BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wirkt Homöopathie?»
von Christian Hennig
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«Man fragte einen, was ihn so lange bei guter Gesundheit hielt?
Die Unbekanntschaft mit der Medizin, war seine Antwort.»
(Michel de Montaigne)

«Wie nennt Ihr das Übel, Doktor,
das unseren Freund angefallen hat?
Paßt hier keiner von den dreitausend Namen,
mit denen Ihr Eure Unwissenheit ausputzt?»
(Johann Wolfgang Goethe)

Einführung

Vor einiger Zeit bekam ich Lycopodium C1000. Drei unscheinbare kleine Traubenzuckerpillen. Lycopodium passt gemäß der homöopathischen Lehre zu Beschwerden im Magen- und Darmbereich auf der rechten Seite, und mit solchen quäle ich mich herum; sie flammen seit vielen Jahren immer mal wieder auf, fühlen sich reichlich beunruhigend an, und verschwinden dann oft nach einiger Zeit wieder, bloss um einige Monate oder manchmal auch Jahre später wieder aufzutauchen.

Am Tag nach der Verabreichung verschlimmerten sich meine Schmerzen recht auffällig. Homöopathen nennen so etwas "Erstverschlimmerung" und weisen darauf hin, dass es im Grunde ein gutes Zeichen ist, weil der Körper auf das Mittel reagiert. Die Verschlimmerung ging nicht drastisch über das hinaus, was ich aus der Vergangenheit ohnehin schon kannte, und so wartete ich ab, und tatsächlich, nach zwei weiteren Tagen verbesserte sich mein Befinden deutlich.

Die weitere Entwicklung war allerdings weniger glatt und erfreulich; die Schmerzen nahmen wieder zu, gingen wieder fast völlig weg, einige Zeit in schnellem Rhythmus. Irgendwann wurde es mir zu bunt, und ich ging zum Arzt - zum wiederholten Male wegen dieser Sache. Der Arzt hatte einen Verdacht für eine Erklärung, welche mir, da einigermaßen harmlos, sehr gefiel. Danach verbesserte sich die ganze Sache recht deutlich - wohlgemerkt, ohne dass der Arzt konkret etwas unternommen hätte. Der Verdacht wurde geprüft, aber es gab keinen Befund. Ich bin so klug wie vorher, aber die Leiden haben sich verbessert. Welche Rolle die Homöopathie dabei wohl gespielt hat?

Darüber habe ich lange nachgedacht, und daher gibt da eine ganze Reihe von Aspekten, durch die ich mich nun durchwühlen möchte. Es sind sogar ein paar fachliche Betrachtungen aus dem Gebiet der Statistik dabei, aber nicht gar so viele, das sei versprochen. Weiterhin gibt es ein paar Gedanken darüber, wie sich die Frage nach der "wirklichen" Wirkung und deren wissenschaftliche Betrachtung mit dem Konstruktivismus verbinden lässt. Diese Gedanken lassen sich auch auf andere Themen als Homöopathie übertragen. Leider kann ich nicht versprechen, Verwirrung eher zu beseitigen als neu zu schaffen. Was ich versprechen kann, ist eine Betrachtung der Homöopathie, und der Wissenschaft, wie man sie sonst schwerlich findet.


Wirkt Homöopathie?

Man kann sich natürlich auch fragen: Wirkt die Schulmedizin? Ich bin mehrfach wegen der oben erwähnten Beschwerden untersucht worden, und es ist nie irgendetwas gefunden worden, was dahinterstecken könnte, und sich behandeln ließe. Nichts, was man "objektiv" messen kann. Mein Eindruck ist aber schon, dass da irgendwas nicht in Ordnung ist. Nicht sehr beruhigend ist mein Wissen, dass es Blinddarmentzündungen gibt, die nicht den normalen dramatischen Verlauf haben, und die man im Grunde nur erkennen kann, wenn man den Blinddarm herausnimmt. Das wiederum fand keiner der Ärzte angebracht.

Überhaupt weiß ich von mir selber und anderen, dass Schulmediziner für einen großen Teil der menschlichen Leiden keine klare Diagnose und kein Konzept haben (einige von ihnen meinen auch, es hülfe ihren Patienten, wenn sie so täten, als hätten sie eines, auch wenn sie keines haben; was allerdings Homöopathen von schulmedizinischer Seite gerne vorgeworfen wird). Es fragt sich bloß, ob das nicht daran liegt, dass diese Leiden gar keine behandelbare organische Ursache haben, und ich ein Hypochonder bin, wenigstens zeitweise, und andere auch.

Ich habe im Alter von 16 Jahren angefangen, mich homöopathisch behandeln zu lassen, damals wegen eines Hautausschlages, zu dem den Schulmedizinern nichts Besseres einfiel als Kortison. Mein Vater hatte einen Homöopathen, den wir in der Familie den "Wunderheiler" nennen, erstens wegen seiner Zauberkräfte verheißenden Erscheinung, zweitens, weil Homöopathie im Grunde ja gar nicht wirken kann. In einer homöopathischen Pille ist von der ursprünglichen Substanz gar nichts mehr drin. Ich habe kein Lycodopium bekommen, sondern bloß Traubenzucker, und ich weiß das.


Homöopathie kann gar nicht wirken. Oder?

