit einer Probebeschulung am Gymnasium versuchen.
Die Kollegen sind zum größten Teil dagegen.
Und es stört auch niemanden, dass er bei entsprechenden Tests – ob vom Arbeitsamt oder bei Intelligenztests – weit über dem Niveau eines Realschülers abschneidet. Alle meinen, dass er es nicht schaffen wird. Nur zwei Pädagogen unterstützen Daniel.
Er geht – und berichtet eifrig, auch, dass die Schüler am Gymnasium nicht so gut wie er im Stoff seien. Jetzt kommen eigenartigerweise auch jenen Kollegen Zweifel, die sein Vorhaben ursprünglich unterstützten.
Schließlich sind die vierzehn Tage der Probebeschulung vorbei und ich erhalte eine Mail von Daniel. Er schreibt, dass er beschlossen habe, seinen Realschulabschluss zu machen und danach eine solide Berufsausbildung zu beginnen – und dass das Gymnasium nichts für ihn sei.
Leider lese ich auch in der Mail:«Wie alle gesagt haben…»
Einige Kollegen reiben sich die Hände, andere sehen den ganzen Aufwand für die Probebeschulung als ungerechtfertigt an. Doch wann wollen wir als Lehrer eigentlich lernen loszulassen, uns auf etwas einzulassen – und damit unseren Schülern wirkliche, eigene Lernerfahrungen zugestehen?
Einige Tage nach Daniels Entschluss meine ich zu einem Lehrer, der es schon vor der Probeschulung besser zu wissen schien:
«Was meinst Du denn? Wäre Daniel ohne seine Erfahrung am Gymnasium zu den gleichen Erkenntnissen gelangt?»



Ich habe mich oft gefragt: Wie erzählt man vom Alltäglichen? Was macht das Alltägliche zu etwas Besonderem? Und wie erzählt man das alltäglich Besondere und besonders Alltägliche in Bezug auf Schule?
Einmal schlug ich meinen Schülern – 8. Schuljahr Regelschule im Förderschulbereich – vor, freitags in der großen Pause gemeinsam zu frühstücken. Eigentlich dachte ich dabei lediglich an ein Beieinandersitzen.
Am Freitag darauf luden mein Kollege und ich die Schüler ein. Wir hatten den Tisch gedeckt, Tee und Kaffee gekocht. Christian stand erwartungsvoll da und beobachtete neugierig unser Treiben.
Doch er wirkte zunehmend verzweifelter, als ein Mitschüler nach dem anderen auf den Schulhof verschwand. Nur Marcel und Patryk standen noch neben dem Tisch und wirkten ebenso unentschlossen. Einige der langsameren Schüler standen noch in der Tür oder auf dem Flur.
Christian wirkte sichtlich enttäuscht, mein Kollege ebenso. Sie schienen sich sehr darauf gefreut zu haben und schließlich schlug ihre Enttäuschung in Anklage und Ärger um. Christian wollte mich mit ins Boot holen:
«Müssen wir nun oder nicht? Wir hatten das doch ausgemacht.»
Marcel und Patryk ließen sich von mir überreden, sich zu uns zu setzen, und dann meinte ich so laut, dass die Schüler in Reichweite der Tür es verstehen konnten:
«Ich freue mich, mit meinem Kollegen, Christian, Marcel und Patryk jetzt frühstücken zu können.»
Und ich lachte sie an und fügte leiser hinzu:
«Wir sind da. Das genügt doch.»
So aßen wir, lachten und schwatzten.
Am Freitag darauf brachte Christian Frühstück mit. Er sprach zwei andere Schüler an und bat sie, ihm beim Tischdecken zu helfen. Diesmal saßen wir schon zu siebt am Tisch.
Nach einigen Wochen saßen alle am Tisch, aßen, brachten Sachen mit, organisierten sich, so gut sie konnten – bis heute.
Wer seine Aufgaben geschafft hat oder sich nicht mehr konzentrieren kann, deckt den Tisch – wer danach noch keine Lust auf Mathe hat, der wäscht ab ...
Das Besondere wurde Alltag und dieser brachte andere Besonderheiten:
So wurde es möglich, sich nach der Neuverfilmung des Kinofilms «Die Welle» am Freitag weit über die Pause hinaus gegenseitig zuzuhören, sich ausreden zu lassen und sich verstört zu zeigen.
Wann und wo gelingt das sonst?



Jeder der drei Kinder hat ein Taschenquiz in der Hand. Sie blättern, suchen nach interessanten Fragen, reden durcheinander, können sich nicht über die Regeln einigen. Ich sage zu den dreien:
«In der Schule würde ich es so machen: Einer liest eine Frage vor; wenn diese beantwortet ist, liest sein linker Nachbar die nächste Frage vor, und so weiter.»
«Nein, wer die Frage richtig beantwortet hat, der darf die nächste Frage vorlesen. Und wenn keiner die Frage richtig beantwortet hat, dann darf man nochmal. So wird das gespielt.»
Das Spiel beginnt im Streit um die Regeln.
Conny stellt eine Frage, die keiner beantwortet:
«Dann stelle ich noch eine Frage!»
«Warte mal, jetzt bin ich an der Reihe, Du hattest doch schon eine Frage gestellt!»
Schließlich setzt sich mein Vorschlag durch und die drei spielen ausgelassen, während ich natürlich überlege: Wie hätten sich Spaßfaktor und Spiel wohl entwickelt, wenn sie nach den üblichen Regeln gespielt hätten?



Erstellt: 5. Juni 2009 – letzte Überarbeitung: 6. Juni 2009
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