BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (15): Auf der Suche nach einer authentischen Haltung als Erzieher» von Nick
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Erziehen heißt morden. Die Freiheit des anderen. Erziehung ist keine, wenn nicht zur Freiheit; und als solche unmöglich. Das Unmögliche wollen, heißt auf Erziehung zu verzichten und sie dadurch zu betreiben. So, wie sie - als Prozess, nicht als Absicht - nur legitim betrieben werden kann. Eine stets brüchige Legitimität, die die Größeren den Kleineren da vorzeigen, ohne je wissen zu können, ob diese nicht bloß vorgespielt ist, dem eigenen Selbstverständnis nach-gegeben. Wo sonst doch die Leere lauert, die keiner erträgt. Nichts sein. Ein Urteil, dem sich die Balken biegen, um sich ihm zu entwinden. Schlangen spalten das Holz, aus dem die Kinder geschnitzt werden. Erzieher sind schlangenhäutige Mörder. Sie spalten das Holz, das sie vorgeblich gut zu formen gedenken. Was sie wirklich tun, ist, sich ihre eigene Leere zu verblenden. Dort am anderen, wo sie als eigenes Produkt ausweisen mögen, was sie in sich selbst als Eigenes zu besitzen meinen. Die Angst, gar nicht selbst zu haben, was andere stellvertretend für sie selbst als das Schöne, Gute, Wahre reproduzieren sollen, treibt sie um, nur halb bewusst. Sie kämpfen gegen sich selbst am anderen. Gegen ihr Nichtigsein. Spätestens am Anderen. An diesem Kampf geht der Blick für den anderen verloren. Er schweift ab ins wahre Nichts, in dem ein Sinn immer schon parat liegt, ohne ihn im Zweifel verlieren zu können. Die Abrichtung der Kleinen auf Sinnpräparationen geht ihren Gang, unbeirrbar. Irritationen werden abgelehnt. Sie führten in ein zweites Nichts, das sie, die erziehen wollen, stärker fürchten als ihr erstes. Das Nichts der Sinnlosigkeit, des Sinnverlustes, des Verloren- und Verlegenseins. Des Keine-Antwort-Habens. Der Schlüssel zum Garten der Erkenntnis ist in diesem Nichts verlegt. Und niemand kann sich erinnern, wo er ihn zuletzt gesehen hat. Unter der Matte ist er nicht. Soviel ist sicher.

Erzieher sind Mörder, Soldaten der Macht; die nicht ihre eigene ist. Und deshalb irren sie. Um sie wieder ernst nehmen zu können – was ihnen so wichtig ist, während man sie doch nur belächeln kann – sollten sie beginnen, auf eine zweite Art zu irren, ganz für sich allein, ohne die Le(h)re in sich selbst am Anderen zu rächen. Man beginne einmal bei einfachen Einsichten. Man stelle sich vor, erst grob, wie hier, dann immer genauer, beispielsweise folgende Ansicht:

Für den anderen kann etwas Anderes richtig sein, ohne dass ich in jedem Fall selbst verstehen kann, dass oder weshalb dieses Andere für ihn richtig ist.

Als Impuls für weitere Gedanken kann so eine ungeschliffene These dienen. Vor der Perfektion eröffnet sie das Feld der Irrtümer. Ohne aber auf sich selbst als kompletten Irrtum verzichten zu müssen bei der weiteren Arbeit an sich. Ich, die immer vorläufige These, die Stimme unter Stimmen im wilden Chaos des Unbeherrschbaren, äußere mich, um mich zu bestimmen, um mich zu verlieren, um wieder zurück zu mir zu finden. Ihr, die anderen, kommt nicht vor in mir, nur als fremder Impuls, der nur an mir, aber nicht in mir rüttelt. In mir schüttelt sich nur das, was in mich kam, ohne mich je verlassen zu haben. Das Neue an mir, bin ich mir selbst. Zugegeben sei allerdings: Nicht wäre ich heute so, wie ich bin, ohne das Andere an meiner Peripherie als Eindruck empfangen zu haben. Ganz allein, ohne jeglichen Kontakt, wäre ich weniger. Nichts wäre ich allerdings allein nicht mehr als andere. Etwas zu sein genügt mir da, wo niemand mit mir spricht, um sich in mir zu verwirklichen. Wo ich Stimmen höre, die zu herrschen sich verkneifen können, da will ich sein. – Und was wollen Schüler?

Ich bin ungeeignet für diesen Job. Denn ich will nicht herrschen über andere. Aber auch das musste ich erst lernen. Erziehung findet statt, auch ohne sie zu beabsichtigen. Dann ist wieder ganz wichtig, so man denn zufällig in die Erwartungssituation gerät, erziehen zu sollen, bewusst zu machen, dass Erziehungsziel nur sein kann, was Erziehung nicht vermag. Abstinenz ist der beste Weg zum Alkoholiker zu werden. Im Suff verliert sich die Orientierung, die jedoch, die eh keiner hat. Orientierungslos ehrlich besseres Leben ermöglichen und selbst erleben, das möchte ich. Und das ist auch schon alles, was ich will. – Was wollen die Schüler?