Vermutlich sollte ich den verehrten Leser allerspätestens an dieser Stelle warnen: Obgleich ich mich bemühen werde, scharf am Thema zu bleiben (und es sich deshalb, wenn man daran interessiert ist, lohnen könnte, weiterzulesen), wird dieser Text in das unübersichtliche Labyrinth einer ganz entschieden unentschiedenen Sichtweise führen, und Freude werde ich höchstens denen bereiten, die Lust haben, mir in ein solches Labyrinth zu folgen, und keinesfalls denen, die darauf hoffen, dass die eine oder andere Seite heftig und endgültig erledigt wird. Ob es solche Leser überhaupt gibt, weiß ich nicht, denn ich bin bei diesem Thema recht ausführlich, wenn auch unsystematisch wirklichkeitsprüfend unterwegs gewesen, und habe erlebt, dass die meisten Menschen, die dieses Thema diskutieren, ganz genau wissen, was sie glauben wollen und was nicht (wobei unterschiedliche Leute widersprüchliche Sachen glauben, sich aber darin einig sind, sich vom anders lautenden Glaube der anderen Seite keinesfalls beeindrucken zu lassen; selbst die bloße Kenntnisnahme von Argumenten der Gegenseite kann einem in den einschlägigen Kreisen den Ruf beschädigen), und gar keine Freude daran haben, das in Frage gestellt zu finden.

Weiter: Der Wunderheiler und seine Homöopathie, und spätere Homöopathen, die ich besucht habe, hatten aber ein paar recht ordentliche Erfolge bei mir, bei eben diesem Hautausschlag, und diversen Magen- und erkältungsartigen Problemen. Überhaupt hat das ganze Konzept mittlerweile mehr als 200 Jahre überlebt und immer wieder mehr oder weniger erstaunliche Heilerfolge vermeldet. Wie kann das sein, wo doch Homöopathie gar nicht wirken kann?

In Großbritannien, wo ich lebe, aber dem Vernehmen nach auch in Deutschland und der Schweiz, wird Homöopathie zur Zeit ausführlich befehdet. In Presse, Funk und Fernsehen treten regelmäßig Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten auf, die die Leute davor warnen, auf solche, wie man in England sagt, "snake-oil salesmen" hereinzufallen. Homöopathie könne gar nicht wirken, und alle Versuche, ihre Wirkung zu beweisen, seien fehlgeschlagen. Mittlerweile wisse man, dass Homöopathie bloss Placebo sei.

Ich bin nicht der einzige, der behauptet, dass Homöopathie bei ihm Wirkungen erzielt hätte; deswegen gehen ja immer noch Leute zu Homöopathen: Weil sie glauben, dass ihnen das hilft, mit weniger schwerwiegenden Nebenwirkungen (oder ganz ohne) als bei der Schulmedizin, und die auch oft genug die Erfahrung gemacht haben, dass ihnen die Schulmedizin nicht weiterhelfen konnte.

Die Gegner der Homöopathie sagen dazu, dass es sich dabei um zweierlei Wirkungen handeln könne: Erstens der Placebo-Effekt, Heilung alleine durch die günstige Disposition, die der Glaube an Heilung schafft (ein bekanntes konstruktivistisches Phänomen). Zweitens verschwinden viele Beschwerden ohnehin irgendwann, auch ohne dass man irgendetwas Konkretes zu ihrer Heilung täte. Beobachtungen wie meine, mit der "auffälligen Erstverschlimmerung" und den "Erfolgen" seien bloß "individuelle Anekdoten", und ob Homöopathie "wirklich" wirkt, könne man nur durch ausführliche rigorose Doppelblindversuche (d.h. Studien, bei denen nur ein zufällig ausgewählter Teil der Testpersonen mit richtiger Homöopathie behandelt wird, und weder die Heilpraktiker noch die Testpersonen wissen, welche das sind) herausfinden, in denen Homöopathie mit Placebo verglichen wird. Und in solchen Versuchen sei die Wirkung von Homöopathie nicht bewiesen worden. Es gibt im Übrigen sogar Wissenschaftler, die der Meinung sind, man solle solche Versuche gar nicht machen, denn man wisse sowieso, dass Homöopathie gar nicht wirken kann, es sei ja nichts drin.


Wirkt Homöopathie wirklich, d.h. wirklich besser als Placebo?

Übrigens finde ich es überhaupt nicht verkehrt, den Placebo-Effekt zur Heilung auszunutzen. Es ist seltsam, zu sagen, dass eine Placebo-Wirkung "eigentlich keine Wirkung" sei. Es gibt sogar Untersuchungen, die zeigen, dass der reine Placebo-Effekt besser wirkt, wenn er auf die übliche homöopathische Weise verschrieben wird, d.h., nach einem langen und ausführlichen Interview mit dem Patienten über seinen Lebensstil und alle möglichen anderen gesundheitlichen und psychologischen Besonderheiten dieser Person. All das ist nach homöopathischer Lehre notwendig, damit der Homöopath das richtige Mittel finden kann, und nebenbei geben viele Homöopathen dann auch noch andere gute Gesundheitsratschläge, empfehlen Hausmittel und eventuell Änderungen in der Ernährung. Der typische Schulmediziner verschreibt auch hin und wieder mal irgendeine Nichtigkeit, um einen Placebo-Effekt zu bewirken, aber der Stil seiner Konsultationen ist dafür weniger effektiv, er nimmt sich weniger Zeit und stellt weniger überraschende Fragen als der Homöopath, der damit dem Patienten erfolgreicher suggerieren kann, dass es Heilung geben wird, weil mindestens einiger Aufwand dafür betrieben wird.

