BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skeptische Bemerkungen zu einigen beliebten Modellen der Verhaltenserklärung (2): ‹Humanismus›» von Albertine Devilder
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1 Einführung

In unserem Arbeitspapier Nr. 11 ‹Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne› haben wir ganz anmutig die drei wesentlichen Kulturepochen herbeigezaubert, die unser heutiges Meinen und Denken über Menschen im wesentlichen bestimmen. Es ist sehr sinnvoll, Menschenbilder, ‹implizite› Theorien über das Funktionieren von Menschen oder gar psychologische ‹Persönlichkeitstheorien› auf diese Kulturepochen zurückzuführen, da sich damit das den allfälligen Modellen der Verhaltenserklärung Gemeinsame gleichsam ohne Zwang ergibt, ja aufdrängt.

In diesem Traktat geht es um die vielen Modelle, die auf Gedanken fußen, die im Zeitalter der Romantik gedacht wurden. Zur Erinnerung skizziere ich hier noch einmal das romantische Bild vom Menschen: Menschen sind ehrfurchtgebietende Einzigartigkeiten, die alle Zeit auf dem Weg sind zu einer ganzen, vollständigen und voll funktionierenden Person; einer Person, die die Kraft, die Potenz und den Willen hat, sich zu entfalten, zu wachsen, ihr Bewußtsein zu erweitern und intensive Gefühlszustände zu erleben und zu erkunden. Das Zeitalter der Romantik hat uns also die ganz wunderbare Idee hinterlassen, daß wir alle es wert sind, etwas aus uns zu machen.

Diese romantische Grundüberzeugung vom ‹Wert› jedes Menschen beeinflußt auch heute noch nicht nur jeden ‹Küchen-Diskurs› über mögliche Verhaltenserklärungen, sie ist auch in allen Lehrbüchern der ‹Persönlichkeitspsychologie› zu finden. Klar, in ‹wissenschaftlichen› Texten klingt das nicht ganz so prosaisch wie in der Romantik, denn Poesie ist nicht die Muttersprache von Wissenschaftlerinnen, aber immerhin gibt es diesen Rekurs auf die Romantik: Man nennt die Modelle heute ‹humanistische›, ‹phänomenologische›, ‹kognitive› oder ‹Selbst-Theorien - niemals aber romantische Theorien - und einige sind auch heute sehr populär. Damit wir wissen, wovon wir reden, möchte ich nur einige Namen nennen: Gordon W. Allport, Carl Rogers, Abraham Maslow und George A. Kelly, die als die Dinosaurier einer humanistischen Psychologie gelten.


2 Grundgedanken

Ich möchte nun das in der Einführung zu dieser Reihe skizzierte Bild vom Palimpsest aufgreifen und fragen, was in den romantischen Modellen von der Person sichtbar wird, was als Eigentliches durchschimmert, wenn wir das offensichtliche Verhalten, wenn wir die Oberfläche abkratzen oder abwaschen.


2.1 Binnenwelt

Aus der Überzeugung, daß jeder Mensch eine ehrfurchtgebietende Einzigartigkeit ist und daß jeder Mensch es wert ist, etwas aus sich zu machen, entsteht der entscheidende Grundgedanke romantisch orientierter Modelle der Verhaltenserklärung, nicht auf die Außenwelt zu achten, wie sie angeblich für alle Menschen in gleicher Weise vorhanden sein soll, sondern auf die Binnenwelt einer einzelnen Person, aus der ja die Wahrnehmung eben dieser einen spezifischen Außenwelt entsteht: «Sage mir, wie du dich und die Welt siehst, und ich sage dir, wer du bist.» Das ist durchaus konstruktivistisch: Menschen nehmen die Welt, in der sie leben, nicht so wahr, wie sie ist, sondern so, wie sie sie eben wahrnehmen, für wahrnehmen, für wahr halten. Das Wort ‹phänomenologisch› paßt in diesem Zusammenhang außerordentlich gut, denn die ‹Phänomenologie› ist ja die Lehre von der Entstehung und Form der Erscheinungen im Bewußtsein, nicht die Lehre von den ‹wirklichen› Dingen.

