BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das pädagogische Gewissen - Stimmen (16):
Zwischen den Stühlen» von Tom B.
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«Die Demokratisierung der Gesellschaft ist der Beginn der Anarchie,
das Ende der wahren Demokratie.
Wenn die Demokratisierung weit genug fortgeschritten ist,
dann endet sie im kommunistischen Zwangsstaat.»
(Franz-Josef Strauß) [1] Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. 11. Januar 1978.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wenn Sie meine Beiträge in dieser Reihe eine Weile verfolgt haben, dürften Sie erfreut sein, zu hören, daß ich mittlerweile zum Staatsdiener in Sachen Pädagogik aufgestiegen bin und als solcher – unter anderem – politische Bildung unterrichte. In dieser Aufgabe stößt man einerseits auf viel Häme bei unbefangenen Mitmenschen und andererseits auf viele Fragen und Missverständnisse, welche Aufgabe man dort eigentlich verfolge. Besonders virulent ist der Irrglauben, dass man als Beamter in so einer Position die aktuelle Regierung stützen und den jeweils aktuellen Status quo rechtfertigen müsse. Schließlich werde man ja dafür vom Staat bezahlt.

Nichts steht dem ferner, und ich werde gleich zeigen, dass man derzeit hauptsächlich dafür bezahlt wird, die aktuellen politischen Eliten als dysfunktional zu entlarven und dadurch ironischerweise das System dennoch zu stützen. Man ist ja als Beamter auf das Grundgesetz und in meinem Falle auf die bayrische Verfassung vereidigt, und eben nicht auf irgendwelche Eliten. Diesen Fehler macht man seit 1949 nicht mehr.

Schauen wir uns kurz an, was die bayrische Verfassung über die allgemeinen Richtlinien und Ziele im Bildungsbereich sagt:

Artikel 131: Ziele der Bildung
  1. Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.
  2. Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.
  3. Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.
Nun ja, das mit der bayerischen Heimat muss aus Gründen des Selbstverständnisses wohl sein, aber ansonsten sind diese Ziele doch höchst wünschenswert. Man soll als Pädagoge also Menschen zu Demokraten erziehen und das wiederum geht eigentlich nur über Bildung, denn politische Mitwirkung ist nicht affektiv, sondern kognitiv. Demokratie muss man verstehen, um sie unterstützen zu wollen. Ohne Wissen ist kein Wollen möglich.

Das bedeutet, einiges über die Grundlagen des politischen Systems erst einmal lernen zu müssen, und dies dann auf das, was man so Politikwirklichkeit nennt, anzuwenden. Und genau da ist der Haken gegenüber den hehren Zielen, die ich oben vorgestellt habe.

Denn wenn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und das politische System die Richtlinien sind, dann hat man als Pädagoge wirkliche Probleme, noch ein gutes Wort über unsere politischen Eliten, insbesondere die der Exekutive, zu verlieren. Von eindeutigem Verfassungsbruch bis zu Gesetzen, die in Karlsruhe mit hochgezogenen Augenbrauen der Verfassungsrichter unter Referenz auf Artikel 1 des Grundgesetzes für nichtig erklärt werden, ist derzeit alles dabei.

Wenn man da als Politiklehrer mit gutem Gewissen den oben genannten Richtlinien, denen wohlgemerkt auch die Eliten gehorchen sollten, Treue leisten müsste, dann endet das eigentlich nur noch in einem indirektem Aufruf zum Widerstand. Es ist schwer, die berechtige Frage, warum «die da oben das und das machen», und warum wir sie lassen, irgendwie noch mit beschwichtigenden Hinweisen auf die Heilkräfte der deutschen Demokratie zu beantworten.

Und so steht man als Politiklehrer heute zwischen allen Stühlen. Denn wenn man jüngeren Menschen die Grundlagen unseres Politiksystems vorstellt, wünscht man sich so sehr, positive Beispiele anführen zu können. Doch diese Option wird einem – bis auf gelegentliche Heldentaten der Verfassungsrichter – meist nicht gewährt. Dabei wäre es so traumhaft, sagen zu können: «Seht ihr, unsere Demokratie funktioniert.»



Kommentare:


Lieber Tom,

die Demokratie hat, denke ich, immer einen paradoxen Zug. Sie muss sich bisweilen vor sich selber schützen. Der Gedanke der Herrschaft des Volkes ist dem Volk nicht immer sympathisch. Was dann?

Und damit meine ich nicht nur die autoritären, geführt werden wollenden Teile des Volks, sondern auch diejenigen anderen, die daran verzweifeln, dass die demokratisch legitimierte Mehrheit oft nicht das vertritt, was diese gedankenvolle Minderheit der Demokratie wünschen würde.

Ich habe, vermutlich im Gegensatz zu vielen anderen, die hier lesen und schreiben, einen grossen Respekt vor der Politik und ‹den Politikern›, und ich betrachte sie mit Milde. Ich kann mir vorstellen, wie schwer es ist, zu manövrieren, wenn man dem Trommelfeuer der gegenläufigen Interessen ausgesetzt ist, von denen man den Auftrag hat, mindestens der Mehrheit irgendwie gerecht zu werden bzw. eigentlich sogar möglichst allen. Ich glaube, dass viele Manipulationen vor allem aus Not geschehen.

Ich glaube auch, dass viele Politiker sich vom Zirkus (der nicht von ihnen alleine veranstaltet wird) davon ablenken lassen, was ihre Werte und Gedanken sind. Sie versuchen, zuzuhören, und lauschen aber nicht (weil man sie aber auch nicht lässt), sondern wirbeln hektisch mit den Ohren herum. Sie versuchen, das System zu spielen, aber lassen sich von dem spielen, was sie für relevante Gruppen und Mehrheiten halten. Zum Teil, scheint mir, ist dieses im Prinzip Demokratie angelegt - bzw. auch eine gute Demokratie wird immer mit diesem Phänomen umzugehen haben.

Wie macht man Demokratie schöner, besser, lebendiger (‹wahrer› erscheint mir kaum zu einer konstruktivistischen Website zu passen), ohne sie umzustürzen? Wie nutzt man die Räume zum Mitgestalten, ohne sich einsaugen zu lassen vom Zirkus? Das ist doch eine edle Fragestellung für den Politikunterricht.

In einem anderen Text wird sehr kritisch über ‹Meinungen und Standpunkte› geschrieben, und ich sehe auch, warum. Trotzdem möchte ich mich nicht von einem grossen demokratischen Wert verabschieden, nämlich, den anderen Standpunkt, die andere Meinung zu sehen und zu respektieren. Das ist oft das Schwerste überhaupt. Mit denjenigen zusammen Demokratie zu machen, die einen an gewissen Punkten &xnbsp;unangenehm berühren, und sei es, dass man sie für einfältig, ignorant, dumm oder abhängig hält. Diejenigen anzuerkennen und zu würdigen, deren Meinungen und gar Verhaltensweisen befremden, die aber doch noch Mit-Demokraten sind. Zusammen – das wäre was.


Beste Grüsse von
Christian aus London



Erstellt: 28. Juni 2010 – letzte Überarbeitung: 29. Juni 2010
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