Die Themen Scham, Schuld und Gewissen beschäftigen uns in der Bochumer Arbeitsgruppe schon eine geraume Weile, denn während der regelmäßigen Redaktionskonferenzen - eigentlich müßte mal jemand was über die Besonderheiten dieser ‹Meetings› schreiben - erzählen wir uns in zunehmender Weise Geschichten aus dem Alltag postmoderner Menschen, in denen im Detail eine ganz globale Abkehr von empfundener Scham oder Schuld und eine beeindruckende Gewissenlosigkeit deutlich werden. Diese Geschichten sind nicht lustig. Und deswegen haben wir bisher den Gedanken, einige Traktate über einen eventuelle ‹Abschied› von Scham, Schuld und Gewissen zu schreiben, immer wieder aufgegeben. Nicht überall hinsehen zu müssen, kann zu einem starken Gefühl der Erleichterung führen.
Doch Beispiele und Erzählungen häufen sich. Damit meinen wir nicht Berichte über die offensichtliche Maßlosigkeit von Bankdirektoren oder Firmenchefs, die mit dem von ihrer rechten Hand geformten Siegessymbol einen Gerichtssaal betreten und sinngemäß zum Besten geben, «nur in Deutschland würde Leistung bestraft». Wir meinen auch nicht das Tagesgeschäft der Schmierlappenpresse, das mit den Worten ‹Skrupel- und Gewissenlosigkeit› gar nicht mehr zu erfassen ist. Auf keinen Fall auch denken wir an einschlägige TV-Formate, in denen Mitmenschen sich öffentlich entblößen, beschimpfen, mit Schmutz bewerfen und ihre Menschenwürde für den Kick aufgeben, kurze Zeit im TV gewesen zu sein. Und als letztes denken wir auch nicht an Politiker und Politikerinnen, die scheinbar nur eine angelernte Verhaltensfertigkeit als Voraussetzung zur Ausübung ihres ‹Berufes› zeigen müssen: Die scham- und endlose Beschimpfung und Bekämpfung des politischen Gegners.
Nein, wir denken an Geschichten aus dem Alltag, die uns selbst widerfahren und uns - gelinde ausgedrückt - immer wieder überraschen. Hier einige Beispiele, damit Sie, lieber Leser und liebe Leserin ein Gespür dafür bekommen, über was wir in dieser kleinen Reihe von Traktaten schreiben möchten.
- Da erklimmen wir eine Straßenbahn, stehen im Gedränge, und direkt vor uns plaziert sich eine junge Frau mit einer vehement duftenden Döner-Tasche. Ein Blick auf die in fünfzig Zentimeter Entfernung essende Frau, ein Augenkontakt, kann sie nicht irritieren. Sie ißt. Warum auch nicht? Sie ißt eben. Allein. Für sich. Wo auch immer. Essen ist ihre Privatangelegenheit. Wenn da noch andere Leute sind, die das stören könnte, ist das nicht ihr Problem. Die junge Frau hat mit ihrer Döner-Tasche eine besondere Weltzugangsberechtigung. Darauf besteht sie. Fragen wir uns also ganz zeitgemäß: Scham? Wofür soll sich die junge Frau schämen? Schuld? Ja, was hat sie denn getan, außer Ort und Zeit ihrer ganz persönlichen Speiseneinnahme selbst zu definieren? Gewissen? Und, bitte, was soll dieses Ereignis mit dem Wort ‹Gewissen› zu tun haben?
- Da entwickelt eine junge Frau mit einem ‹Freund› ein Konzept, und als tatsächlich der erste Auftrag eingeht, drängt der ‹Freund› die junge Frau mit einer inszenierten Beschimpfung aus dem Projekt, um die ersten Früchte der gemeinsamen Arbeit allein genießen zu können. Die junge Frau hat sich nun über mehrere Wochen hinweg ganz umsonst intensiv mit einer Angelegenheit beschäftigt. Fragen wir uns also ganz zeitgemäß: Scham? Wofür soll sich der ‹Freund› denn schämen? Schuld? Ja, was hat der ‹Freund› denn getan, außer auf seinen Vorteil zu achten? Und was soll dieses Ereignis mit dem Wort ‹Gewissen› zu tun haben?