Die Binnenwelt, die private Phänomenologie, die Selbst- und Weltsicht einer Person steht also im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und diese privaten Weltsichten, diese persönlichen subjektiven Konstrukte, die Begriffe und Konzepte also, mit denen Individuen versuchen, sich die wahrgenommene Welt gefügig, zu Willen zu machen, sind die Ursachen dafür, warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten. «Unsere Meinungen von den Dingen quälen uns, nicht die Dinge selbst», sagt Michel de Montaigne. Und Otto Weininger sagt: «Wir erwehren uns der Welt durch unsere Begriffe!» Ein ziemlich grausamer Satz, aber für romantische Modellkonstrukteure unendlich wahr!


2.2 Entfaltung

Aus dem Gedanken heraus, daß jeder Mensch eine ehrfurchtgebietende Einzigartigkeit ist und daß jeder Mensch es wert ist, etwas aus sich zu machen, entwickelt sich klar die Ablehnung jeglicher Form von Determinismus: Menschen sind niemals festgelegt auf irgendetwas und dies noch ein für allemal! Menschen sind aktiv und frei, sie leben im Hier und Jetzt, und sie möchten jetzt authentisch, d.h., in einer großen Stimmigkeit mit sich selbst leben. Und Menschen bergen ein sagenhaftes Entwicklungs-, Wachstums- und Veränderungspotential in sich, Menschen haben unglaubliche Entfaltungsmöglichkeiten. Dazu kommt die Überzeugung, daß Menschen einen freien Willen haben und bewußt und willentlich zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählen. Allerdings tragen sie auch die Verantwortung für das, was sie tun.


2.3 Gefühle

Romantische Modelle der Verhaltenserklärung strapazieren nun insbesondere den Gedanken, daß alle Konstruktionen und Einschätzungen der eigenen Person, anderer Menschen und der Welt an sich mit mehr oder minder starken Gefühlen verbunden sind, wobei Gefühle immer was ganz Echtes, Wahres, Unmittelbares und Authentisches sind. Und nur zu oft - so die romantische Sage - schlummern unsere wahren Gefühle als unentdecktes oder ungenutztes Potential in uns und warten nur darauf, endlich erkannt und herausgelassen zu werden.


2.4 Annahmen zur Struktur

Um nun unangenehme Fragen von Forscherinnen und Forschern aus anderen Modellhäusern beantworten zu können, wieso und warum Menschen überhaupt in der Lage seien, die Welt so zu sehen, wie sie lustig sind und warum sie zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten frei und zielsicher wählen und dabei auch noch unglaubliche Gefühle haben könnten, zaubern romantische Persönlichkeitstheorien in die Menschen hinein ein Konstrukt, ein Universum, eine Ganzheit, eine Gestalt, die sie das ‹Selbst› oder das ‹Selbstkonzept› nennen. Das ist kein übler Trick. Denn es gibt im gesunden Menschenverstand eine Menge von Worten mit der Vorsilbe ‹selbst›: Selbstbild, Selbstachtung, Selbsttäuschung, Selbsteinschätzung. Der große Duden zählt von ‹Selbstabholer› bis ‹Selbstzweifel› knapp 200 Wortverbindungen mit ‹Selbst›. Naiv gesagt: Wenn es so viele Worte gibt, die mit einem ‹selbst› anfangen, dann muß es auch so etwas wie unser ‹Selbst› - und damit uns selbst geben.

Dieses ‹Selbst› ist natürlich niemals fertig oder abgeschlossen, es ist ein andauernder, fortdauernder Prozeß, ein langer, mehr oder minder ruhig vor sich hin plätschernder Fluß. Natürlich können wir nicht erwarten, daß romantische Modelle angemessen definieren können, was denn nun das ‹Selbst› als Struktur sei. Auf jeden Fall kann man mit dem Begriff ‹Selbst› sehr gut arbeiten. Denn setzt man ein den Menschen innewohnendes ‹Selbst› voraus, lassen sich leicht Vorstellungen darüber entwickeln, wie dieses ‹Selbst› derzeit ‹real› daher kommt und wie es idealerweise aussehen könnte: Wer bin ich, und wer möchte ich gerne sein? Das ist eine Frage, die jeder Mensch sofort versteht. Und schon gibt es theoretische, ja wissenschaftliche Begriffskombinationen wie ‹Ideal-Selbst› und ‹Real-Selbst›: Das ‹Ideal-Selbst› soll als die Summe aller Wunschvorstellungen über die persönliche Entwicklung gelten, und das ‹Real-Selbst› den ‹tatsächlichen› momentanen Zustand eines ‹Selbst› wieder geben. Und dieses ‹Real-Selbst›, dieses Bild von der eigenen Person im Hier und Jetzt kann naturgemäß positiv oder negativ sein. Schon ergeben sich therapeutische Ideen aller Art!


