BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Sozial-konstruktivistische Marginalien (1): Deskriptive Sprache, Textualität, Relativismus» von Albertine Devilder
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Schafft aber nicht der Name erst das Ding?
Solang eine Erscheinung namenlos bleibt,
ist sie nicht erkannt,
und vielleicht verschwinden viele,
ohne Schaden anzurichten,
weil sie noch keinen Namen haben.
(Jakob Wassermann)

Einführung

Wir leben heute in einer Welt der Fakten - und deswegen in einem epistemologischen Niemandsland. In den gängigen universitären Seminaren spielen wissenschafts- und erkenntnistheoretische Überlegungen keine Rolle mehr, statt dessen bemühen sich alle Beteiligten, insbesondere auch die Studierenden, möglichst schnell das, was ihnen als ‹Fachwissen› oder ‹Faktenwissen› nahe gelegt wurde und wird, in der Praxis ‹anzuwenden›, natürlich im Auftrag von jemandem, der dadurch einen Mehrwert einstreicht. Im finalen Kapitalismus sind die Universitäten zu ‹Fachschulen› geworden, und die zu erwartenden ‹Elite-Universitäten› werden zu ‹Ober-Fachschulen› werden. Denn grundlegende, philosophische, ja existentielle Fragen gibt es nicht mehr, nur noch ‹Anwendungsfragen›. Betriebswirtschaft also.

Nett ist es nun, wenn einer dieser in geistiger Unschuld sozialisierten Studierenden davon erfährt, daß es neben dem von ihm und den ihn Lehrenden vertretenen ‹Naiven Realismus› noch andere Modelle gibt, mit Hilfe derer sich die Welt erforschen ließe, etwa den ‹Sozialen Konstruktivismus›. Denn dieser Studierende braucht sich nur wenige Sekunden mit dem Grundgedanken des ‹Sozialen Konstruktivismus› zu beschäftigen, schon legt ihm der soziale Raum, in dem er es vorzieht, sich zu bewegen, ein ‹Argument› in den Mund, welches auszusprechen er sich nicht enthalten kann: «Wenn alles nur konstruiert ist, dann ist doch alles relativ.» Wirklich? Schauen wir uns im ersten Teil der kleinen Anmerkungen zum Sozialen Konstruktivismus dieses im Alltag so weit verbreitete Standardargument etwas näher an.


Deskriptive Sprache

Zu Beginn müssen wir einen kleinen, sehr leicht verständlichen Schlenker machen, um die Dinge da draußen in der Welt (Paul Watzlawicks Wirklichkeit erster Ordnung) von dem Sprechen über die Dinge da draußen in der Welt (Paul Watzlawicks Wirklichkeit zweiter Ordnung) unterscheiden zu lernen und uns die Frage zu stellen, ob eine deskriptive und ganz und gar nicht relative Sprache überhaupt möglich ist. (Wie im völlig benebelten medialen Alltag unserer Jetztzeit diese Frage ununterbrochen einseitig beantwortet wird, braucht uns jetzt nicht zu interessieren.)

Ein eher schlichter Einwand gegen das sozial-konstruktivistische Konzept, daß unsere soziale und personale Welt von Sprache zusammen gehalten werde, wäre, daß dann ja erst einmal eine äußere Welt existieren müsse, über die dann, womöglich auch noch denotativ, also rein beschreibend und bezeichnend, gesprochen werden könne. Selbst wenn dies möglich wäre, was Soziale Konstruktivistinnen bezweifeln, so ließen sich Denotatoren doch nur immer bereichs-spezifisch, kontextuell und in sozialen Räumen eingebunden denken. Es gibt keine Denotatoren ohne jemanden, der sie ausspricht. Und es gibt niemanden, der Denotatoren ausspricht und keinen sozialen Räumen angehören würde, deren Sprache er eben spricht.

Da wissenschaftlicher Sprachgebrauch nun stets durch Abstraktion das Beschriebene zu dekontextualisieren versucht, kann unser Sprachgebrauch nicht denotativ (sondern bloß konnotativ) funktionieren, denn das Beschriebene hat sich einfach zu weit von dem entfernt, was da draußen in der Welt angeblich vorzufinden sein soll. Dies gilt insbesondere für die Psychologie, die eine denotative Sprache bestenfalls auf der Ebene der Operationalisierungen erlaubt. Diese aber sind zweitrangig; denn es geht ja in einer Wissenschaft (etwa der Psychologie) um die zentralen theoretischen Konstrukte, die naturgemäß freie, ‹unsichtbare› Erfindungen sind und sein müssen und denen selbst eine denotative Sprache, gäbe es sie denn, kaum beikommen könnte.