Die Homöopathie hat ein System, dass sich recht einfach und einleuchtend erklären lässt. Man mag einwenden, dass das System einem Physiker nicht unbedingt "einleuchten" wird, aber jedenfalls hat es eine recht transparente innere Logik, die lehrbar ist und aus der sich auch ein umfangreiches empirisches Forschungsprogramm ergibt; nämlich die möglichst vollständige Erfassung der Wirkungen aller möglicher Substanzen (in verdünntem und unverdünnten Zustand). Dieses System gibt dem Homöopathen und dem informierten Patienten nachvollziehbare Begründungen und der Behandlung sozusagen ein Rückgrat - sicherlich eine gute Voraussetzung für die Vorstellung, dass sich eine Heilung einstellen wird, und damit der Placebo-Effekt. Hätte Homöopathie keinen Effekt über den Placebo-Effekt hinaus, könnte man die homöopathischen Kügelchen in der Behandlung durch nicht auf homöopathische Weise hergestellte Kügelchen ersetzen, aber man bräuchte immer noch das System und davon überzeugte Ärzte, um den entsprechenden Effekt hervorzurufen.

Ich muss als Patient der Homöopathie an dieser Stelle anmelden, dass ich ein persönliches Interesse daran habe, an Homöopathie zu glauben, weil ich ja davon ausgehen kann, dass dieser Glaube die Placebo-Wirkung bei mir verbessert. (Allerdings hat dieser Gedankengang das Potenzial, die positive Wirkung einer mir einfallenden Argumentation zugunsten der Homöopathie gleich wieder zu hintertreiben, denn ich weiß ja, dass ich von persönlichem Interesse geleitet bin.)

Ist es überhaupt verantwortlich, selbst wenn man nicht an Homöopathie glaubt, vorsätzlich zu versuchen, den Patienten die Placebo-Wirkung wegzunehmen, indem man ihnen einredet, sie sollten nicht daran glauben?

"Ja", sagen Vertreter des Konzepts des "selbstverantwortlichen Patienten". Sie sagen, dass der Patient ein Recht hat, zu erfahren, was ihm verschrieben wird, und warum der Arzt oder Heilpraktiker das für sinnvoll hält, so dass sich der selbstverantwortliche Patient gegebenenfalls selber dagegen entscheiden kann. Wobei die Antwort "ja" beinhaltet, man wüsste, dass Homöopathie tatsächlich nicht mehr als ein Placebo ist. Weiß man das tatsächlich? (Nebenbei ist es eine spannende Frage, ob man Patienten in einer Weise ehrlich darüber informieren kann, dass ihnen ein Placebo gegeben wird, so dass die Placebo-Wirkung immer noch aufrecht erhalten wird.)

Ich sehe, ich strapaziere die Geduld der Leser. Wirkt denn nun Homöopathie wirklich?

Nun bin ich Konstruktivist, und das macht mich solchen Fragen gegenüber skeptisch. Die einzige Wirklichkeit, die ich beobachten kann, ist meine persönliche Wirklichkeit. Ich könnte doch einfach sagen, dass Homöopathie erwiesenermaßen für mich wirkt, und mich damit zufrieden zu geben, ohne zu fragen, ob sie "wirklich wirklich" wirkt.

So einfach ist es aber nicht. Meine persönliche Wirklichkeit ist komplexer als das. Ich bin Zweifler und Skeptiker. Und ich bin professioneller Statistiker, und wenn nicht ich systematische Doppelblindstudien für einen sinnvollen Ansatz hielte, etwas Wissenswertes herauszufinden, wer dann? Homöopathie hat außerdem bei mir auch nicht immer gewirkt. In einigen Fällen (insbesondere bei Muskel- und Sehnenproblemen, trotz großem Optimismus der Homöopathen auch in dieser Hinsicht) änderte sich auch nach Einnahme der kleinen Pillen nichts bei mir. Und dass meine positiven Erlebnisse im Prinzip auch andere Gründe gehabt haben könnten als "wirkliche" Wirkung, erkenne ich an.

Es mag sein, dass solcher Realismus einem bekennenden Konstruktivisten nicht zur Ehre gereicht, aber ganz ehrlich: In meiner persönlichen Wirklichkeit gibt es Irrtümer und Täuschungen, und es gibt die Möglichkeit, dass ich mich nach Einnahme von Homöopathie besser fühle, ohne dass es die Homöopathie war, die das bewirkt hat. Und es gibt die Möglichkeit, dass die Homöopathie selber tatsächlich nichts bewirkt. Und ohne dass ich dieses genau wissen kann. Es könnte auch doch die Homöopathie gewesen sein. Ich gebe mich auch nicht damit zufrieden, meine eigene Gesundheit bloß daran zu messen, ob ich irgendwo Schmerzen habe oder nicht. Es könnte irgendwo im Körper organisch was falsch sein, sogar gefährlich, ohne dass ich das gerade merke. Andererseits könnte ich Hypochonder sein, und Schmerzen ohne organische Ursachen fühlen, oder auch aus psychischen Gründen, und der Placebo-Effekt könnte so vertrackt wirken, dass ich auf Homöopathie bei solchen Leiden besser anspringe als auf Schulmedizin, obwohl Homöopathie vielleicht eigentlich nicht wirkt.. All das ist als Möglichkeit in meiner Realität existent, weil ich es als Möglichkeit in Betracht ziehe. Das heißt, ich glaube durchaus an eine Realität, die ich nicht vollständig kenne, und die mit der Realität anderer Leute Überschneidungen hat; die von mir durch Wahrnehmung und Vorstellung konstruierte persönliche Realität umfasst den Umstand, dass es Realität gibt, die nicht von ihr umfasst wird, und von der sich möglicherweise, zum Beispiel mit wissenschaftlichen und anderen kommunizierbaren Mitteln, etwas herausfinden lässt. Man könnte das "konstruktivistischen Realismus" nennen und ich bin neugierig, wie andere Konstruktivisten das sehen.