- In einem beschaulichen Café sitzen verschiedene Leute in großem Behagen. Da klingelt laut ein Mobilphon. Mit einer faszinierenden Geste nimmt ein junger Mann dieses auf, um - nach ganz kurzer Zeit - mit lauter Stimme und großen Gesten irgendeinen ‹untergebenen› Arbeitnehmer in Grund und Boden zu schreien. Die Beobachterin dieses Geschehens blickt sich schnell im Café um und ist froh, daß eine Mißbilligung der Teilhabe an der Persönlichkeitsaufbauschung des jungen Mannes, seiner prinzipiellen Intrusion und insbesondere an Wortwahl, Syntax und Duktus seiner Äußerungen auf vielen Gesichtern zu lesen ist. Fragen wir uns also ganz zeitgemäß: Scham? Wofür soll sich der junge Mann denn schämen? Schuld? Ja, was hat der junge Mann denn getan, außer jemandem zu zeigen, wo der Hammer hängt? Und was soll dieses Ereignis mit dem Wort ‹Gewissen› zu tun haben?
- Ein junge Frau hat einem jungen Mann Geld geliehen. Nach einer ganzen Weile scheint die junge Frau nicht mehr daran zu denken. Von einer dritten Person darauf angesprochen, ob der junge Mann nicht von sich aus die junge Frau an die Verleihung des Geldes mit einer Rückgabe desselben erinnern könne, antwortet der junge Mann. «Nee, wieso denn. Wäre doch super, wenn sie vergißt, daß sie mir was geliehen hat.» Fragen wir uns also ganz zeitgemäß: Scham? Wofür soll sich der junge Mann denn schämen, wenn er doch nur an seinen ‹Vorteil› denkt? Schuld? Ja, was hat der junge Mann denn getan, außer darauf zu hoffen, daß er eine Schuld nicht einlösen muß? Und was soll dieses Ereignis mit dem Wort ‹Gewissen› zu tun haben?
- Eine junge Frau ruft eine Freundin an. Während des Telefonates ist ganz deutlich zu hören, daß die Angerufene zusätzlich zum Telefonieren noch andere Angelegenheiten erledigt (etwas am Computer eingeben, in der Küche werkeln, Fernsehen etc.) und ihre Aufmerksamkeit somit teilt und nicht in einer Ausschließlichkeit auf das Telefongespräch konzentriert. Die junge Frau sagt nach einiger Zeit, daß sie davon irritiert sei, daß ihre Freundin sich neben dem Telefonieren noch mit anderen Dingen beschäftige und sie fragt, ob denn ihrer Freundin dieses Gespräch eher gleichgültig sei. Die Freundin ist baß erstaunt: Was soll denn an dieser ‹postmodernen Gleichzeitigkeit› [1] Vgl. dazu unser «Arbeitspapier Nr. 11 Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne» falsch sein? Fragen wir uns also ganz zeitgemäß: Scham? Wofür soll sich die Freundin denn schämen? Schuld? Ja, was hat die Freundin denn getan, sie hat doch mit der jungen Frau telefoniert, oder? Und was soll dieses Ereignis mit dem Wort ‹Gewissen› zu tun haben?
