BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Welt als Bühne – die Menschen als Schauspieler»
von Albertine Devilder
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«Man sucht immer das Beständige am Menschenbild.
Aber ich glaube schwerlich daran.»
(Michel de Montaigne) [1] Michel de Montaigne (1985): Zum Zeitvertreib und um die Phantasie zu tummeln. Aus den Essais gezogen von Karl Bernhard. Zürich: Diogenes Verlag. detebe-Klassiker 21282, Seite 65.

«Was wir tun, entspricht der Rolle, die wir spielen.»
(Michel de Montaigne) [2] Michel de Montaigne (1985) a.a.O. Seite 47.

Einführung: Vom Charakter

Der Gedanke, die Welt als Bühne zu sehen und uns als Schauspieler, die auf dieser Bühne spezifische, definierte soziale Rollen spielen, gefällt uns sehr. Denn ‹Soziale Konstruktivistinnen› haben es ja mit dem ‹Sozialen›, vulgo, wir interessieren uns für ‹soziale Räume› und deren Spielregeln und Gestenfiguren. Diesen Gedanken – von der Welt als Bühne – gibt es übrigens schon seit Jahrhunderten, doch seltsamerweise haben die ‹einschlägigen› Wissenschaften ihn erst seit etwa hundert Jahren entdeckt – und immer noch nicht verstanden. So spielen die sogenannten Rollentheorien in der traditionellen empiristischen Persönlichkeitspsychologie keine Rolle. Wie auch, durch das Einräumen von Rollenkonzepten würden ja Persönlichkeitskonzepte ausgeräumt.

Das liegt nun daran, daß die zuständigen etablierten Wissenschaften wie Psychologie, Biologie, Medizin und Sozialwissenschaften (Wie, die auch? Ja.) Personen, also uns, liebe Leserin, lieber Leser, nach wie vor als Bündel mysteriöser Charaktermerkmale sehen, als Sack voller individueller Eigenschaften, als getriebenes Bündel von genetisch angelegten Motiven und Bedürfnissen (sagen wir mal: ‹Erhaltung der Art›, ‹Weitergabe der eigenen egoistischen Gene› oder ähnlicher Unsinn). Diese Meinung vom Menschen als Behälter diverser ‹psychischer› Innereien ist aber nun leider gar nicht psychologisch im eigentlichen Sinne, sie ist ur-psychologisch, sie ist psychologistisch, das heißt, sie ist so, wie sich alle Nicht-Psychologinnen Psychologie vorstellen – und glücklicherweise auch in den Tausenden von Ratgeber-Büchern wieder finden. Und wie stellen sich Laien und Wissenschaftler das nun vor, das mit dem Verhalten und dem Charakter?

Nun, sie können nicht anders, als jedes Geschehen, an dem Menschen beteiligt sind, psychologistisch zu verdoppeln: Hier ist ein Verhalten, eine Lebensäußerung, eine Handlung, und schwupp, erfinden sie dazu eine Ursache, eine Eigenschaft, ein Motiv, einen Trieb, was auch immer. Wobei in der Spätmoderne noch die besonders lustige Meinung – gleichsam wie ein Sahnehäubchen – auf die etablierte Meinung von den innerpersonalen Eigenschaften und Merkmalen gestülpt wird, daß nicht wir, sondern unser Gehirn hinter ‹unseren›(?) zentralen Merkmalen und Verhaltensweisen liege. Unser Gehirn, so geht derzeit die Sage, entscheide darüber, was wir tun, und ‹wir› (wer jetzt?) kriegen das immer erst etwas später mit. Ach ja. Das wird eines Tages als der allergrößte Blödsinn empfunden werden.

Doch zurück: Im Psychologismus, im psychologistischen Geschwurbel vom Charakter einer Person, wird alles doppelt gesehen, was nur einmal da ist. In der Betrachtung oder Beobachtung ein und desselben Verhaltens ‹haben› wir plötzlich nicht nur das Verhalten, sondern auch eine Verhaltensursache, also ein Motiv, eine Eigenschaft, einen Drang, was auch immer. Sehr spannend, aber durchaus folgerichtig, ist, daß soziale Räume, soziale Kontexte oder andere Menschen bei der Definition, der Diagnose einer Person und einer Persönlichkeit keine Rolle spielen. Eine Person definiert sich aus sich, also aus ihrem ‹Ich› heraus. Da brauchen die etablierten Wissenschaften keine sozialen Räume. Klar, das ist die wissenschaftliche Unterfütterung des so nervenden ‹Ich›-Getöses in der Spätmoderne.