Grundsätzlich finde ich die Idee des Doppelblindversuches gut, weil ich den Ausgang spannend finde. Wird Homöopathie im Vergleich mit Placebo besser abschneiden oder nicht? Ich kann es nicht vorhersehen. Das macht den Doppelblindversuch so attraktiv: Er ist geeignet, Neugier zu befriedigen. Diese Spannung wird nur unwesentlich von der antihomöopathischen Propaganda getrübt, die da behauptet, Homöopathie könne sowieso nicht wirken, und außerdem hätte man es bereits versucht und sei zu genau diesem Ergebnis gekommen.

Ich bin also neugierig, ob Homöopathie "wirklich" wirkt, wobei das allerdings nicht auf die "objektive Beobachter-unabhängige Wirklichkeit" verweist (welche, per definitionem, nicht beobachtet werden kann), sondern hier ein Konstrukt meiner persönlichen Wirklichkeit ist: Ich könnte mir vorstellen, irgendwann mal genug gesehen und gelernt zu haben, wenn ich z.B. selber solche Doppelblindversuche durchführen würde, dass ich sagen würde: "Früher als ich dran geglaubt habe, habe ich mich geirrt, nun glaube ich, dass es wirklich nicht besser als Placebo wirkt." Das beinhaltet, dass man Versuche machen kann, ohne vorher zu wissen, was herauskommt, und hinterher weiß man es (unter Vorbehalt; wenn man findig genug ist, lassen sich immer noch Anlässe für Zweifel finden). Oder auch: Man könnte sich vorstellen, wie ein Ergebnis aussehen würde, welches die Sache deutlich entscheidet, auch wenn das, was man konkret beobachtet, dazu zu schwach ist und die Sache daher (vorerst) unklar bleibt.

Ich will verstehen, soweit das eben möglich ist, womit ich meine, ich will die Elemente meine persönliche Realität ausloten, die ich für "existent, auch für andere, aber mir unbekannt" halte. Den Begriff "Wunderheiler" habe ich immer selbstironisch verwendet, wissend, dass die Hoffnung auf Wunder für mich kein sympathischer Grund wäre, hinzugehen. Wobei ich andererseits sicher bin, dass ich es nie so ganz genau verstehen und wissen kann. Und in meiner Wirklichkeit kann niemand es wirklich ganz genau wissen.

Einige sind sich aber anscheinend sicher. Insbesondere einige Wissenschaftler, die doch eigentlich wissen sollten, worüber sie sprechen, sind sich sicher, dass die Homöopathie nicht wirken kann. Was ist davon zu halten?

Hätte ich keinen Respekt vor Wissenschaftlern und ihrer Arbeitsweise, könnte ich so etwas einfach vom Tisch wischen. Zumal es ja auch ganz offensichtlich ist, in wessen finanziellem Interesse die antihomöopathische Propaganda agiert, und dabei handelt es sich um Institutionen, denen ich nicht viel Vertrauen entgegenbringe (obwohl ich dann auch andererseits wieder Freunde habe, die in der Pharmaindustrie arbeiten und an deren Integrität ich keinen Zweifel habe). Nun ist es aber so, dass ich die Methodik der Naturwissenschaften durchaus als etwas Nützliches anerkenne; der skeptische, kritische und ergebnis-offene Zug darin sagt mir sehr zu. Ich mag es, an Glaubenssätzen jeder Art zu rütteln und mir gefällt nichts, was dabei zu einfach umfällt. Auch wenn es die Homöopathie und damit mein persönlicher Nutzen aus dem Placebo-Effekt wäre.

Das Argument, Homöopathie könne nicht wirken, es sei ja "nichts drin", ist für mich immer ambivalent gewesen. Manchmal lächelt es mir verführerisch zu, manchmal finde ich es überhaupt nicht überzeugend. Manchmal benutze ich es schamlos zur Selbstmanipulation meines Placebo-Effektes; sollte ich einmal vergessen, eine Dosis des verschriebenen homöopathischen Mittelchens zu nehmen, sage ich mir, "macht nichts, es ist eh nichts drin". Von homöopathischer Seite gibt es folgende Entgegnung: Am Anfang der Herstellung der homöopathischen Verdünnung ist durchaus eine erquickliche Menge "Wirkstoff" vorhanden, der nach bestimmten Verfahren dann mit Wasser oder Alkohol verschüttelt wird, woraus dann hinterher die Traubenzuckerglobuli hergestellt werden. Auch wenn bei fortgesetzter Verdünnung der Anteil des ursprünglichen Wirkstoffes auf Null sinkt, verändert sich durch die Verschüttelung die Struktur des Gemisches, der Wirkstoff hinterlässt also eine Art "Information", die dann bei weiterer Verdünnung in der vorgeschriebenen Weise erhalten bleibt bzw. sich der "Potenz" der Verdünnung entsprechend wandelt.

Ist das tatsächlich möglich? Die Website der ‹British Homeopathic Association› verlinkt eine Reihe von Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen solche Effekte nachgewiesen wurden. Ich habe in einige davon einen Blick geworfen. Einige (nicht alle) der Zeitschriften gehören zum wissenschaftlichen Mainstream, sind also nicht speziell dem homöopathischen sozialen System zugehörig. Ich verstehe von Physik ein bisschen was, aber nicht sehr viel. Um genau beurteilen zu können, inwiefern diese Artikel vertrauenswürdig sind und inwiefern sie die homöopathische Lehre stützen, reicht mein physikalisches Wissen nicht aus. Zum Teil wurden jedenfalls Effekte nachgewiesen, bei denen die Vermischung mit einem ursprünglichen Bestandteil, welcher am Ende nicht mehr drin war, einen Unterschied machte.