Soziale Konstruktivistinnen sind mit Wittgenstein geneigt, den Glauben an die Möglichkeit einer deskriptiven Sprache aufzugeben. Stattdessen setzen wir das Sprachspiel - in etwa also das, was Watzlawick die Wirklichkeit zweiter Ordnung nennt - an die erste Stelle: Um unsere Sprachspiele überhaupt spielen zu können, brauchen wir sprachliche Begriffe, auf die sich unsere Spiele in der und mit der Sprache beziehen, und um das Rasseln und Rumoren der Signifikanten überhaupt rechtfertigen und an unsere sozialen Praxen anbinden zu können, brauchen wir den Mythos vom Signifikat. Die ‹nichtsprachliche› Welt, die Tatsachenwelt a priori, wird erst im aktuellen Sprachspiel erfunden und untergeschoben, um den Sprachspielen den Geschmack von rechtmäßiger Bezugnahme und damit von etwas Ernstzunehmendem zu geben. Scheinbar reichen die vielen uns verfügbaren Zeichen zum Sprechen nicht aus, wir müssen uns beim Bezeichnen noch zusätzlich mit der Rede vom Bezeichneten beruhigen. Komischerweise gelingt uns das Gerede aber auch und gerade dort, wo wir die unterstellte Wirklichkeit einfach wieder vergessen oder über sie hinwegreden. Ja, das könnte es sein: Wir reden nicht über die Wirklichkeit, sondern wir überreden sie, die Gestalt anzunehmen, in der wir gerne über sie sprechen würden!

Wenn wir den Zusammenhang von Signifikat und Signifikant auf diese Weise umstülpen, taucht so etwas wie ‹die Welt da draußen› erst aus dem Sprachgebrauch auf und - nicht nur bei Politikern und anderen Unsicherheitsmanagern - gleich wieder unter. Wir sollten uns von dem alten Aber- und Irrglauben verabschieden, die ‹Welt› gehe dem Wort voraus. Nein, die ‹Welt› geht mit dem Wort einher.


Textualität

Ich möchte dem Begriff ‹Deskriptive Sprache› denjenigen von der ‹Textualität› gegenüber stellen. Mit konstruktivistischen Augen gesehen ist alle Realität textuell. Jedwede Wirklichkeit beruht auf sprachlich verwirklichten Unterscheidungen, auch - und gerade - wenn nicht gesprochen wird. Sprache verweist nicht auf eine Realität jenseits von Sprache, sondern liefert schon vorweg die textuelle Struktur von Wirklichkeit überhaupt. Ein konkreter Text gibt einer sprachlichen Möglichkeitsdynamik Statik und Stabilität; damit gerinnt in der Sprechpraxis die fluide Textualität zu einer Wirklichkeit in der ‹Welt an sich›. Indem Sprache gebraucht wird, verhält sie sich, als ob sie das halten könnte, worüber gesprochen wird, als ob also etwas wißbar sei. Und Texte neigen zur Reifikation. Je öfter bestimmte Sprachfiguren ausgesprochen werden, desto näher glaubt man einer mit den Sprachfiguren verbundenen Wirklichkeit auf der Spur zu sein.

Textualität ist historisch, sozial und lokal geworden und gebunden. In konkreten historischen Situationen wird auf spezifische Weise Sprache gebraucht und damit die textuelle Imprägnierung des ‹Wirklichen› hergestellt. Textualität definiert die Möglichkeitsräume des ‹Wirklichen›, sie stellt die Tafeln für das Texten heraus. Dabei ist Textualität dynamisch: Unsere Sprache repräsentiert nicht, sondern verweist beweglich, flüssig und wehend auf Aspekte und ihre Beziehungen untereinander. Dabei hilft, ob man sie beherrscht oder nicht, die Grammatik.

Textualität referiert nicht auf eine extra-textuelle Wirklichkeit, auf die, wie in traditionellen Wahrheitstheorien, wahre Sätze sich durch Übereinstimmung beziehen. Vielmehr nehmen wir an, daß Texte selbstreferentiell sind und bloß auf andere Texte verweisen - was man Intertextualität nennt. Im Rahmen einer textuellen sozial-konstruktivistischen Perspektive gibt es auch keine Agentinnen sozialer Konstruktionen, sondern nur textuell und diskursiv vorfabrizierte Personenpositionen, die ihrerseits wiederum an der laufenden Diskursproduktion beteiligt sind, die ihrerseits wiederum zur Personenkonstruktion beiträgt und so fort. Alles persönliche Erleben ist demnach textuell. Seiendes von der Art des Daseins ist je immer schon textualisiert. Das Private geschieht in tradierten Textilien. Agentinnen stehen immer schon im Dienste und unter der Oberhoheit des Textualen. Das Traditionale an der Textualität ist für die Agentinnen freilich bindend. Es lassen sich zwar in einem spezifischen sozialen Kontext mehr oder weniger beliebige Texte, nicht jedoch beliebige Textualitäten konstruieren. Aus der allgültigen Textualität unseres Seins hienieden gibt es demnach kein Aussteigen, selbstverständlich auch nicht für Konstruktivistinnen. Selbst die emphatische Abgrenzung von einem Text bindet an eben diesen Text, selbst die Negation eines Text-Repertoires bestätigt eben dies Text-Repertoire.

