BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skizzen einer Psychologie des Meinens (4): Gibt es 'eigene' Meinungen?» von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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Nein. [1] Lieber Leser, liebe Leserin, wenn Sie – ganz persönlich jetzt – die Zulässigkeit oder sagen wir besser den Sinn der obigen Frage nicht so richtig verstehen, da Sie meinen, daß schließlich jeder für sich – ganz persönlich jetzt – entscheiden muß, ob er eine eigene Meinung hat, und da Sie, mit Hilfe dieser Ihrer Meinung, die obige Frage gerade eben mit «Ja» beantwortet haben, sollten Sie dringend die anderen Essays dieser Reihe («Meinen: Eine Annäherung», «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» und «Meinen: Im Sog der Sprache») lesen und zusätzlich ausführlich und sorgfältig in der Rubrik «Wahrheiten und Wirklichkeiten» des Skepsis-Reservates herumstöbern, da zu befürchten ist, daß Sie auch ansonsten meinen, daß Sie meinen, was Sie meinen. Also bitte, erst die Essays lesen, und dann noch einmal über die Frage nachdenken. Sonst wird das nix! Und die Fußnoten zwei und drei sind auch nix für Sie. Noch nicht. Also: Finger weg! [2] Lieber Leser, liebe Leserin, wenn Sie – als Connaisseur des Skepsis-Reservates – dieses «Nein» auf die obige Titel-Frage für selbstverständlich halten, ja, wenn Sie etwas verwundert darüber wären, wenn Menschen, die in sozialen Räumen zu sozialen Texten geworden sind, nun doch so etwas wie ‹eigene› Meinungen, welche nicht aus ihren sozialen Räumen herrührten, meinen, spielen oder mit Leben erfüllen könnten, dann sollten Sie diese Fußnote weiter verfolgen. Sie sind hier in gewohnter Umgebung. Und einstimmen möchten wir Sie mit einem Zitat von August Strindberg: «Überall aber sah er, wie die Menschen derselben Zeit dieselben Ansichten über dieselben Dinge aussprachen; die Ansicht der Mehrheit als ihre eigene hinstellten, Phrasen sagten, statt Gedanken Worte zu leihen.» (Am offnen Meer; München: Georg Müller. 1912, S. 74) Denken wir also darüber nach, ob es überhaupt so etwas wie ‹eigene› Meinungen geben kann. Was spräche dafür? Zwei Punkte:

Autopoiese
Die Autopoiese – als Organisationsprinzip alles Lebenden – legt uns nahe, zu vermuten, daß selbst nachgeplapperte Meinungen, Redewendungen und Allgemeinplätze letztlich von einem sich selbstorganisierenden, informationell abgeschlossenen System hergestellt werden. Unser Gehirn spielt Alleinunterhalter und ist dabei permanent gezwungen, angeblich mit den Sinnen Aufgenommenes zu assimilieren oder zu akkommodieren, und damit die allfälligen Perturbationen mit Sinn zu versehen und als ‹Erkanntes› auszugeben. Wir könnten also in diesem Duktus sagen, daß letztlich jede Äußerung, auch eine Meinungsäußerung, ein Ausdruck eines auf sich selbst gestellten und sich selbst organisierenden Systems sei. Aber reicht das, um von ‹eigenen› Meinungskonstruktionsbemühungen sprechen zu dürfen? Wir könnten in diesem Kontext auch noch heranziehen, daß wir ja nie wissen können, wie Standardsätze und Zentralmeinungen in den einzelnen Personen repräsentiert sind, welche «genauen» Vorstellungen Menschen von dem haben, was sie da sagen. Ein schlichter Blick in die Welt zeigt allerdings, daß das Aufsagen konfektionierter Meinungen leicht und glatt aus dem Mund geht, wohingegen die Repräsentationen des Gemeinten in den Köpfen der einzelnen Meinungsinhaber äußerst ungenau und unklar sind, um es freundlich auszudrücken. Bitten Sie, lieber Leser und liebe Leserin, mal jemand darum, seine soeben ‹ex cathreda› ausgeworfene Meinung zu begründen: Was Sie da zu hören bekommen, ist schlimmer als die Meinung selbst. Diese war wenigstens noch einseitig und eingängig. Aber jene? Fazit: Das biologische Prinzip der Autopoiese reicht nicht aus, um von ‹eigenen› Meinungen sprechen zu können. Schauen wir auf den zweiten Punkt, der dafür sprechen könnte, daß es so etwas wie ‹eigene› Meinungen geben könnte:

Meinungsmix
Wir sind uns vermutlich schnell einig darüber, daß nicht zwei Menschen über denselben Meinungsfundus verfügen. Damit meinen wir, daß wir jeweils über eine spezifische Auswahl, eine individuelle Kollektion, eine besondere Kombination von Meinungen, Sprachfiguren und Sagbarkeiten, über ein idiosynkratisches Meinungsgeflecht, einen Meinungsmix also verfügen. Es ist doch sehr unwahrscheinlich, daß zwei Menschen wirklich völlig gleich auf einen sozialen Raum hin konditioniert wurden und Perturbationen (siehe den vorigen Punkt) in gleicher Weise akkommodiert oder assimiliert haben. Schließlich bewegen sich selbst Amöben in einer Nährlösung nicht im Takt; und auch gemeinsam aufwachsende eineiige Zwillinge spielen nicht den ganzen Tag Synchronschwimmen. So weit, so gut. Nur, ist ein eigener Meinungsmix gleichbedeutend mit einer eigenen Meinung? Wir meinen nein. Denn ‹individuelle› Auswahlmuster von tradierten Meinungen sind nur eine Art Zettelkasten, und die einzelnen Zettel stimmen mit den Zetteln, auf denen die angesagten allgemeinen Meinungen und zeitgemäßen Plausibilitäten notiert sind, nahezu völlig überein. Wo ist das Eigene beim Meinungsmix, die eigene Leistung, die eigene Arbeit, das eigene Bemühen und Ringen? Tja, das Meinungsmix-Argument kann uns nicht davon überzeugen, daß es so etwas wie eine ‹eigene› Meinung geben könnte.
Und nun? Wie geht es weiter? Nun ja, wir haben die Lösung des Rätsels schon im heimlichen Lehrplan (vgl. «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale») dieser kleinen Reihe von Essays verraten, indem wir dort einen unserer Lieblingsunterschiede eingeführt haben, den Unterschied zwischen Meinungen und Gedanken. Wir möchten nun hier unsere Gedanken dazu und die dort zitierten schönen Aphorismen nicht wiederholen, sondern hurtig mit einer etwas ‹genaueren› Antwort auf die Titel-Frage um die Ecke kommen: Wir denken, daß es ‹eigene› Meinungen nicht geben kann, wohl aber ‹eigene› Gedanken. Das war's schon. Ein Bild dazu: Eine ‹Meinung› entsteht, indem ein grober Klotz von Mensch mit einer Axt auf ein Stück Holz haut und dieses spaltet. Das Stück Holz symbolisiert ein Stück Wirklichkeitswelt. Der Axthieb auf das Stück Holz zerteilt dieses nun in zwei Teile, in schwarz und weiß, wahr und falsch, und rechts und links fällt jeweils ein dezidiertes, einseitiges, sich selbst genügendes Meinungsstück herunter. Meinungen ähneln sich sehr, sie sind alle einseitig, alle schief, sie lassen alle die andere Seite weg. Ja, Meinungen sind unredlich. Und ein angehender Meinungsaufgreifer, -übernehmer und -haber ergreift sich aus dem Holzhaufen das eine oder das andere Stück und behauptet nun, nicht nur über das ehemals ganze ungespaltene Stück Holz sprechen zu können, sondern sogar über den ganzen Baum, dem dieses Teilchen entstammt. Meinungsaufsager suchen sich also aus dem überschaubaren Holzhaufen von Meinungen einen Teil eines gespaltenen Holzklotzes aus und versprechen damit, auf der Einseitigkeit des fürderhin Gesagten zu bestehen.
Und was wäre ein Gedanke? Wir bleiben im obigen Bild: Um einen Gedanken zu entwickeln, brauchen wir keine Axt. Wir heben ein ganzes, ungespaltenes Stück Holz auf, und betrachten es von allen Seiten. Lange. Oder wir suchen im Holzhaufen herum, bis wir zwei ursprünglich zusammengehörende Holzstücke finden, halten diese an der Spaltfläche zusammen und versuchen uns vorzustellen, wie das Holzstück aussah, bevor es geteilt wurde; und vermeiden vorschnelle und unbedachte Äußerungen über das, was wir zu sehen glauben. So ungefähr könnte ein Gedanke anfangen. Und: «Haben Sie schon je einen Gedanken zu Ende gedacht, ohne auf einen Widerspruch zu stoßen?» (Henrik Ibsen) Alles klar?