2.5 Annahmen zur Dynamik

In allen Modellen zur Person und zur Erklärung von Verhalten muß nicht nur eine vermutete Struktur in die Menschen hinein erfunden werden, nein, es müssen auch Gedanken zur Dynamik entwickelt werden, die deutlich machen, warum Menschen überhaupt irgendetwas tun. Annahmen zur Dynamik sollten also Auskunft darüber geben, was die Menschen antreibt und ‹motiviert›. Nun, in romantischen Modellen wird hier als dynamische Quelle so etwas wie eine Tendenz, ein Sehnen, ein Bedürfnis nach ‹Selbstverwirklichung› und ‹Selbstaktualisierung›, ja nach ‹Selbsterfüllung› in die Menschen hinein erfunden. Jedes Individuum soll unbedingt danach streben, seine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erweitern und zu entfalten. Diese dynamische Treibkraft forciert die Selbstentwicklung und steckt ‹hinter› der Person als Geschehen.


2.6 Zur Logik von Verhaltens-Problemen

Und schon können romantische Modelle ‹Verhaltensprobleme› und ‹Verhaltensstörungen› psychologisch erklären. So kann man die geringe Entfernung des ‹Real-Selbst› vom ‹Ideal-Selbst› als psychische und körperliche Gesundheit definieren - und erhält Applaus. Denn ein jeder kann sich ohne Mühe vorstellen, daß Menschen mit einer großen Diskrepanz zwischen erwünschtem ‹Ideal-Selbst› und empfundenen negativen ‹Real-Selbst› nicht besonders glücklich sein können. Genauso gut läßt es sich denken, daß große Diskrepanzen zwischen dem Selbst-Konzept und körperlichen Erfahrungen nicht besonders günstig sind. Die leicht nachzuvollziehenden romantisch orientierten Abweichungs- und Störungsmodelle sind auch heute noch überaus plausibel und deswegen weit verbreitet.


2.7 Forschungsmethoden

Romantische Modelle der Verhaltenserklärung haben nun ganz bestimmte Vorstellungen darüber, wie man oder frau sich methodisch dem privaten Kosmos einzelner Menschen zu nähern hat. Wenn jeder Mensch eine eigene Realität, eine eigene Weltsicht hat, müssen romantische Forscherinnen sich genau diese subjektiven Weltkonstruktionen von den Menschen erzählen lassen, denn auch die untersuchte Person ist ein Forscher. Den Untersuchenden bleibt nur die Rolle der ehrfürchtig staunenden Zuhörerin, die erlebt, wie ein Mensch sich selbst erforscht.

Es ist also ganz offensichtlich, daß man hier nicht irgendwelche selbst erfundenen Fragen oder andere Quälereien auf die zu untersuchenden Personen wirft, nein, es geht um ihre subjektive, eigentümliche, einmalige, private, skurrile, idiosynkratische Sicht, es geht um ihren privaten und ehrfurchtgebietenden Kosmos. Die Forscherin zeichnet diese Narrationen nur auf und versucht anschließend, sie zu verstehen. Dabei sollte sich die Forscherin in die einzelnen untersuchten Personen hineinversetzen und sich bemühen, die Welt so zu sehen, wie sie sie sehen. Forschungstechnisch kann das nur bei idiographischen Untersuchungen, bei Einzelfallstudien enden. Alles andere würde auch überhaupt nicht zum Menschenbild der Romantik passen. Völlig sinnleer ist auch die Vorstellung, die Selbstkonstruktionen einzelner Menschen in Zahlen übersetzen zu wollen und dann einen Mittelwert über alle untersuchten Menschen hinweg zu bestimmen. Was sollen wir mit einer Durchschnittszahl anfangen, der keiner entspricht? Und sind Zahlen, also Quantitäten, denn nichts anderes als gleichgültig gewordene Qualitäten?