- Ein junger Mann, von seiner Kleidung her mit einer großen ‹street-credibility› ausgezeichnet, ist in einem Gerichtsverfahren zu einhundert ‹Sozialstunden› verurteilt worden. Nach acht dieser Stunden, nach einem Tag also, verabschiedet er sich eigenwillig aus dieser Verpflichtung. Nun steht er wieder vor Gericht. Im Namen des Volkes. Der junge Mann meint zu seiner Entschuldigung, daß es bei der Stelle, wo er einen Tag gearbeitet habe, «eben nur Stress» gegeben habe und es deswegen «doch völlig logisch» sei, daß er dann da weggeblieben sei. Und er könne überhaupt nicht verstehen, wofür er jetzt bestraft werden solle. Habe er jemanden umgebracht? Habe er mit Drogen gehandelt, wie viele andere das machten? Nein. Eine Strafe für ihn sei deswegen «in jedem Fall ungerechtfertigt.» [2] Diese nette Geschichte entnehmen wir einer Gerichtsreportage im Bochumer Teil der WAZ, Nr. 140, vom 19. Juni 2003. Fragen wir uns also ganz zeitgemäß: Scham? Wofür soll sich der junge Mann schämen? Schuld? Ja, was hat er denn getan, außer seine eigenen Regeln zu definieren und sich über Regeln der Pólis hinwegzusetzen? Und was soll dieses Ereignis mit dem Wort ‹Gewissen› zu tun haben?
Wir haben noch eine Fülle weiterer Beispiele aus dem Alltag präsent, die sich mit Gerichtsverhandlungen befassen (siehe oben). Hier offenbaren Angeklagte und deren Anwälte mitunter eine solch stupende Scham- und Gewissenlosigkeit, daß wir diese Geschichten einstweilen sammeln und aufheben bis zu dem Tag, an dem dann wohl ein Essay über ‹Anomie› geschrieben werden muß, eine sich stetig entwickelnde spezifische postmoderne Gesetz- und Bindungslosigkeit.
Doch zurück zu unserem Alltag. Auch hier verfügen wir noch über viele weitere Erzählungen und Berichte, die alle etwas mit einer Unzuverlässigkeit, Unachtsamkeit, Unverbindlichkeit, Unpünktlichkeit, Unabsehbarkeit, Unangemessenheit, Unanständigkeit, kurz, mit ‹schlechten Manieren›
[3] Wir erinnern hier gerne an das schöne Buch von Asfa-Wossen Asserate (2003): Manieren. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 226. Dieses Buch hat Anfang 2004 eine erstaunliche Auflagenhöhe erreicht. Wie kommt das nur? zu tun haben: Da werden Absprachen und Zeiten nicht eingehalten, wichtige Aufträge nicht erledigt, Versprechen gebrochen, Verbindlichkeiten verlacht, kleinliche Vorteile ganz selbstbewußt genommen, und vieles mehr. Das ist ja auch bei der Komplexität menschlichen Zusammenlebens nicht verwunderlich. Interessant ist aber eben, wie etwa ‹unzuverlässige› Mitmenschen argumentativ auf ihre ‹Unzuverlässigkeit› und Unberechenbarkeit reagieren. Ob da also ein Scham- oder Schuldgefühl entstehen mag, nach dem man anderen durch sein Verhalten einigen Schaden zugefügt hat.
Wir ersparen uns weitere nähere Beschreibungen, da wir hoffen, mit den oben geschilderten biotischen Situationen deutlich gemacht zu haben, was wir in dieser kleinen Reihe diskurrieren werden: Da ist eine Abkehr von einer Welt außerhalb des ‹Ichs› zu beobachten und damit eine unbedingte Hinwendung zum ‹eigenen Ich›. Das ‹Ich› meint, keine ‹Umwelt› nötig zu haben. Das hat Konsequenzen.
In den folgenden Traktaten beginnen wir da, womit wir nach reiflicher Überlegung auch beginnen sollten: Mit der Scham. Wir glauben, daß man sich erst einmal überhaupt schämen können muß, um so etwas wie ein Schuldgefühl während einer konkreten Angelegenheit entwickeln zu können. Und daß dann - später - über ein gedankliches Bewegen von Argumenten über die eigene Schuld oder Unschuld so etwas wie ein ‹Gewissen› entstehen kann. Der Reihe nach also.
Erstellt: 4. März 2004 - letzte Überarbeitung: 4. März 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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Dr. Artus P. Feldmann.