So gibt es, aufgeklebt auf das ontologische Unterholz der Textualität Konstruktionen, also Text-Repertoires, die schon qua Regel stabil und unveränderlich sind. Ein gutes Beispiel liefert die Rede über Mann oder Frau, männlich oder weiblich, kurz, über das, was heute Geschlechtszugehörigkeit oder ‹Gender› genannt wird. Sprachliche Konzepte entwickeln immer ein Eigenleben und erscheinen uns so als Aspekte der wirklichen Wirklichkeit, weil sie genau so textuell konstruiert sind: Da bei unserem Beispiel ‹Gender› schon sprachlich als ein Unveränderbares, Überdauerndes vorgängig imprägniert ist, erscheint uns ‹Gender› eben als ‹wirklich› und unveränderbar. Dies aber zeigt nicht die ontologische Echtheit des Konzeptes ‹Gender›, sondern vielmehr die Unhintergehbarkeit und Vorgeformtheit der sprachlichen Imprägnierung. Mit der Markiertheit von ‹Gender› als stabil und unveränderlich ist nämlich schon die soziale und gesellschaftliche Aufteilung von Lebensbereichen vorweggenommen, und wenn uns im täglichen Gerede sonst nichts mehr einfällt, können wir mit schlafwandlerischer Sicherheit immer noch auf diese scheinbar steinharte Unterscheidung zurückgreifen. Ja, selbst der postmoderne ‹Metro-Sexuelle› läßt nicht ab vom entweder-oder, von der zweiwertigen ‹Gender›-Begrifflichkeit. Der ‹Metro-Sexuelle› ist bloß oft so verwirrt und erschöpft, daß er aktuell nicht weiß, auf welche ‹Gender›-Seite er sich gerade schlagen soll.

Daß wir aus der vorgängigen Ausgelegtheit unserer Welt nicht aussteigen können, macht also gerade die Unhintergehbarkeit von Textualität aus. Was ein Satz bedeuten kann, ist immer schon angelegt, bevor Sprechhandeln auch nur anhebt. Der Sinn ist schon immer anwesend, bevor der Satz zur Welt kommt.

Die Textualität von Sein impliziert allerdings neben und mit der Stabilität auch Veränderungen. So läßt sich leichthin beobachten, wie sich Text-Repertoires mit der Zeit und in verschiedenen sozialen Räumen verändern: Einige Wörter und Texte kommen hinzu, andere verschwinden. Und die jeweils ‹aktuellen› Text-Repertoires zu sammeln, aufzuzeichnen, zu beschreiben und auf ihre sozialen Implikationen hin abzuklopfen, das genau ist ja die schönste und vornehmste Aufgabe sozialkonstruktivistischen, kulturphysiognomischen und mythographischen Fragens und Forschens.


Relativismus

Kehren wir zur Eingangsfrage zurück: «Wenn alles nur konstruiert ist, dann ist doch alles relativ.» Nun, aufmerksame Leser und Leserinnen ahnen bereits, wohin der Hase laufen wird. Zum einen läßt sich dieser Vorwurf nur erheben, wenn der Vorwerfende von einem Standpunkt aus argumentiert, bei dem der Begriff ‹Objektivität› so absolut genommen wird, daß von ihm aus gesehen sich ‹Relatives› und ‹Nicht-Relatives› überhaupt unterscheiden läßt. Das führt zu der bereits in vier anderen Essays beantworteten schönen Frage, wie wirklich denn die Wirklichkeit nun sei. Ich werde darauf nicht mehr eingehen.

Zum anderen müssen wir bei eingehender Betrachtung unserer Lebenswelt sagen, daß das allseits um uns herum konstruierte ‹Soziale› eben nicht ‹relativ› ist, sondern tendenziell ‹absolut›, ‹objektiv› und ‹verbindlich›. Denn diskursiv organisierte, machtvolle ‹Wahrheitssysteme› (sensu Michel Foucault) legen immer schon im Vorhinein fest, wie ‹Wirklichkeit› in vivo zu praktizieren ist. Und diese machtvollen ‹Wahrheitssysteme› machen bei weitem nicht alles Mögliche möglich. Nein, in fast allen sozialen Räumen ist das Verhalten und Erleben der Rauminsassen nicht nur nicht relativ, sondern schon vorgängig gängig - und damit allzu nahe liegend.