2.8 Zum Verhältnis von Untersuchenden und Untersuchten

Die eben geschilderten Methoden machen deutlich, daß sich die Untersuchenden und die Untersuchten als gleichwertige Subjekte, als Forschungspartner gegenüber stehen. Dies funktioniert nur, wenn die Untersuchenden eine symmetrische Beziehung zu den untersuchten Subjekten aufbauen, eine Beziehung ohne Machtgefälle und ohne Herrschaftsverhältnisse. Das große aus dem Zeitalter der Romantik geschöpfte Ziel ist also ein herrschaftsfreier Forschungs-Dialog. Und oft müssen romantisch orientierte Forscherinnen erst einmal das Vertrauen wiederherstellen, daß ganze Kolonnen von ‹modernen› Fachleuten vor ihnen mißbraucht und zerstört haben.


3. Konsequenzen

Das waren die theoretischen Grundgedanken romantischer Modelle der Verhaltenserklärung. In diesem Abschnitt schauen wir uns die ‹praktischen› Konsequenzen an: Wozu führt die romantische Sicht auf die Person? Welche Einwirkungsmöglichkeiten ergeben sich? Ist Veränderung möglich?

Schauen wir noch einmal auf die Struktur, die von den romantischen Modellen in die Person hinein erfunden wird: Die theoretische Trennung zwischen ‹Real-Selbst› und ‹Ideal-Selbst› verweist darauf, daß Menschen nicht zu allen Zeiten perfekt und vollkommen sind. Es gibt wohl immer etwas, womit man nicht zufrieden ist. Im Prinzip aber kann jeder sich selbst und aus sich heraus verändern, so wie er das will, da ja jeder den kosmischen Drang in sich spürt, persönlich weiter zu wachsen und sich zu verwirklichen. Veränderungen sind also prinzipiell möglich. Es kann aber nun sein, daß bei einigen Menschen diese Kraft, sich selbst zu verändern, etwas behindert, eingeschränkt oder verschüttet ist. Diesen Menschen muß dann geholfen werden, sich selbst zu helfen. Auch das ist ein Satz, der heute noch überaus aktuell ist. Die Helfer und Helferinnen sind dann Lehrer, Erzieher, Therapeutinnen oder Sozialpädagogen, die ihre Klienten - wieder - auf den Weg zur Selbst-Entfaltung bringen, indem sie ihnen nicht nur eine ‹positive Wertschätzung›, ‹emotionale Wärme› und ein ‹einfühlendes Verständnis› entgegenbringen, sondern insbesondere als Helfer ‹echt› und übereinstimmend mit sich selbst auftreten. Helfer dürfen keine ‹professionelle Maske› tragen.

Romantische Modelle zeichnen sich durch einen unglaublichen Veränderungs-Optimismus aus. In den 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es eine Fülle von Encounter-, Selbsterfahrungs- und Sensitivity-Trainingsgruppen [1] In dieser Zeit gehörte es in meinem kommunalen System zum guten Ton, in regelmäßigen Abständen ein ‹Selbsterfahrungsmarathon› zu besuchen und völlig verändert, mit riesengroßen Augen und einem unergründlich wissenden Lächeln wieder nach Hause zu kommen. Und alle Bekannten fragten: «Was habt ihr denn da nur gemacht?» Heute läßt sich dieser Effekt eher erzielen, wenn man von einem buddhistisch orientierten Schweige-Retreat oder einem ‹Sesshin› - einer intensiven Übung des ‹Zazen› unter Anleitung eines ‹Rôshi› - heimkehrt., die, wie die heute beliebte Hypnotherapie von Milton Erickson oder die Gesprächspsychotherapie, von dem überaus romantischen Satz ausgingen und -gehen: «Wir tragen alles in uns, um unser Leben zu bewältigen!» oder auch: «Patienten haben alles dabei, was sie brauchen!» Nur kann es eben vorkommen, daß ein Mensch im Moment, so der unerschütterliche romantische Optimismus, dies nicht erkennt! So kann eine Therapie, die etwa aus einem Arbeiten in Trance besteht, die verschütteten Ressourcen von Patienten wieder freilegen und ihm dabei helfen, neue Kraftquellen für sein Leben zu finden. Einige therapeutische Schulen greifen auch die romantische Plausibilität auf, daß psychische Probleme sich in körperlichen Verhärtungen und Verpanzerungen abbilden. Und wenn diese körperlichen Abweichungen verändert werden, wenn ‹Bioenergie› wieder frei fließen kann, dann - so die romantische Hoffnung - lösen sich auch die psychischen Probleme.