Frühe Rollenkonzepte

In diesem Abschnitt gehen wir zurück in das 16./17. Jahrhundert und zitieren eine sehr berühmt gewordene Passage von William Shakespeare aus seinem Stück «As You Like It». [3] II. Akt, siebente Szene. Aus dem oben aufgeführten Motto von Michel de Montaigne – «Was wir tun, entspricht der Rolle, die wir spielen.» – ersehen wir, daß der Gedanke von der Welt als Bühne zur gleichen Zeit sowohl in England als auch in Frankreich geliebt wurde. Und als Bonmot sollten wir festhalten, daß beide Autoren tatsächlich zur selben Zeit gelebt haben, Shakespeare von 1564 bis 1616, und Montaigne von 1533 bis 1592.

JAQUES: All the world's a stage,
And all the men and women merely players;
They have their exits and their entrances;
And one man in his time plays many parts,
His acts being seven ages. At first the infant,
Mewling and puking in the nurse's arms;
Then the whining school-boy, with his satchel
And shining morning face, creeping like snail
Unwillingly to school. And then the lover,
Sighing like furnace, with a woeful ballad
Made to his mistress' eyebrow. Then a soldier,
Full of strange oaths, and bearded like the pard,
Jealous in honour, sudden and quick in quarrel,
Seeking the bubble reputation
Even in the cannon's mouth. And then the justice,
In fair round belly with good capon lin'd,
With eyes severe and beard of formal cut,
Full of wise saws and modern instances;
And so he plays his part. The sixth age shifts
Into the lean and slipper'd pantaloon,
With spectacles on nose and pouch on side;
His youthful hose, well sav'd, a world too wide
For his shrunk shank; and his big manly voice,
Turning again toward childish treble, pipes
And whistles in his sound. Last scene of all,
That ends this strange eventful history,
Is second childishness and mere oblivion;
Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans everything. [4] Für alle diejenigen, denen dieses wunderschöne alte ‹Englisch› unvertraut ist, hier eine Übersetzung in ein wunderschönes altes Deutsch, von August Wilhelm von Schlegel (1767-1845). Die unverzeihliche optische Aufhebung des Zeilen- und Versmaßes aus Platzgründen bitte ich zu verzeihen:
Jacques. Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler. / Sie treten auf und geben wieder ab, / Sein Leben lang spielt einer manche Rollen / Durch sieben Akte hin. Zuerst das Kind, / Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt; / Der weinerliche Bube, der mit Bündel / Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke / Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte, / Der wie ein Ofen seufzt, mit Jammerlied / Auf seiner Liebsten Braun; dann der Soldat, / Voll toller Flüch und wie ein Pardel bärtig, / Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln, / Bis in die Mündung der Kanone suchend / Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter / Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft, / Mit strengem Blick und regelrechtem Bart, / Voll weiser Sprüch und Allerweltssentenzen / Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter / Macht den besockten, hagern Pantalon, / Brill auf der Nase, Beutel an der Seite; / Die jugendliche Hose, wohl geschont, / 'ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden; / Die tiefe Männerstimme, umgewandelt / Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt / In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem / Die seltsam wechselnde Geschichte schließt, / Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen, / Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.


Die zentrale Metapher, daß die Lebensspanne eines Menschen ein Schauspiel in sieben Akten darstelle, ist schön beobachtet, doch für uns zu grob und ungenau. Aber immerhin, nicht auf den vermeintlichen ‹Charakter› einer Person zu schauen, sondern das Denken und Verhalten in einen Entwicklungsablauf zu bringen, der mit sozialen Gelegenheiten und Räumen zu tun hat, das ist eine schöne Idee von Shakespeare.


Moderne Rollenkonzepte

Sie kennen die Grundgedanken moderner Rollentheorien, lieber Leser und liebe Leserin: Hier sind wir alle Darsteller, die in verschiedenen sozialen Kontexten verschiedene soziale Rollen aufgrund verschiedener sozialer Positionen spielen. Hier wird also gesagt, daß soziale Situationen (Weihnachten, Vorlesung, Urlaub, Liebesgeflüster, Restaurant) und soziale Positionen (Studentin, Professorin, Sekretärin, Politikerin, Mutter, Geliebte) unser Verhalten bestimmen, indem sie eben nahe legen, was jeweils zu tun oder zu sagen ist. Soziale Situationen und Positionen sind also mit Erwartungen bezüglich des zu zeigenden Verhaltens verknüpft, nach denen wir uns zu richten haben, wollen wir einen bestimmten sozialen Konsens nicht verletzen. Das Einhalten von Rollenvorschriften in einem bestimmten sozialen Raum läßt sich so auch als das Sich-Einlassen auf bestimmte soziale Normen verstehen.

