BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Wirksamkeitsforschung - ein Zauberlehrling?» von Rufus Wolfo
Als PDF-Datei laden

Ein Kommentar aus der Praxisperspektive zu
Franz Caspar: Moderne Verhaltenstherapie und Allgemeine Psychotherapie
Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, Heft 2/2016.



Von Bern her tönt es just so, wie man es in Heidelberg ungern hören möchte: Individualisierung der Verhaltenstherapie durch Integration von anderen Therapiemethoden. Prof. Caspar, Nachfolger auf dem Lehrstuhl des verstorbenen Prof. Grawe, den Insidern bekannt als Promoter einer 'allgemeinen Psychotherapie', setzt die Wissenschaft vor die Praxis. Die Vermittlung ist klassisch: von Oben nach Unten. Weit entfernt ist er vom Fiedlerschen Zugeständnis, im praktizierenden Therapeuten einen Forscher am Einzelfall zu erblicken.

Bei den Praktikern diagnostiziert Caspar zuerst einmal ein chronisches Defizit. Sie verfügten oft nicht über flexibel angepasste Fallkonzeptionen, die unter zeitlich beschränkten Ressourcen anwendbar seien. Die Praktiker müssten dazu so viel Routine entwickeln, dass sie überhaupt die Voraussetzungen mitbrächten, zeitökonomisch in einem vorteilhaften Kosten-Nutzen-Verhältnis zu arbeiten. "Mein Eindruck ist, dass viele TherapeutInnen nie in diesem Bereich kommen ..." (S. 317f). Welch' professorale Feststellung! Sie trifft ins Mark der bundesdeutschen Genehmigungsschriftelei in der kassenfinanzierten Psychotherapie: Entweder gelingt es darin den TherapeutInnen die eigene Inkompetenz erfolgreich hinter den trotzdem genehmigten Erst-, Umwandlungs- und Verlängerungsanträgen zu verbergen, oder die Gutachter sind durchwegs unfähig, die konzeptionelle Inkompetenz der TherapeutInnen in den abgelieferten Deutschaufsätzen zu erkennen.

Denn, wie Prof. Caspar betont, die Möglichkeiten wirklich gute Fallkonzeptionen zu machen, seien inzwischen viel besser geworden. Der Irrglaube 'richtige Diagnose + richtiges Manual = erfolgreiche Therapie' sei im Verschwinden. Dennoch scheint er bei Praktikern und auch bei Forschern noch kräftig im Umlauf zu sein. Der ins experimentelle Design verpackte störungsspezifische Ansatz habe nämlich akademische Karrieren ermöglicht und die dadurch evaluierten Therapiekonzepte seien "nach wie vor bei Praktikern sehr gefragt" (S. 321). Solche Konzepte vereinfachten "zumindest für einen Moment die Welt" und lassen sie "handhabbar erscheinen". "Dafür sind Praktiker dankbar." (S. 321)

Doch dieser Dank scheint bei einer 'nüchternen Betrachtung empirischer Ergebnisse' wenig angebracht zu sein. Caspar konstatiert, dass die Ergebnisse zur Bedeutung der Therapiebeziehung zu Unrecht vernachlässigt worden seien, ebenso die positiven Befunde zur Wirkung nicht-verhaltentherapeutischer Verfahren. Zu den wichtigen Befunden gehöre außerdem, "dass PsychotherapiepatientInnen als denkende Wesen zu behandeln seien". (S. 318) Die Entdeckung, dass sie auch emotional sind und so agieren, wird zwar nicht eigens aufgeführt, implizit aber etwas später zugestanden, indem Prof. Caspar seine Vorstellungen zur Methodenintegration in die Verhaltenstherapie darlegt. Der aktuelle Berner Integrationskandidat ist nämlich die emotionsfokussierte Therapie nach Greenberg, der nicht auf einer reinen Form seiner Therapie bestehe, sondern auch "einen expliziten, empirisch evaluierten Versuch der Integration unterstützt." (S. 319). Weitere Integrationkandidaten seien beispielsweise der in der Grundlagenpsychologie verankerte Selbstinstruktionsansatz von Carver & Schreier, neuronale Netzwerkansätze und präzisere Kenntnisse in der "guten alten Reaktanztheorie". Ein bunter Haufen also, aus theoretischen und praktischen Ansätzen.