‹Eigene› Gedanken also. Ja, es gibt durchaus Menschen, die sich ‹eigene› Gedanken erarbeiten, die – trotz zentralem Dauerdruck, trotz ununterbrochener und brachialer kommunaler und kultureller Definition unserer Wirklichkeitswelt – zu Widerborstigkeiten, Einzigartigkeiten und Idiosynkrasien neigen, die sich Zeit lassen, bei den täglich abgeforderten Zustimmungsbekundungen zu irgendwelchen Brennholzteilen. Und warum sollten wir nicht tatsächlich mal einen ‹eigenen› Gedanken haben? Warum sollen wir nicht – aus uns heraus – ein ‹wirkliches›, ‹eigenes›, idiosynkratisches Gedankengeflecht entwerfen und entwickeln können, also eigene Plausibilitäten, eigene Bedeutungen, eigene Sprachfiguren? In den «Skizzen einer sozial-konstruktivistischen Psychologie» haben wir dies so gesagt: «Eine einzigartige Person, ein Individuum im eigentlichen Sinne, ergibt sich entweder aus dem, was in Erziehung oder Sozialisation nicht funktioniert hat, oder aus dem in einem unglaublichen Kraftakt und in einer selbstreferentiellen Sternstunde entstandenen übermütigen und heroischen Einnehmen einer distanzierenden Metaebene. Identität, Eigenwilligkeit, Eigenbewegung entstehen also, wenn dem sozialen Zurichtungsprozeß der eigenen Person nachgespürt wird.» (Bochumer Bericht Nr. 5, Seite 27)
Und was ist dann? Wenn wir ‹wirklich› einen eigenen Gedanken entworfen haben? Tja, dann bleibt für drei Sekunden das Weltall stehen, wir schweben – völlig losgelöst – durch den Kosmos, wir ahnen die Unendlichkeit alles Geistigen, wir rühren an das Unberührbare, wir erahnen das unzerstörbar Eigene in uns, bis uns irgend jemand mit etwas profan Sagbarem, mit einer gelenken oder ungelenken Meinung wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt! Schade, wir wären gerne fort geblieben!
Da Sie uns so wohlwollend bis hierin gefolgt sind, lieber Leser und liebe Leserin, schenken wir Ihnen noch eine dritte Fußnote. Da ist sie:
 [3] Noch zwei Gedanken zu ‹eigenen› Gedanken:
• Leider spielen im Alltag viele Menschen das Gesellschaftsspiel, bei anderen Menschen solche eigenen, solche in sich selbst entwickelten Gedanken nicht anzuerkennen und in einer Art Schnellroutine das selbständige, eigenständige Denken zu entwerten und gering zu schätzen. Diese Leute bemühen sich, die Gedanken einer anderen Person nicht nur als Zitat zu denunzieren («Aber steht das nicht so bei Hegel, Nietzsche, Marx etc.?»), sondern ganz allgemein vom ‹eigenen› Denken abzuraten. Wir kennen nur ganz wenige Menschen, die auf eigenständige, merkwürdige und ungewöhnliche Gedanken eines Anderen mit Bewunderung, ja mit Ehrfurcht reagieren. Diese wenigen Glücklichen gestatten sich – ganz dankbar – die Freude, gerade diese Gedanken hören oder lesen zu dürfen. Und sie erlauben sich auch so etwas wie Wehmut und Neid bei dem Gedanken daran, wie begrenzt und eingeengt doch das eigene Denken und Sprechen ist.
• Eine typische und von den Konsequenzen her sehr traurige und einengende Meinung ist es auch, zu glauben, daß ein eigener Gedanke unbedingt etwas genuin Neues sein müßte, das überhaupt noch nie gedacht wurde. Das ist Unsinn, denn wahrscheinlich ist alles schon einmal gedacht worden. Nur, auch wenn es diesen Gedanken schon gegeben hat, können wir doch unabhängig davon darauf gekommen sein. Und selbst wenn wir den Gedanken von jemand anderem aufnehmen und ihn zu unserem Gedanken machen, wird unser Gedanke dadurch doch nicht entwertet. Denn es kommt nicht darauf an, wer einen Gedanken zuerst hatte, sondern wer ihn besser hat! Damit meinen wir, daß der eigene Weg zu einem Gedanken eben diesen Gedanken adelt. Und war es kein eigener Weg, war es eh' nur eine Meinung: «Nicht ob das Resultat originell, sondern ob man selbst dazu gelangt sei, darauf kommt es an. Also eigentlich auf den Kredit des Finders. Ich habe dies und das in mir gefunden und fand es nachträglich in Büchern. Da erkannte ich, daß es nur auf den Weg ankomme und nicht auf das Ziel. Und fand auch diesen Gedanken in Büchern.» (Karl Kraus; in: Die Fackel Nr. 259/60, S. 55, vom 13.7.1908)












Erstellt: 22. November 2001 – letzte Überarbeitung: 22. November 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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