Wenn wir uns die Entwicklung der Kulturepoche der Moderne betrachten, dann erscheint es uns sehr plausibel, daß die frühen Rollenkonzepte sehr stark mit einem jeweiligen Beruf verbunden waren, ist doch die ‹Moderne› – bis zum Anfang dieses Jahrtausends – gekennzeichnet durch das Ineinanderfallen von Beruf und Person. Nun, in der Moderne 2.1 ändert sich das gerade, denn wenn es für viele Kulturinsassen immer weniger Arbeit, immer weniger spezifische Berufe, immer weniger ‹dauerhafte› Arbeitsverhältnisse und immer weniger Lohn gibt, löst sich die einstige strikte Kopplung von Beruf und Person auf. Etwa 100 Jahre alte Romane, in denen ein Förster, ein Arzt, ein Apotheker, ein Richter und ein Lehrer am Stammtisch die Welt verhandeln, erscheinen uns heute nur noch rührend, ja, nostalgisch. In der Moderne 2.1 hat die verbliebene ‹Arbeit› neue ‹Ichs› kreiert, die sich mit ihrer Zukunftsunsicherheit, Bindungslosigkeit und an ‹Informationen› hängenden Desorientierung allenfalls eine unbestimmte Patchwork-Biographie erarbeiten können:
«Der Arbeitsmensch in der Moderne 2.1 erscheint uns in seiner bedingungslosen Flexibilität und Allzweckwaffen-Mentalität leicht als proteisch, denn er ist sowohl geographisch mobil als auch verwandlungsfähig in seinen Fähigkeiten und Neigungen.» (Moderne 2.1, Seite 33)
Spätmoderne ‹Ichs› haben – wie Proteus in der griechischen Mythologie – ihr ‹Ich› sozialen Gelegenheiten anzupassen:
«Proteus ist unglaublich wandlungsfähig, doch das Ziel seiner Verwandlung ist immer nur sein Aktivismus, seine Geschäftigkeit als Beschäftigungs- und Prostitutionsfähigkeit, und – natürlich – sein Konsumismus. Ja, dieser Proteus bleibt ein Objekt, er wird von der Merkatokratie und den Märkten gelenkt, er bleibt Spielball der gespenstischen Mächte der Moderne 2.1.» (Moderne 2.1, Seite 34)
Daß auch die Geschlechtszugehörigkeit zu einem spezifischen Rollenverhalten in spezifischen sozialen Räumen führt, daß als Sex (die biologische Ausstattung) und Gender (die geschlechtsspezifische Psyche) wohl zu trennen sind, ist eine Erkenntnis, die erst wenige Jahrzehnte alt ist.


Spätmoderne Rollenkonzepte

Da die Kulturinsassen in der Moderne 2.1 – wie oben kurz skizziert – mit der eigenen Arbeitsbiographie immer weniger in der Lage sind und sein werden, sich ein einigermaßen stabiles ‹Ich› zu basteln, werben die ‹Herren des Wörterbuchs› massiv und ununterbrochen dafür, daß sich heute jeder als ein ‹Ich› bezeichnen und fühlen darf, wenn er in seinem unabdingbaren Konsumismus radikale Entscheidungen zwischen Tiefstpreisen und Aktionspreisen zu fällen in der Lage ist. Die Kulturinsassen werden darüber hinaus ständig ermuntert, ‹ihr Ding› zu machen, daß heißt, etwa irgendein sinnloses Hobby zu pflegen, was sie dazu berechtigt, in einer TV-Freak-Show aufzutreten und dabei die Adelung und Bestätigung ihres ‹Ichs› mitzunehmen.