Zur 'nüchternen Betrachtung' gehöre ebenso die 'Reife' einer modernen VT sich mit ausbleibenden Erfolgen, Verschlechterungen und negativen Nebenwirkungen zu beschäftigen. Caspar verweist auf eine Metaanalyse, derzufolge die Wirkung von Kognitiver VT bei Depressionen mit den Jahren geringer geworden sei und erwägt neben nachlassenden Placebo-Effekten als Grund, dass "an TherapeutInnen weniger hohe Ansprüche gestellt werden und diese auch weniger enthusiastisch sind". Jeder Landarzt wisse, dass man Medikamente anwenden solle, "solange sie neu sind, weil sie dann besser wirken (v.a. wenn die Pillen rot und teuer sind ...)" (S. 318) Dergestalt den Mangel der PT-Forschung an landärztlichen Kenntnissen unterstreichend, fährt der Artikel mit dem Thema der 'Reife' fort und zitiert die persönliche Kommunikation des Autors mit dem "wohl wichtigsten Repräsentanten der KVT bei Depression", Herrn Prof. Hautzinger (S.318):

"Da wir wissen, dass Überzeugtheit (Begeisterung, 'allegiance') ein (der) wesentliche(r) Faktor bei der Wirkung einer Psychotherapie ist, sind die nachlassenden Effektstärken nicht verwunderlich, denn die Begeisterung verblasst und weicht der 'Normalität'."

Ei was! Hier verblüfft sowohl der volksnahe Gehalt dieser 'sehr reifen' Analyse (S. 318), als auch das Geschick in der psychologischen Formulierung, wodurch sie sich abhebt von Volksweisheiten wie 'neue Besen kehren gut!' und 'der Glaube kann Berge versetzen!' Welcher Landarzt könnte diese Erkenntnis so prägnant formulieren?

Seit Jahrzehnten gilt ja nun die RCT-Methodologie (zwei Experimental-, eine Kontrollgruppe, Randomisierung u.a.) als Goldstandard in der Psychotherapie- und in der Pharmakologieforschung. Vor allem wegen des 'technischen Designs', denn jede Verallgemeinerung der Ergebnisse über die jeweiligen Stichproben hinaus ist völlig beliebig. Umstritten ist zudem, ob Resultate, die im Rahmen eines bestimmten Designs entstehen, unabhängig davon als gültig postuliert werden dürfen. Auf der Rennbahn des Vergleichens wetteifern Psychopharmaka und psychotherapeutische Methoden, also Pillen und weitgehend schematisierte, dennoch hoch komplexe zwischenmenschliche Interaktionen, oder letztere nur untereinander, um die besseren 'Wirksamkeitsnachweise'. Das allerdings, so Caspar, mit weitreichenden Folgen, die sich aus dem Papier herauslesen und in fünf Punkten zusammen fassen lassen: Erstens werde nach einer weit verbreiteten Auffassung die Verhaltenstherapie als Technik dargestellt, die analog zu einer psychoaktiven Pille mit gesicherter Wirkung verabreicht werden könne. Zweitens werde, falls man die RCT-Methodologie als Goldstandard für alle empirisch zu klärenden Fragen ansehe, ein großer Teil der Therapiebeziehungsforschung zu Makulatur (S. 320). Drittens sei es völlig aussichtslos für alle Problemgruppen eine RCT basierte Evidenz zu schaffen, "wenn man den Aufwand für eine einzige gute experimentelle Therapiestudie betrachtet." (S. 321) Viertens ließen sich kaum mehr als ein bis zwei störungsspezifische, manualisierte Vorgehensweisen auf dem Niveau erlernen und supervidieren, "auf dem StudientherapeutInnen ihre guten Ergebnisse erzielt haben." (S. 321). Fünftens müsste mit den störungszentrierten RCT-Studien von vorne begonnen werden, sobald sich die Diagnosekriterien im DSM und im ICD wesentlich veränderten.