Andererseits habe ich eine anschauliche Intuition von Physik, die mir sehr deutlich vor Augen führt, wie man den homöopathischen Gedanken lächerlich finden kann; dass das Wasser (und später auch die Zuckerpille, die man daraus gewinnt) trotz des ganz normal wässrigen Eindrucks, den es macht, und in dem die Moleküle anscheinend nach Maßgabe aller bekannterweise durchgeführten Messungen genauso frei herumschwimmen wie zuvor, in irgendeiner heilenden Weise sich "gemerkt" hat, womit es einmal verschüttelt worden ist - ungeachtet dessen, dass es, zumal es nicht destilliert war, auch noch mit allen möglichen anderen Stoffen in Berührung gekommen sein könnte, die der Wasserartigkeit des Wassers nichts weggenommen haben.

Ich habe mit Leuten gesprochen, die mehr über Physik und Chemie wissen (und von Homöopathie nichts halten), und die Sache stellt sich doch ein wenig komplizierter dar. Das "nichts drin"-Argument und die Intuition alleine sind nicht genug; wie gesagt gibt es entsprechende Phänomene vereinzelt in anderen Stoffen durchaus. Der entscheidende Punkt ist eher, dass das Wasser und seine Eigenschaften "extrem gut erforscht sind" und die Physiker deswegen davon ausgehen, dass, würde es eine solche Gedächtnisfunktion des Wassers geben, es mittlerweile aufgefallen wäre.

Was man nicht sieht, kann dennoch da sein. Bloß: Ist das immer noch möglich, nachdem man sehr lange und genau und mit allen zur Verfügung stehenden Apparaturen und Methoden geguckt hat? Oder, zugegeben dass so was ganz grundsätzlich nie ausgeschlossen werden kann (obwohl Homöopathiegegner bisweilen behaupten, es sei tatsächlich voll und ganz ausgeschlossen), ist es wahrscheinlich? Nachdem auch von homöopathischer Seite diverse Versuche, einen chemischen Nachweis dessen zu erbringen, dass das Wasser sich irgendwie dauerhaft ändert, gescheitert sind? Diese Fragen wurmen mich, und es trägt nicht zur meiner Entspannung bei, dass ich als Statistiker weiß, dass man derartige Wahrscheinlichkeiten für unbeobachtbare "Wahrheiten" überhaupt nur definieren kann, indem man vor jedem Experiment und der Ansicht irgendwelcher Daten eine subjektive "a priori-Wahrscheinlichkeit" mehr oder weniger frei erfindet.

Es ist "möglich" aber wäre doch eingedenk der "bekannten" Mechanismen und Gesetze der Physik und Chemie sehr, sehr überraschend. Weniger überraschend wäre es bloß, wenn man diesen Mechanismen und Gesetzen wenig Autorität einräumt. Nur habe ich den Eindruck, dass die meisten Menschen, die ohne Weiteres bereit wären, das zu tun, diese Gesetze nicht allzu gut kennen und verstehen.

Überhaupt handelt diese Diskussion ja weitgehend, bei mir und bei anderen, weniger von ganz konkreten Erfahrungen und Erkenntnissen, die wir selber gehabt haben, und mehr davon, inwiefern man irgendwelchen wissenschaftlichen Quellen Vertrauenswürdigkeit zuschreibt; ich persönlich möchte dafür von den Autoren genau erklärt haben, was sie getan haben und wie sie dadurch zu ihren Folgerungen gekommen sind, so dass ich es nachvollziehen kann; eventuell werde ich auch Kritikpunkte finden; dass aber ihre Resultate gefälscht wären, werde ich ihnen dann nicht unterstellen.

Immerhin, das soziale wissenschaftliche System akzeptiert die Möglichkeit der Wirkung von Homöopathie weitgehend genug, dass es wenigstens zeitweise für interessant gehalten hat, die Wirkung der Homöopathie quantitativ zu erforschen, also nicht bloss auf die Physik und Chemie der Mischungen zu schauen, sondern auch darauf, was mit Menschen passiert, die homöopathisch behandelt werden.


Lässt Homöopathie sich überhaupt wissenschaftlich testen?

Einige Homöopathen bestreiten das. Hahnemanns klassische Homöopathie kennt keine Diagnosen einheitlicher Krankheitsbilder, die in einheitlicher Weise behandelt werden, im Unterschied zur Schulmedizin. Jeder Patient bekommt ein Mittel verordnet, das nicht nur zu dem Symptom passen soll, welches dafür sorgt, dass der Patient zum Arzt oder Heilpraktiker kommt, sondern zur ganzen Persönlichkeit (inwiefern der Homöopath die Symptome und die Persönlichkeit des Patienten durch ein Gespräch überhaupt genau genug herausbringen und mit den Mitteln verbinden kann, ist ein vielleicht auch für soziale Konstruktivisten interessanter Nebenaspekt). In manchen Fällen, so können Homöopathen behaupten, verbessert das homöopathische Einwirken das Gesamtbefinden des Patienten, ohne dass das ursprüngliche Symptom gleich "abgeschaltet" wird. Wenn also das ursprüngliche Symptom gemessen wird, wird man in solchen Fällen keine homöopathische Hilfe feststellen, obwohl die Homöopathie tatsächlich etwas Gutes bewirkt hätte. Und die Wirkung eines bestimmten Mittels kann man nach dieser Philosophie gar nicht festnageln, weil es bei unterschiedlichen Leuten zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt wird. Allerdings lassen sich die meisten Homöopathen trotzdem zu Aussagen hinreißen, die testbar sind, nämlich dass konkrete Mittel (insbesondere niedrige Verdünnungs-Potenzen) bei ganz bestimmten konkreten Leiden helfen. Sonst gäbe es keine "homöopathischen Hausapotheken" mit Mitteln für Erkältung, Verletzungen, Magenverstimmungen. Und wenn Homöopathen solche Aussagen machen, erscheint es nur recht und billig, sie beim Wort zu nehmen.

