BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Big Science Strikes Again»
Gastbeitrag von Thorsten Padberg
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Antidepressiva sind eine der meistverschriebenen Medikamentenklassen. Deswegen interessiert die Forschung dazu nicht nur die Wissenschaftler selbst, sondern auch die Öffentlichkeit. Umso wichtiger ist, dass diese Forschung gut gemacht ist. Es gibt erste Hinweise, dass die aktuell in vielen Medien behandelte Cipriani-Studie mit ihren Erfolgsmeldungen nicht gut gemacht wurde.


Wenn der Morgen damit beginnt, dass sich gleich drei der meistgelesenen Texte im englischen Guardian affirmativ mit Antidepressiva auseinandersetzen, dann ist dieser Morgen offenbar, wie auch so viele andere, kein guter für die Leser. Der meistgelesene Artikel verkündet, es sei hiermit offiziell: Antidepressiva wirken wirklich! Öffentlichkeitswirksam darf der Hauptautor der Studie darüber klagen, die Debatte sei bisher leider ideologisch geführt worden, jetzt habe man umfassende Daten. Der kommentierende Redakteur jubelt: Nichts hätte diese „wirksame Behandlungsmethode“ gemein mit „Schlangenöl oder Verschwörungstheorien“. Und bekennt sich gleich dazu, auch selbst die, wie nunmehr wissenschaftlich bestätigt, einwandfreien Präparate einzunehmen.

Ein Blick in die Studie zeigt dann die üblichen Auffälligkeiten. Mehrere der Autoren erhalten Geld von der Pharmaindustrie. Das allein widerlegt natürlich noch nicht die Aussagen der Studie. Verdächtig ist dagegen, worauf der Psychiater und Depressionsexperte David Healy hinweist: Die Daten aus den Studien zu den über hunderttausend Betroffenen, die mit Medikamenten und Placebos behandelt wurden, liegen nicht offen. Zudem sei das gleiche Autorenteam bereits in der Vergangenheit negativ aufgefallen: Mit Empfehlungen für die Verabreichung von Fluoextin an Kinder, abgeleitet aus Studien, die etwa von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA als Nachweis der Schädlichkeit für diese Zielgruppe gelesen wurden.

Und was noch auffällt: Für Fluoxetin (Prozac) ist die Patentbindung ausgelaufen und siehe da: Sogar diese Verfechter der Pillen verkünden nun das, was viele, den Antidepressiva durchaus zugewandte Psychiater schon seit langem gesagt haben: Dass Fluoxetin definitiv einer der schlechteren Vertreter dieser Medikamentenklasse ist.

Ist es die „Ideologie“, die der Hauptautor Andrea Cipriani fürchtet, wenn er sich im Guardian über die bisherige Debatte zur Wirksamkeit von Antidepressiva beschwert? Die Diskussion der Studie selbst jedenfalls vermeidet jede Debatte mit den bereits vorliegenden Resultaten der Antidepressiva-Forschung. Die sehr umfassenden Meta-Analysen von Kirsch et al und Fournier et al, werden nicht erwähnt. Vielleicht liegt das daran, dass die Cipriani-Studie verdecken muss, dass sie hinter den Erkenntnissen dieser früheren Studien, die in die deutsche S3-Leitlinie eingegangen sind, weit zurückbleibt. Deren Hauptergebnis war nämlich: Antidepressiva wirken. Leider ist ein pharmakologischer Effekt aber erst bei sehr schweren Formen der Depression nachweisbar, nämlich ab einem Wert auf der Hamilton-Depressionsskala von mindesten 25 (Fournier) oder 28 (Kirsch). Die Studie erbringt dann absolut nichts Neues. Denn dass man Signifikanzen erzeugt, wenn man einfach eine große, undifferenzierte Gruppe der „Depressiven“ bildet, wusste man schon vorher.

Dennoch hat man die Debatte damit erneut verunklart: Klaus Lieb, Direktor der Uni-Klinik für Psychiatrie in Mainz, lobte denn auch gleich im Deutschlandradio die Studie dafür, dass sie gezeigt habe, „dass im Grunde alle in Deutschland zugelassenen Antidepressiva wirksam seien.“ Nun müsse man nur noch herausfinden, welches Medikament zu welchem Gehirn passe.

Dass Antidepressiva in vielen Fällen nicht wirksamer als Placebos sind, ist inzwischen eigentlich gut belegt. Die aktuelle Studie soll möglicherweise dazu dienen, einen neuen Mythos aufzubauen: Antidepressiva wirken zwar in Massenuntersuchungen nicht besonders, dafür aber im Einzelfall gut, je nach Verträglichkeit und spezifischer Pathologie. Das ist ein Freifahrtschein für ein sich wissenschaftlich gerierendes „Trial-and-Error“ in der Praxis, in der ein Antidepressivum nach dem anderen am Patienten ausprobiert wird, solange bis.... ja, bis was passiert?

Dieses Verfahren, in der Forschung „Switching“ genannt, ist ebenfalls längst erforscht: Wenn man das Antidepressivum wechselt, dann berichten eine Menge der Betroffenen signifikante Verbesserungen. Das gilt manchen als Nachweis, dass nicht jedes Antidepressivum zu jeder Hirnarchitektur passt. Es müsse halt das richtige sein. Jedoch: Wechselt man in einer Kontrollgruppe einfach von einem Placebo zum nächsten, ist der Effekt der gleiche!

Andrea Cipriani hat recht: Die Debatte um Antidepressiva wird ideologisch geführt. Nicht zuletzt von ihm und seinen Kollegen.



Benutzte Literatur


https://www.theguardian.com/science/2018/feb/21/the-drugs-do-work-antidepressants-are-effective-study-shows?CMP=Share_iOSApp_Other

https://www.theguardian.com/society/2018/feb/21/its-official-antidepressants-are-not-snake-oil-or-a-conspiracy-they-work

https://www.theguardian.com/science/brain-flapping/2018/jan/24/antidepressants-please-please-do-not-just-abandon-your-meds-johann-hari

Bschor, T. & Baethge, C. (2010). No evidence for switching the antidepressant: systematic review and meta-analysis of RCTs of a common therapeutic strategy. Acta Psychiatrica Scandinavia, 121 (3), S. 174 - 179.

Cipriani, A. et al (2018). Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. The Lancet. abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32802-7

Fournier, J., DeRubeis, R., Hollon, S., Dimidjian, S., Amsterdam, J., Shelton, R. & Fawcett, J. (2010). Antidepressant Drug Effects and Depression Severity. A Patient-Level Meta-Analysis. Jama, 303(1), S. 47 - 53. Online im Internet: http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=185157 (Stand 22.04.2015).

Kirsch, I. Deacon,. B., Huedo-Medina, T., Scoboria, A., Moore, T. & Johnson, B. (2008). Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Medicine, 5 (2), S. 0260 - 0268. Online im Internet: http://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.0050045 (Stand 22.04.2015)

Ins Netz gestellt am 27. Februar 2018 Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung. Alle Rechte vorbehalten. Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.



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