Die Wirksamkeitsforschung in der Psychotherapie - ein großsprecherischer Zauberlehrling? Oder eher ein anmaßender Ignorant? Abgesehen davon, dass man als Therapeut nicht weiß, ob die neue PatientIn, die die Praxis betritt, zu den nach RCT-Standard erfolgreich Therapierten gehören wird, weil 'empirische Evidenz' eben kein Gesetz ist, welches die nächste Erfahrung absichert, d.h determiniert, verblüfft die Scheinnaivität dieser Kritikpunkte a posteriori. Waren die Mainstream-Forscher tatsächlich so blind für das Konstitutive von Psychotherapie, worin das 'Sprechen' zwischen Menschen einerseits Kommunikation und Beziehung zwischen diesen ist, sowie andererseits Darlegung und Mitteilung? Schon in Bühlers Sprachtheorie ist 'Äußerung' auf der einen Seite, die zum 'Appell' auf der anderen wird, nicht ohne zwischenmenschliche Beziehungsaufnahme möglich. Selbst einem Skinner war doch klar, dass Therapeuten mit ihrem Patienten sprechen! Selbstverständlich konnten die StudientherapeutInnen nicht ohne Beziehungsaufnahme und -gestaltung erfolgreich therapieren. Muss man nicht 'Sprechen' auf eine bloße Informationstechnik reduzieren, um aus dem experimentellen Design vermeintlich eine 'verhaltenstherapeutische Technik' zu isolieren, die jenseits der jeweiligen Sprechakte in Analogie zur Störungsrechnung in der Physik in 'nullter Näherung', d.h. ohne 'Therapiebeziehung' wirksam sein soll? (Heute pflegt man ja lieber von 'Technologie' zu reden.) Solches ist dem empiristischen Erbe in der Psychologie, deren Vorbild von jeher die Physik war, durchaus zuzutrauen.

Freilich lässt sich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, speziell aus der gesundheits-ökonomischen Verankerung nicht zurück holen, was dort bereits angekommen ist. Die RCT-Studien haben die Verhaltenstherapie in die Psychotherapie-Richtlinien befördert. Sie haben ihr - wegen der nachgewiesenen Wirksamkeit bei geringerer Therapiedosis - zugleich die geringsten Stundenkontingente unter den drei Verfahren beschert. (Die beiden anderen Verfahren hatten von jeher ohne solche Nachweise ihren Stammplatz in den PT-Richtlinien. Weiteren Verfahren wird der Zugang erschwert oder gar verbaut durch die Forderung, einen Zusatznutzen nachzuweisen.) Die technische Therapieauffassung von Verhaltenstherapie hat sich samt dem medizinischen Krankheitsmodell dank Internet und Dr. Google weithin ausgebreitet. Inzwischen bilden die auf Basis dieses Goldstandards evaluierten Therapieprogramme die Grundlage für die sich in rascher Entwicklung befindenden, programmierten Online-Therapien, die sich vor allem auf manualisierte Kognitive Verhaltenstherapien stützen. Vermutlich geht es dabei gar nicht anders. Der moderne, gestörte User bekommt seinen Therapeuten als App auf sein Smartphone. Und Viele wollen das vermutlich so, ohne ihre Selbstverdinglichung auch nur ansatzweise zu verstehen. Was bleibt, ist die Hoffnung nachträglich noch Korrekturen einfügen zu können. Hierfür lese ich in Caspars Artikel zwei Ansätze: (1) Die bereits erwähnte Integration anderer Therapiemethoden in die VT. Vermutlich wird diese von vielen Praktikern bereits ausprobiert, aber ohne die für Caspar unerlässliche, zuerst noch empirisch zu sichernde Wirksamkeitsverbesserung. (2) Die Therapieoptimierung über die Verbesserung der Therapiebeziehung. Wie aber soll in 'zweiter Näherung' das Hinzufügen der Therapiebeziehung von statten gehen? Dazu "liegen nur wenige Analysen zur Wirkweise vor." (S.321).