Außerdem könnte man selbst bei klassischer individueller homöopathischer Behandlung den Patienten und bei Doppelblindversuchen auch den Homöopathen nach einiger Zeit nach einer subjektiven Gesamtbewertung der Fortschritte des Patienten befragen, und die Ergebnisse mit denen vergleichen, die mit Placebo bei Beratung im ebenfalls klassisch homöopathischen Stil erreicht werden. Es ist also nicht unmöglich, Beobachtungen zu machen, die wenigstens ein wenig Licht in die Sache bringen.

Es gibt eine Reihe von Studien, in denen Homöopathie blind mit Placebo verglichen worden ist (wobei in den meisten dieser Studien Patienten nach schulmedizinischer Diagnostik klassifiziert wurden und entsprechend Symptome gemessen, was ein klassischer Homöopath für unangemessen halten mag). Die Ergebnisse sind uneinheitlich. Wie zu erwarten, zeigen Studien, die in homöopathischen Journals veröffentlicht wurden, überwiegend Erfolge der Homöopathie, während Studien in Mainstream-Journals überwiegend keine Wirkung finden. Es gibt in der medizinischen Statistik das Instrument der "Meta-Analyse", um Ergebnisse unterschiedlicher Studien zusammenzufassen und zu einer Gesamteinschätzung zu bekommen. Zur Homöopathie sind mehrere Meta-Analysen unternommen worden. Zum großen Erstaunen der meisten Wissenschaftler fand die erste große Analyse dieser Art, die sogar in einem angesehenen Mainstream-Journal erschien, einen signifikanten Effekt der Homöopathie [1] Linde K, Clausius N, Ramirez G, et al. (1997) Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? A meta-analysis of placebo-controlled trials. Lancet 350, 834–483., im Durchschnitt über alle betrachteten Studien.

Diese Arbeit zog viel Kritik auf sich. Mindestens zum Teil lag das sicherlich daran, dass viele Wissenschaftler, die Homöopathie für betrügerischen Hokuspokus halten, sich herausgefordert fühlten, zu beweisen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Andererseits haben die Autoren die Schlussfolgerungen der Arbeit später selber relativiert [2] Linde K, Scholz M, Ramirez G, Clausius N, Melchart D, Jonas WB. (1999) Impact of study quality on outcome in placebo-controlled trials of homeopathy. J Clin Epidemiol 52, 631–636. , nachdem sie fanden, dass kleinere Studien und Studien niedrigerer Qualität (d.h., man konnte einige Aspekte finden, bezüglich derer bei diesen Studien von "schulmäßiger wissenschaftlicher Arbeit" abgewichen wurde) die Homöopathie deutlich stärker stützten als bessere und umfangreichere Studien.

Eine weitere Meta-Analyse wurde 2005 im Auftrag der Schweizer Regierung durchgeführt [3] Shang A, Huwiler-Müntener K, Nartey L, Jüni P, Dörig S, Sterne JAC, Pewsner D, Egger M. (2005) Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy. Lancet 366, 726-731.. Diese Arbeit wird heute an vielen Stellen als wesentliche Referenz zitiert, die angeblich belegt, dass die Effekte der Homöopathie nur Placebo-Effekte sind, z.B. bei Wikipedia und in populärwissenschaftlichen Büchern wie z.B. "Trick or Treatment" [4] Ernst, E. and Singh, S. (2008) "Trick or Treatment" London: Bantam Press.. Das medizinische Journal "Lancet" begleitete diese Arbeit mit einem Editorial, das "The Death of Homeopathy" betitelt war. Ich habe die Arbeit gelesen und finde sie wenig überzeugend. Die Autoren sammelten 110 homöopathische Studien und 110 vergleichbare Studien über konventionelle Medizin. Dann diskutierten sie die Qualität und Stichprobengröße der Studien und disqualifizierten die allermeisten aufgrund mangelhafter Qualität, so dass am Ende bloss acht homöopathische Studien und sechs Studien über konventionelle Medizin übrig blieben (die Autoren bemerkten, dass entgegen der Erwartung Meinung die homöopathischen Studien im Schnitt qualitativ besser waren als die konventionellen). Auch wenn die Entscheidungen der Autoren grundsätzlich nachvollziehbar sind, hätte es viele Möglichkeiten gegeben, Qualitätsgrenzen zu ziehen, und das Ergebnis wäre nicht in jedem Fall negativ für die Homöopathie ausgefallen. Schwerer noch wiegt ein statistisches Detail: Durch die Art und Weise, wie die verbleibenden Studien ausgewertet wurden ("random effects meta analysis") [5] Kulinskaya, E., Morgenthaler, S. and Staudte, R. G. (2008) Meta Analysis. New York, Wiley., war die effektive Stichprobengröße der gesamten Meta-Analyse nicht etwa die Anzahl aller Patienten in allen Studien, sondern die Anzahl der Studien, also acht (für die Homöopathie). Eine solche Stichprobengröße lässt keine präzisen Schlüsse zu, und selbst wenn eine Behandlung "wirklich" hilft, gibt es nur eine kleine Wahrscheinlichkeit, einen statistisch signifikanten Effekt zu finden (wie die Autoren in einem Nebensatz ihrer Diskussion auch einräumen). Wenn man die Arbeit genau liest, ist das Ergebnis für die Homöopathie genauso kompatibel mit der Hypothese, dass der Effekt der Homöopathie nur ein Placebo-Effekt ist, wie mit der Hypothese, dass die Homöopathie genauso gut wirkt wie die konventionelle Medizin (da sich die Konfidenzintervalle überschneiden).