Einem anderen Menschen bei seiner Entwicklung behilflich zu sein, bedeutet keineswegs nur, dem anderen mögliche Ziele seiner Entwicklung nahe zu bringen, die ich selbst bereits kenne und in mir verwirklicht habe, so dass ich sie ihm ebenfalls anraten kann, sondern bedeutet in erheblichem Maße auch, dass ich mich öffne für die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des anderen und damit eben auch für dessen Ziele, die mir selbst bisher unbekannt sind und deren Wert sich mir gegenwärtig noch nicht erschlossen hat und möglicherweise nie erschließen wird. Zu öffnen habe ich mich im Behilflichseinwollen bei der Entwicklung anderer Menschen insofern dem Fremden, dem Unbekannten, dem Möglichen im Anderen, das diesen anderen beflügelt und zur Verwirklichung seines eigenen Menschseins trägt. Dieses fremde Mögliche brauche ich nicht notwendigerweise durchweg zu verstehen. Es genügt oft, die Möglichkeit der Bewegung des anderen hin zu seinen ihn verwirklichenden Zielen zu erspüren und die wohltuende Kraft zu erahnen, die solche Verwirklichung in ihm freisetzen würde. Das Glücklichsein des anderen nicht zu verhindern, indem ich selbst verstehen will, worauf er hinaus will, und ihm im Falle meines Nicht-Verstehens von der Verwirklichung seiner besten Möglichkeiten abrate, dies ist für einen Erzieher mindestens ebenso wichtig zu berücksichtigen, wie alles auf gemeinsame Verständigung ausgelegte Beraten und Ausrichten auf vorhandene Normen. In der blinden Normierung stirbt das Besondere im anderen. Und Erzieher sollten für dies Besondere, das ein Glücklichsein des anderen überhaupt erst ermöglicht, Beschützer sein und nicht etwa Totengräber.

Erzieher, die dem anderen als Anderem bei seiner Menschwerdung behilflich sein möchten, verzichten auf Erziehung als das bessere Wissen vom rechten Weg. Sie öffnen sich für das Fremde, das Unbegreifliche im Anderen und erlernen Demut vor dem, was sie selbst nicht kennen und dessen sie nicht habhaft werden können, nicht einmal durch seine Zerstörung – die sie, guten Willens, ansonsten gern betreiben. Sie sterben den Tod des Eigenen in dieser Öffnungsbewegung zum Anderen hin. Sie vergessen dabei dennoch nicht ihr Eigenes, ihr Selbst, weil sie begriffen haben, dass leere personale Hüllen keine Orientierung dem anderen bieten können auf die Verwirklichung seiner besten Möglichkeiten hin. Vorbild, Beispiel, Lichtblick können Erzieher sein für ihre „Schützlinge“, ohne Nachahmung zur Forderung erheben zu können. Den Wunsch entstehen zu lassen, etwas ähnlich gut zu machen, wie es im Beispiel dem entwicklungsfähigen Menschen vor Augen steht, und diesen Wunsch dann als ureigenes Produkt dieses Menschen, dieses „Schülers“, zu akzeptieren, wirklich zu akzeptieren, ist eine echte Aufgabe für Erzieher, die sich in der Abwendung von ihrer vermeintlich wichtigen „Erziehungsaufgabe“ ihr stärker zuwenden würden, als es Mancher mit „erzieherisch“ geprägtem Selbstverständnis für möglich und nötig halten mag.

Das Andere im anderen zu akzeptieren, ist eine Aufgabe, der kein Mensch gewachsen ist; an deren fortwährendem Lösungsversuch er aber nur zu seinem größten, immer nur menschlichen, Maß anwachsen kann. Aufgabe von Erziehern ist es dementsprechend mindestens genauso sehr, Menschen in ihrer Umgebung wachsen zu lassen wie sie wachsen zu machen. Jugend braucht Orientierung, als Angebot, nicht als Verpflichtung. Die Ablehnung jeglicher Angebote des Erziehers durch Jugend, die auf der Suche nach sich selbst ist, ist vollkommen legitim. Die Größe des Erziehers liegt nun nicht etwa darin, auf der Annahme seiner Angebote durch die jungen Geister zu insistieren, sondern sie besteht – neben dem Verzicht auf „Größe“ überhaupt – im Zulassen seiner eigenen Irritation und seines Erschüttertseins durch die Absage, die ihm das Andere immer wieder erteilt. Authentizität im Handeln lässt sich anders nicht vorbereiten. Erst der Erzieher, der gebrochen ist, - nicht in seinem Selbst und der Beziehung auf sich, sondern in der Beziehung auf andere und in seiner naiven Haltung zu diesen ihm stets unbekannt bleibenden Wesen, die fälschlicherweise „Schüler“ genannt werden – erst in der Erfahrung und im Zulassen dieses unaufhebbaren Bruches zwischen Ich und Du beginnt ein Erzieher zu werden, der erst dadurch ist, dass er gar keiner sein will.



Erstellt: 1. September 2009 – letzte Überarbeitung: 7. September 2009
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