Wir sehen schon jetzt, daß ein ‹Ich› in der Spätmoderne in erster Linie keine Berufsrolle mehr zu spielen hat, sondern seine ‹eigene› ‹Ich-Rolle›: ‹Sei der du bist!› Tja, so ist das mit dem spätmodernen ‹Ich›:
«Es ist buchstäblich entleert, aber voller Informationen. Es ist unter Menschen, aber ohne Bindungen. Es ist ohne Geschichte, aber der Zukunft zugewandt.» (Moderne 2.1, Seite 24)
Das ist neu – und noch weitgehend unerforscht. Wir vermuten, daß es in der Spätmoderne kaum mehr eine Rollenvielfalt einer Person (Schlosser, Ehemann, Vater, Kassierer, Freund, Fußballer, Bierdeckelsammler etc.) geben wird, sondern eher eine Rolleneinfalt. Wenn wir junge Leute, deren ‹Ich› heute eher eine Benutzeroberfläche präsentiert, dabei beobachten, welche und wie viele soziale Rollen sie spielen und in ihrem soziale Raum auch zu spielen haben, fällt uns auf, daß vieles, was sie tun, mit einem spätmodernen Aufmerksamkeitsmanagement zu tun hat, das immer nur um die Aufführung ihres ‹Ichs› kreist: «Was hab ich jetzt davon? Das sehe ich überhaupt nicht ein! Das ist dein Problem! Etc.» Und es ist überhaupt nicht erstaunlich, daß diejenigen Jugendlichen, die es aufgegeben haben, sich dem Arbeitsmarkt anzubieten, die vielfältigsten und modischsten Oberflächenverzierungen und die tollsten Outfits tragen.

Selbst die über Jahrhunderte festgezurrten Geschlechterrollen könnten sich in großem Stil auflösen, wobei allerdings die derzeit grassierende ‹Bisexualität› davon zu trennen ist, denn hier handelt es sich einfach um ein geistiges Durcheinander aufgrund von Medienangeboten, Laisser-faire und ‹Ich›-Findungs-Stress. Die Auflösung von Geschlechterrollen? Na, das wäre wirklich mal sehr spannend. Immerhin gibt es mittlerweile schon den Begriff des ‹Metrosexuellen›. In diesem Sinne getönte Männer erkennt man ganz einfach daran, daß sie morgens im Bad mehr Zeit verbringen, als eine weiblich orientierte Frau vor 20 Jahren. Gut für die Kosmetikindustrie. Sollten die ‹Herren des Wörterbuchs› auch den ‹Metrosexuellen› erfunden haben? Na.


Sozial-konstruktivistische Rollenkonzepte

Betrachten wir uns die klassisch-soziologischen Rollendefinitionen in der Moderne, dann sehen wir, daß hier die Affordanzen, die Aufforderungsgehalte, die sozialen Notwendigkeiten in sozialen Räumen zwar erkannt und die unterschiedlichen Verhaltensweisen einer Person je Position, Status und Raum wohl beobachtet werden, daß aber hinter all dem sich unterscheidenden Sozialverhalten einer Person dennoch ein ‹wahrer› Wesenskern, ein Charakter, ein Behälter mit einer Fülle ‹wahrer› Eigenschaften und Merkmale hypostasiert wird. Erstaunlicherweise wird diese moderne Selbstverständlichkeit aber nie thematisiert, da sie eben so selbstverständlich ist.

Im sozialen Konstruktivismus Bochumer Prägung (abgeschwächt auch bei den ‹Systemikern›) steht die aufregende Vermutung, daß wir als Personenperson zwar auch auf Affordanzen, Aufforderungsgehalte und soziale Notwendigkeiten in sozialen Räumen reagieren, daß wir dann jedoch die auf der Drehbühne unserer Personen gerade erscheinende jeweilige Person ‹wirklich› sind. Dahinter steht unserer Auffassung nach keine Personen-CPU, keine Überperson, die angeblich die Fäden in der Hand hält, kein Sack voller Eigenschaften und auch kein Sammelsurium von Motiven. Wir sind das, was wir spielen. Wie gehen und blühen in unseren Rollen auf. Wir sind die Rollen! Um auf das gute, alte, romantische, gesprächspsychotherapeutische Wort von der ‹Selbstverwirklichung› zu schauen: Wir verwirklichen ‹uns selbst› nicht in einem tiefen, inneren Kern, einem ‹Eigentlichen›, einem ‹Wesen›, nein, wir verwirklichen uns in den verschiedenen und intensiv gespielten Rollen, die uns gut tun: Als Vorleser, Schreiber, Musiker, Liebhaber etc. Wir sind die Rollen.

Dies bedeutet nun mancherlei. Zum einen können wir wohlgemut erwarten, daß die Diagnose einer narzißtisch-histrionischen ‹Persönlichkeitsstörung› in Bälde für die große Mehrzahl unserer Kulturinsassen zu vergeben sein wird. Histrionisches Gespreize und idiosynkratische Anspruchsunverschämtheiten («Und was hab ich davon?») sind heute als ‹normal› zu bezeichnen.