Aus dem romantischen Gestus dieser Erklärungsmodelle erwächst noch eine spezifische Sicht auf Verhaltensabweichungen und Verhaltensprobleme aller Art: Abweichungen, Störungen und Probleme werden nicht als Schicksal oder als Krankheit in die Menschen zurückverlagert, sondern sie werden als Chance gesehen, halbe Menschen wieder zu ganzen Menschen zu machen. Es ist so völlig klar, daß romantische Modelle immer Aspekte der Resozialisierung betonen.


4. Erwägungen

Im folgenden möchte ich einige skeptische Bemerkungen zur theoretischen Potenz romantischer Modelle anfügen. Dabei werde ich mich allerdings nicht lustig machen über die fragwürdige begriffliche Qualität der in die Menschen hinein erfundenen Struktur (dem Selbst) und Dynamik (der Selbstverwirklichung). Die theoretischen Begriffe anderer Modelle sind auch nicht besser. Nein, aus sozial-konstruktivistischer Sicht liegt ein wesentlicher Knackpunkt romantischer Modelle hier: Wir nehmen Menschen und das was sie uns über ihre Meinungen, Gedanken, Gefühle und Kognitionen erzählen ernst, nehmen es an und sind auch noch echt dabei. Nur, woher wissen die Menschen das, was sie da über sich selbst erzählen? Haben Menschen überhaupt einen authentischen Zugang zu sich selbst? Können sie überhaupt Auskunft über sich selbst geben? Fragen über Fragen. Gute Fragen.


4.1 Sind unsere Kognitionen wirklich unsere Kognitionen?

Oder sind unsere Kognitionen nicht eher zeitgemäße Plausibilitäten, alltagspsychologische Schlußfolgerungen, aufgeschnappte Meinungen, politische Vulgärideologien, religiöse Dogmen, kulturelle Weisheiten, Mythen und Truismen aller Art. In Alltag und Wissenschaft können wir viele Menschen beobachten, die nur solche Kognitionen haben, die andere auch haben, deren Kognitionen also öffentlich definiert und hergestellt sind. Oft führt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, zu einem kommunalen System genau dazu, daß wir die Kognitionen haben und berichten, die in eben diesem kommunalen System Sinn machen! Sind unsere Kognitionen also wirklich unsere Kognitionen?


4.2 Haben wir überhaupt ständig Kognitionen und gehen diese unserem Verhalten voraus?

Das von romantischen Modellen der Verhaltenserklärung herbei gezauberte Idyll, daß wir erst immer Kognitionen haben und dann folgerichtig handeln, ist für uns sehr angenehm. Wir hoffen, daß uns dies vom Tier unterscheidet, das ja leider angeblich nur Instinkte hat. Nur, schon bei geringfügigem Nachdenken über uns selbst entdecken wir, daß vermutlich weite Teile unseres Tages erfüllt sind von einem merkwürdig tranigen Herumstisseln und Herumdrömmeln, von seltsam wiederkehrenden Verhaltens- und Denkfiguren. Wir tappen durch unseren Alltag, und solange alles so ist, wie es immer war, solange alles an seinem Platz ist, geht es gut, aber schon bei der kleinsten Änderung vom Gewohnten und Gewöhnlichen reagieren wir erstaunlich ratlos! Haben wir überhaupt ständig Kognitionen? Ich weiß nicht, ich vermute, daß wir ganz oft eher so eine Art kognitiver Geizkragen oder eine Unterart der Familie der Reflexamöben sind und daß wir ganz oft erst im Nachhinein die Kognitionen abrufen oder herstellen, die mit dem vorangegangenen Verhalten übereinstimmen, es erklären, entschuldigen oder begründen sollen.