Die Therapiebeziehung ist in der analytischen Psychotherapie - zumindest nach Aussagen ihrer Vertreter - von jeher das agens movens der Behandlung, wenn auch in der speziellen Form der 'Übertragung'. Doch diesem Erzrivalen und seiner tiefenpsychologischen Kurzform bescheinigten Grawe und seine Getreuen nach dem Stand Psychotherapieforschung bis Mitte der Neunziger Jahre ein Desaster in Sachen Wirksamkeitsnachweisen: Keine einzige Studie im 'RCT-Goldstandard' bis dahin. Doch was weiß man in der Verhaltenstherapie über die Wirkweise der Therapiebeziehung? Hinsichtlich dieser scheint sich der VT-Praktiker, so Prof. Caspar, noch eine unbestimmte Weile im Lern- und Probierstadium zu befinden. Denn um für die Praxis wirklich nützlich zu sein, müsste die Forschung zuerst einmal heraus finden, "welche Ingredienzien zu einer guten Beziehung und dann zu einem guten Outcome beitragen, was "idealerweise auch lehr- und einübbar" sein sollte (S.320). Soviel scheint indes bereits fest zu stehen: "Die Bedeutung einer noch systematischeren Beschäftigung mit und der Optimierung der Ausbildung von TherapeutInnen folgt direkt aus der Überzeugung, dass TherapeutInnen wichtig sind." (S.322) Aha! Doch womit beginnen? Mit der Expertise- und Trainingsforschung, denn man müsse das Rad nicht neu erfinden. Lehrreich sei hier, dass Psychotherapie im Gegensatz zur Tischlerei wenig 'intrinsisches Feedback' hervorbringe, weil ein Tischlerlehrling sein fertiges Produkt sinnenkundig vor sich habe. Dagegen sei ein schnelles Feedback vom Patienten, beispielsweise ein zufriedenes Lächeln, kein Garant für einen gelungenen Therapiefortschritt. (S. 322) Nun ja, der Tisch steht schließlich fest, doch die Beziehung ist weiterhin wackelig! Als nächster Schritt wird tutorengestütztes Training in Kleingruppen empfohlen, besonders bei schwerer zu erwerbenden Fähigkeiten wie intensiver Arbeit mit Emotionen (S. 322). Systematisch sei zudem auch die Fähigkeit angehender TherapeutInnen zu trainieren, Informationen, die als Feedback dienen können, optimal zu nutzen. Angedeutet wird weiterhin, dass Art und Umfang der Selbsterfahrung zu erhöhen seien. So müsse ein CBASP-Therapeut sehr sicher sein, dass die emotionale Reaktion, mit der der Patient konfrontiert werde, vor allem mit dem Patienten und nicht mit dem Therapeuten selbst zu tun habe (S. 323). Über das 'wie' dieser Selbsterfahrung schweigt sich der Artikel aus. Eine Art Lehranalyse zwecks Erfahren der Übertragung und Gegenübertragung ist vermutlich nicht gemeint. Am Ende lässt sich nur mutmaßen, dass die 'vierte Welle ' in der Verhaltenstherapie 'wirksame Therapiebeziehung' heißen könnte.

Allein, wozu benötigen wir diese, der doch bereits so 'wirksamen' Verhaltenstherapie noch hinzu zu fügende 'Therapiebeziehung'? Hier hilft der Blick in die Wahrsagekugel für die Zukunft. Wenn aus den wirksamen 'verhaltenstherapeutischen Techniken' in einigen Jahren wirksame Online-Therapien geworden sein werden, die die Ausgaben der Krankenkassen entlasten und die Zahl der nötigen TherapeutInnen reduzieren werden, dann bedürfen die nach wie vor 'schwierigen Fälle' einer Störungsbehandlung 'in erster Näherung' (also mit weiteren, bis dahin integrierten Therapiemethoden) und in 'zweiter Näherung' (also mit besonders wirksamer Therapiebeziehung).



Ins Netz gestellt am 20. Dezember 2016
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie weitere Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.