Unser Begriff von der ‹Textualität› negiert ja gerade die Beliebigkeit, weil ‹Textualität› sich eben als Unhintergehbares und damit als quasi-objektives Kriterium aufführt. Oder anders: Die Vorstellung von der ‹Textualität unseres Seins› erweist sich hier als harte Letztbegründung, ja als Ontologie im Vollbesitz ihrer modernen Kräftigkeit. Von Beliebigkeit keine Spur. Noch einmal: Unsere in Sprachspiele eingebunden Sprechversuche in aktuellen sozialen Kontexten sind nicht beliebig, sondern verbindlich. Ein vereinzeltes Subjekt, daß aus dieser sozial- und sprachgeschichtlich gewordenen Gebundenheit herausfällt, landet daher auch nicht im Relativismus, sondern in der Klapse.

Gehen wir weiter: Das gegen den ‹Relativismus› angestimmte und oft gehässige Gezeter kommt in aller Regel von weißen Männern aus der oberen Mittelschicht, die von der von ihnen propagierten Wirklichkeit - dem ‹Kapitalismus› - und der mit ihr verbundenen Wahrheitsgarantie und Faktenversicherung - den ‹empirischen Wissenschaften› - enorm profitieren. Mit einer Infragestellung der ‹wirklichen Wirklichkeit›, in der diese Männer leben, ja, selbst mit einer nur vorsichtigen Relativierung der Stützpfeiler, auf denen ihr ‹Wahrheitssystem› beruht, sehen diese mächtigen Männer ihre legitimistischen Felle davon schwimmen. Die Ablehnung eines wie auch immer gearteten ‹Relativismus› hat daher auch immer politische Gründe, die ganz erheblich mit dem Erhalt von Macht zu tun haben.

Aber natürlich läßt sich die Bedrohung durch einen ‹Relativismus› und damit durch eine wie auch immer empfundene ‹Beliebigkeit› auch psychologistisch sehen: Ein existentialistisches Hinausgeworfensein in ein bodenloses Leben innerhalb eines relativistischen Möglichkeitsraumes kann einem vereinzelten und nur auf dem festen Holzfußboden der ‹wirklichen Wirklichkeit› lebensfähigen Subjekt schon Angst einjagen.

Ich möchte abschließend nur noch einen Vorwurf im Rahmen diese Relativismus-Debatte erwähnen, den ich immer wieder höre und auf den ich schon tausendmal eingegangen bin. Er lautet: Wenn die ‹wirkliche Wirklichkeit› unzugänglich sei, wenn ‹alles konstruiert› sei, wenn folglich Fragen von Wahrheit und Nicht-Wahrheit nicht entscheidbar seien, dann habe man im politischen Diskurs keine ‹harten›, ‹objektiven› Argumente zur Hand und alle Gegenwehr würde schwierig bis unmöglich. Ja, genau besehen verlierten dann politische Entscheidungen jeden Grund und Boden. Deswegen seien Soziale Konstruktivistinnen und andere Textualitäts-Fans politisch impotent.

Gegen diesen Vorwurf läßt sich nun aber gerade die spezifische Obacht sozialer Konstruktivistinnen für das Beliebige im Diskursiven anführen, die sich aus der konstruktivistischen Betonung der Textualität unseres Seins ergibt. Wir hören nämlich genau hin, wenn etwa im politischen Hinterzimmer geredet wird, und wir betrachten es ja geradezu als unsere Aufgabe, wenn nicht sogar als Berufung, diesem Gerede auf die langen Finger und die spitzen Zungen zu schauen und zu hauen und die metaphorischen Pfropfen, mit denen Mächtige ihre Wirklichkeitsräume zustopfen, wieder herauszuziehen und zu rufen: «Sehet, dieser Satz war aus einem Wachs des Nichts, und wer sich den in die Ohren stopfen läßt, darf sich nicht wundern, wenn er - oder sie - nix mehr mitkriegt.» So ist die Dekonstruktion von Texten ja eines unserer vornehmsten Anliegen und als solches, zusammen mit den vielen Texten, die wir zur Verfügung stellen, alles andere als politisch impotent. Die textuell imprägnierte, diskursiv fabrizierte, interaktionell ausgehandelte Realität ist verläßlich und verbindend genug, um politische Entscheidungen treffen zu können.



Erstellt: 27. April 2005 - letzte Überarbeitung: 27. April 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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