Zum anderen wird sich die romantische und moderne Aufforderung, die ein Verliebter über kurz oder lang an das Objekt seiner Begierde richten wird – «Sei doch mal der, der Du wirklich bist!» –, in der Spätmoderne endgültig zu einem «Zeig mir doch mal, wie Du drauf bist!» verändern. Als Antwort genügen dann ‹Ich›-Geräusche irgendwelcher Art, etwa ein «Ey, ich bin total gut drauf. Echt geschmeidig heute!» Auf Syntax und Semantik des Gesagten wird es nicht mehr ankommen.

Zum dritten erübrigen sich in unserem Konzept von der Bedeutung sozialer Rollen in sozialen Räumen so traditionsbeladene Begriffe wie ‹Rollenkonflikt› oder ‹role strain›. Der gesunde Menschenverstand, der in irgendwelchen Berufsausbildungen – ein freies Lehren und Lernen, ein geistiges Flanieren, ein Nachdenken in Muße, wird es in der Spätmoderne auch an Universitäten nicht mehr geben, alles Lehren und Lernen wird einem zukünftigen beruflichen Dienen dienen – irgendetwas von Rollen und Rollenkonflikten gehört hat, ist ja immer so überrascht, wenn er in seinen Augen ganz widersprüchliche Rollen in einem Menschen entdeckt, sagen wir mal, in einem treu sorgenden Familienvater mit zwei Töchtern, einer tollen Ehefrau, die die Nachbarn immer freundlich gegrüßt hat, einem Hund und einem Reiheneigenheim, der sich dann mit einem Mal als Mädchenschänder und -mörder entpuppt. Ja, da kommt der ‹gesunde Menschenverstand› mit seiner ‹Berufsausbildung› und seinem Rollenverständnis nicht mehr mit, das kriegt er nicht auf die Reihe, und in den blitzartig erschienenen Kloakenmedien darf er dann als erster aufsagen, daß ‹das doch so nette Nachbarn waren, eigentlich völlig unauffällig›. Eben. Nichts ist banaler als das Böse.

In unserem sozial-konstruktivistischen Verständnis von sozialen Rollen würde uns die gerade geschilderte vermeintliche Inkompatibilität von ‹Dr. Jekyll und Mr. Hyde› überhaupt nicht wundern.


Finale

Würde man moderne Rollentheoretiker und den ‹gesunden Menschenverstand›, was das Selbe ist, auf unser Rollenkonzept verweisen, reagierten sie mit Abscheu und Empörung. Bei Rollen, die in ihren Augen nicht zusammen passen, beharren sie auf der Diagnose ‹dissoziative Identitätsstörung›, und auch die Begriffe ‹narzißtisch-histrionisch› und ‹multiphren› möchten sie unbedingt mit einer tief gehenden psychischen ‹Störung› in Verbindung bringen. Die Welt als Bühne – die Menschen als Schauspieler? Huh, nicht wirklich! Wir sind die Rollen, die wir spielen? Um Himmels Willen, das geht doch gar nicht!

Hinter den jeweiligen auf eine soziale Position und soziale Situation bezogenen Verhaltensweisen nichts weiteres, nichts wesentliches mehr zu vermuten, das entsetzt den ‹gesunden Menschenverstand› unbedingt. Dieser möchte gerne die Vorstellung aufrechterhalten, daß hinter dem gesprochenen Satz «Wir von der CDU/CSU wollen keine Macht, wir wollen nur Deutschland dienen!» eine ‹Person›, ein ‹Ich›, ein ganzer ‹Mensch› steht, welcher nicht in der Dauer-Rolle eines ‹Politikers› ohne Rest aufgeht. Nun ja, das wüßten wir aber.

Und noch etwas: Selbstredend beschäftigen sich die modernen Rollentheoretiker und der ‹gesunde Menschenverstand› auch nicht mit der Frage, warum die ‹Herren des Wörterbuchs› ‹Home-Stories› von Politikern in Auftrag geben, mit Hilfe derer den Regierten gezeigt werden soll, daß ein ‹Mensch›, dessen Hauptbeschäftigung im Täuschen und Heucheln besteht (sagen wir mal nur «Wohlstand für alle!» [5] Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages trägt nach der Präambel eben diese Überschrift., darüber hinaus – sozusagen als Mensch mit ‹eigentlichem› Wesenskern, als Mensch in Reinform – ganz und gar unheuchlerisch auch noch kochen oder einen Hund streicheln kann. Nein das sehen sie nicht. Denn soviel ‹Mensch› muß bleiben. Soviel Hoffnung soll bleiben.



Erstellt: 24. Oktober 2009 – letzte Überarbeitung: 27. Oktober 2009
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