Für die "klassische Homöopathie" mit individueller Repertorisation (also so, wie Homöopathie im ursprünglichen Sinne, laut Hahnemann, angewandt werden sollte) waren überhaupt nur zwei Studien beteiligt, d.h. die Meta-Analyse hat diesbezüglich keinerlei Aussagekraft. Wenn sich aus dieser Studie also etwas folgern lässt, steht es genau im Gegensatz zum oben erwähnten Lancet-Editorial, welches behauptet, dass die Homöopathie nunmehr genug getestet sei und ihre Unwirksamkeit als Tatsache gelten könne, nämlich dass es immer noch viel zu wenige Studien hoher Qualität gebe, so dass man mehr oder weniger gesicherte Aussagen machen könnte.

Man kann den Autoren schlecht vorwerfen, unsauber gearbeitet oder geschummelt zu haben, denn alle diese Informationen lassen sich ihrer Arbeit klar entnehmen. Interessant ist aber, in welch starkem Maß die Studie als Kronzeuge gegen die Homöopathie eingesetzt worden ist. Man konnte die Wissenschaftswelt förmlich aufatmen hören, dass der Homöopathie-Spuk endlich vorbei sein könnte. Ich habe meine Interpretation der Studie mit Stephen Senn, einem bekannten Medizin-Statistiker und Experten für Meta-Analyse, besprochen, und er hat mir grundsätzlich zugestimmt. Bezeichnenderweise konnte er es aber nicht lassen, mich ausführlich davon zu überzeugen zu versuchen, dass Homöopathie aus physikalischen Gründen nichts taugen kann - obwohl ich eigentlich nur die statistischen Aspekte der Studie mit ihm diskutieren wollte und keinerlei Andeutungen machte, dass ich die Homöopathie eventuell sinnvoll fände.

Ich habe ein solches Verhalten sehr häufig erlebt, bei Wissenschaftlern und "Sympathisanten" der Wissenschaft. Kaum liegt ein schwacher Verdacht auf dem Tisch, dass ich der Homöopathie anhängen könnte (und sei es, weil ich eine berühmte Studie aus rein statistischen Gründen kritisiere), wird reflexmäßig betont, dass ungeachtet der statistischen Sachlage Homöopathie selbstverständlich totaler Kokolores sei. Häufig beobachte ich Versuche, die Homöopathie lächerlich zu machen (meistens durch Variationen des "nichts drin"-Arguments), vor allem von Leuten, die sich auf die Wissenschaft berufen, aber bei näherem Hinsehen gar nicht so sonderlich genau über sie Bescheid wissen (wobei allerdings auch unter denen, die besser Bescheid wissen, die Homöopathie-Gegner in der Mehrheit sind). Bei mir stellt sich der Eindruck ein, die Leute fühlten sich von der bloßen Existenz der Homöopathie, und von Leuten, die an sie glauben, angegriffen, und beileibe nicht nur die, die in der Pharmaindustrie arbeiten. Anscheinend steht hier nicht nur die Autorität der konventionellen Medizin auf dem Spiel, sondern ganz allgemein ein Weltbild, in dem alles klar nachvollziehbare Erklärungen haben muss, die man im Prinzip alle verstehen könnte (selbst wenn man sie im Einzelnen nicht versteht).

Es gibt bizarre Phänomene zu beobachten; zum Beispiel dass Leute, die nie eine wissenschaftliche Studie über Homöopathie gelesen haben, behaupten, es gäbe keine einzige Studie, die für die Homöopathie positiv ausgefallen sei, und es sei wissenschaftlich bewiesen, dass Homöopathie bloß Placebo sei. Ich habe mehrfach versucht, diesen Leuten entsprechende Studien zu zeigen, und aus den bekanntesten negativen Studien das relativierende Fazit zu zitiert, dass man bloß keine Evidenz zugunsten der Homöopathie gefunden hat, sie dadurch allein aber noch nicht widerlegt ist. Es hilft nichts. Die Leute werden sauer und nach einiger Zeit diskutieren sie genauso weiter wie zuvor. Anscheinend bin ich zu naiv, dass ich mich davon überraschen lasse, denn ich sollte als Konstruktivist wissen, dass der Mensch Dinge, die ihm nicht passen, erstaunlich gut aus seiner Realität ausblenden kann... aber diese Leute sind doch im Namen der Realismus und der Wissenschaft unterwegs; könnten sie sich darauf berufen, dass das Papier, dass ich ihnen zeige, gar nicht wirklich existiert?