4.3 Sind erzählte Kognitionen nicht einfach Rekonstruktionen unter sozialem Druck?

Schon in einer Liebesbeziehung merken wir, daß es ernst wird, wenn uns die Geliebte fragt: «Was denkst Du gerade?» Tja, was erzählen wir dann? Und in einer Forschungssituation ist es ja nicht anders. Wenn wir gefragt werden, was uns in dem und dem Kontext durch den Kopf ging, was werden wir dann erzählen? Einfach irgendetwas Plausibles und Akzeptables? Was ist mit dem sozialen Druck der Befragungssituation? Drängt der nicht auf plausible Kognitionen? Stellen wir uns vor, daß uns ‹nichts› durch den Kopf ging, können wir das einer Geliebten oder in einem Forschungskontext sagen? Vermutlich werden wir als Antwort irgendeine ausgeleierte Sprachfigur wählen, die sagbar und plausibel erscheint.


4.4 Wenn wir über unsere Kognitionen berichten, werden wir dabei nicht durch unsere sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten behindert?

Jeder spürt, daß gegenüber der Reichhaltigkeit seiner Vorstellungen, Bilder und Träume seine sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ausgesprochen ärmlich und unzureichend erscheinen. Unser Denken, Fühlen, Wollen, Erleben, Genießen und Lieben wird durch Sprachklischees eingezwängt und normiert. Vermutlich sind wir niemals in der Lage, unsere privaten Phänomene oder gar die Geschichte unseres privaten Lebens in einer einigermaßen angemessenen Art und Weise sprachlich darzustellen. Wir alle leben in einem mehr oder minder engen Sprachgefängnis. Thomas Bernhard sagt: «Die Phrase ist unser lebenslänglicher Kerker!» Wenn wir also Menschen fragen, was sie bewegt und was sie sich wünschen, hören wir dann das, was das einzigartige Individuum ‹wirklich› empfindet, oder lauschen wir nur Klischees?


5 Schluß

Ich habe in diesem Traktätchen einige Grundgedanken, Bestimmungsstücke und praktische Konsequenzen romantischer Modelle der Verhaltenserklärung skizziert. Sehr erfreulich ist, daß sich diese Modelle für das interessieren, was Menschen selbst so denken und nicht für das, was Menschen aus der Sicht von Forscherinnen denken sollten. Das ist wunderbar. Dieser Blick auf die privaten Konstruktsysteme, auf die private Weltsicht ist im Vergleich zu dem, was uns in den herkömmlichen ‹modernen› Modellen der Verhaltenserklärung noch erwarten wird, geradezu befreiend.

Romantische Modelle übersehen allerdings, daß es auch eine Verhaltensseite gibt, die mit kognitiven Konstruktionen nichts zu tun zu haben braucht, und sie übersehen, daß der Zusammenhang zwischen Kognition und Verhalten in vielerlei Hinsicht ungeklärt ist. Und romantische Modelle reden die einzelne Person so stark, daß sie übersehen, wie Medien, wie soziale und kommunale Systeme, wie Familien und soziale Beziehungen aller Art permanent darauf aus sind, uns unsere Konstruktionen von uns selbst und der Welt zu nehmen, indem sie sie uns geben.

Aber ich möchte diesen kleinen Essay romantisch, ja, tröstlich enden lassen. Wenn denn schon unsere Konstruktionen von uns selbst, von anderen Menschen und von der Welt fast ausschließlich sprachliche Konstruktionen sind, dann möchten ich Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, den wunderschönen Gedanken nahe bringen, daß wir selbst vielleicht auch nur ein Text, ein Sujet für eine kleine Erzählung, eine winzige Ansammlung von Worten im Kosmos, ein sanft raschelnder Aphorismus im Abendwind sind. Ich wär's zufrieden.



Erstellt: 26. November 2005 - letzte Überarbeitung: 26. November 2005
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