Nun spricht der Umstand, dass die Homöopathie oft allzu vorschnell verworfen und unfair bekämpft wird, so wenig für die Homöopathie wie gegen sie. Manchmal scheint es, als gingen die Homöopathen und ihre Anhänger kaum weniger hilflos mit der Immaterialität ihrer Lehre um als ihre Gegner. Die Homöopathie hat eigentlich von ihrem Ursprung her kein antiwissenschaftliches Selbstverständnis. Die meisten Homöopathen sähen es offensichtlich viel lieber, gäbe es eine wissenschaftliche Bestätigung der Lehre, als dass sie sich darauf berufen müssten, dass Homöopathie untestbar sei und mit dem herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb unvereinbar. Weswegen man so einige von ihnen bei unhaltbaren widerlegbaren Behauptungen erwischen kann, und bei der Idealisierung vereinzelter erfolgreicher Studien fragwürdiger Qualität. Die Homöopathie hat keine klare Verbindung mit einem esoterischen oder magischen Weltbild, auch wenn einige ihrer Anhänger dem zuneigen. Die meisten Homöopathen wissen wesentlich besser, was in der konventionellen Medizin falsch läuft, als wie man die von ihnen praktizierte Alternative untermauern könnte. Die Homöopathen, die ich kenne, verkaufen sich lieber als bodenständige Praktiker (aus deren Sicht in der Arbeitsweise der Wissenschaft und Statistik mehr Mysteriosität und Geheimnis zu finden ist als in den erlebten Leiden und Heilungen ihrer Patienten) als als Wunderheiler und Hexenmeister. Bloss steht diese Bodenständigkeit in seltsamem Kontrast zur Flüchtigkeit der Elemente in den homöopathischen Arzneien. Die Homöopathen nehmen sich Zeit für ihre Patienten und haben ein einleuchtendes ganzheitliches Verständnis von Gesundheit. Viele Homöopathen wissen viel über den menschlichen Körper, viele können ihren Patienten neben den homöopathischen Arzneien auch andere hilfreiche Empfehlungen machen. Viele kennen sich z.B. in der Naturheilkunde oder Chiropraktik aus, und viele überweisen ihre Patienten an einen Schulmediziner in Situationen, in denen ihnen, was dieser tun kann, mehr einleuchtet als ihre eigenen Möglichkeiten. Die Homöopathen haben den Anspruch, offen zu sein, und sie betreiben ihre eigene systematische Forschung. All das spricht für sie, aber all das ist bemerkenswert unabhängig von der Frage, ob die homöopathischen Arzneimittel "wirklich" wirken. In welches Weltbild würde es passen, wenn sie es täten? Oder passt es nur zu einem Praktiker ohne Weltbild, der an irgendeiner Stelle aufhört, Fragen zu stellen?


Abschluss

Wirkt Homöopathie? Wir wissen es immer noch nicht. Auch wenn das schwer zu ertragen ist. Die Wissenschaft verspricht, die Mittel zu haben, solche Fragen zu klären. Manchmal hat sie Glück und erzielt ein klares, stabiles Ergebnis. Manchmal stochert sie auch bloss uninspiriert herum, fördert hier und da etwas zutage (und sei es einen negativen Befund), hinterlässt aber unter dem Strich so viele Möglichkeiten wie zuvor. Was ihren Anhängern nicht gefällt und was ihnen zuzugeben oft schwerfällt, was einen Konstruktivisten allerdings nicht stören muss.

Man könnte dem oben erwähnten Anspruch gerecht werden, den Patienten so zu informieren, dass er selbstverantwortlich entscheiden kann, indem man homöopathischen Mitteln einen Beipackzettel hinzufügt, der sagt: "Homöopathische Arzneimittel hoher Potenz enthalten kein Molekül der Ausgangssubstanz mehr. Es ist bislang kein Nachweis gelungen, dass sich homöopathische Arzneimittel chemisch von einem Placebo unterscheiden. Verschiedene Studien zur Wirksamkeit von Homöopathie verglichen mit Placebo führten zu uneinheitlichen Resultaten und es gibt keinen allgemein anerkannten wissenschaftlichen Nachweis, dass Homöopathie besser wirkt als ein Placebo. Es ist aber anerkannt, dass die Einnahme von Placebos in vielen Fällen hilfreich ist." Eine solche Information sagt weder, dass Homöopathie gar nicht wirkt, noch bloß, dass sie nicht besser wäre als Placebo. Ich kann mir vorstellen, dass sie sowohl ehrlich und informativ ist, als auch das Potenzial hat, den Placebo-Effekt intakt zu halten, wobei das natürlich vom Leser abhängt.

Problematisch ist, dass der wissenschaftliche Anspruch auf Klärung oft stärker wirkt als die wissenschaftlichen Resultate selber. Mir gefiele eine Wissenschaft für Skeptiker, für Menschen, die offen sind, gerne hinterfragen und sich gerne hinterfragen lassen. Die vorhandene Wissenschaft wird oft in umgekehrter Weise benutzt: Wissenschaftliche Autorität wird zitiert, um Gegner der eigenen Ansichten zum Schweigen zu bringen. Dabei lässt man sich nicht durch den Umstand hindern, dass man die Resultate, die man verwendet, selber nicht geprüft hat, oder gar, dass man im Einzelnen gar nicht weiß, wie die "Erkenntnisse" herausgebracht wurden, auf die man sich beruft.

Letztlich bleibt es an mir, zu entscheiden, wem und welcher Lehre ich beim nächsten gesundheitlichen Problem traue. Ich denke, ich werde weiterhin sowohl Schulmediziner als auch Homöopathen konsultieren. Was im Einzelfall genau gewirkt hat bzw. passiert ist, können Statistik und Wissenschaft nicht klären. Es geht um irgendwann auch mal lebenswichtige Entscheidungen, die gefällt werden müssen, ohne dass wir genau wissen, was richtig ist. Die Hoffnung ist, dass es uns jemand sagt, aber oft sagen unterschiedliche Ansprechpartner unterschiedliche Sachen, und die Verantwortung bleibt bei uns selber. Ich hoffe, ich werde immer noch bereit sein, die Verantwortung selber zu übernehmen, wenn ich einem Rat folge, ärztlich oder homöopathisch, der schief geht.



Erstellt: 28. Dezember 2012 – letzte Überarbeitung: 28. Januar 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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