BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zur Legende vom reflexiven ‹Ich›» [1] Die Idee zu diesem Traktätchen wurde während einer Redaktionskonferenz des ‹Skepsis-Reservates› im legendären Bochumer Restaurant ‹Aubergine› entwickelt, in dem sich – abgesehen von den Celebrities der Bochumer Arbeitsgruppe – Künstler von Anna Netrebko über Herbert Grönemeyer bis hin zu Iggy Pop wohl fühlen. Das Traktätchen selbst ist eine Melange aus einer Reihe anderer Traktätchen verschiedener Autoren und Autorinnen, die für das ‹Skepsis-Reservat› der ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung› geschrieben wurden und auf der Website www.boag.de erschienen sind.
von www.boag.de
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Dieser Text erschien zuerst in der ‹Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung› (28. Jahrgang/Heft 2/April 2010). Verleger und Herausgeber der Zeitschrift war Dieter Borgmann, die Schriftleitung hatte Cornelia Tsirigotis. Gastherausgeber des Heftes mit dem Thema: «Unterm Strich zähl ich!» waren Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda. Die Ausstellung des Textes auf unserer Website erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Verlages ‹Modernes Lernen›, Borgmann GmbH & Co. KG, in Dortmund, der auch der alleinige Inhaber des Copyrights ist.

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Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund ihrer allgegenwärtigen Propagierung wird die Legende vom reflexiven ‹Ich› zunächst einer sprachkritischen Betrachtung unterzogen und anschließend im Rahmen einer sozial-konstruktivistischen ‹Wirklichkeitsprüfung› auf ihre Erscheinungsformen in drei unterschiedlichen sozialen Bereichen hin untersucht. Die resultierende Skepsis gegenüber dem vermeintlichen Potential des ‹Ich›, Zugang zu sich selbst und somit zu den eigenen psychischen Zuständen zu haben, wird im Fazit hinsichtlich ihrer Implikationen ausgelotet.

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«Die meisten Menschen leben in der Welt, in der sie leben,
so unüberlegt, sie denken so wenig,
daß sie die Welt, die sie immer vor sich haben,
gar nicht kennen.»
(Nicolas Chamfort)

«Menschsein ist irrig.»
(Karl Kraus)

Einführung

Ja, da gab es einmal eine ‹Kognitive Wende›. Das Verhalten von Menschen zu beobachten, zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen bezüglich ihres zukünftigen Verhaltens, das genügte eines Tages nicht mehr. Und dieser Tag war so etwa in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Psychologen und Therapeutinnen entdeckten, daß das, was Menschen wahrzunehmen und zu erkennen glauben, kurz, daß das, was Menschen sich selbst über sich selbst und die Welt erzählen, Auswirkungen auf ihr Verhalten habe, und so erfanden sie etwa eine ‹Kognitive Verhaltenstherapie›. Vorbereitet wurde diese dramatische Wende natürlich von Carl Rogers und seinen Mitstreitern, die – kurz zusammen gefaßt – meinten, jeder Mensch habe in jeder Situation seines Lebens alle kognitiven und emotionalen Werkzeuge dabei, um sich als Mensch darstellen, geben und heilen zu können.

Auch das Denken spielte mit einem Mal eine große Rolle, oder anders, Psychologen und Therapeutinnen sahen in den Menschen nun nicht mehr konditionierte Reflex-Amöben (Ach, schrecklicher, kalter Behaviorismus!), die – beinahe blind – sich daran gewöhnt hätten, in ihrer sozialen Nährlösung schlicht in die Richtung bunter und flackernder Hinweisreize zu schwimmen, nein, sie betrachteten sie von Stund an als eigenständige und reflexive Wesen, die sehr wohl Bescheid wüßten, was mit ihnen (und der Welt) geschehe und zu geschehen habe.

Gut, diese Erzählung vom Bescheid wissenden, reflexiven ‹Ich› wurde etwas unpäßlich, als neue Moden in Psychologie und Psychotherapie den Menschen verkündeten, Spontaneität – also das ohne ein Zögern und ohne ein Nachdenken ‹aus dem Bauch› heraus gehauene Impulsive, Ungeplante und Ungesteuerte – sei die Mutter alles Guten und aller Eutonie. Nun ja, liebe systemische Therapeuten und Therapeutinnen, die in die Menschen hinein erfundene Selbstverständlichkeit (und gar Erwünschtheit) von Reflexivität und Spontaneität zugleich paßte und paßt in der Legende vom reflexiven ‹Ich› nicht so gut zusammen. Aber das hat bis heute niemand gemerkt.

Die Erhöhung des ‹Ich› hatte naturgemäß Konsequenzen. Ohne diese Vorgeschichte könnte heute niemand sagen «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!» oder «Unterm Strich zähl ich!» Und ohne diese kognitive Vorbereitung könnte im finalen Kapitalismus niemand so über scheinbar völlig unabhängige und dissoziale ‹Ich›-Nomaden verfügen, wie es heute der Fall ist.


Die Legende

Beginnen wir mit der Legende vom reflexiven ‹Ich›, damit wir wissen, worüber wir sprechen. Da wir als radikal-skeptische Nominalisten den Wörtern nicht trauen, müssen wir – lege artis – ganz vorne anfangen, bei dem Wörtchen ‹reflexiv› selbst, und ganz genau hinhören. Nun, zunächst einmal wird ‹reflexiv› allgemein übersetzt als ‹rückbezüglich›, ‹sich rückbeziehend›. Es gibt sogar reflexive Verben, etwa ein ‹sich wundern›. Hier bezieht sich also etwas auf ein Subjekt. Es geht aber noch weiter. Wenn wir erst einmal das Wort ‹reflexiv› mit einem Subjekt, einem ‹Ich› in Verbindung gebracht haben, eröffnen sich viele weitere Konnotationen: Auf jeden Fall erzählt und verspricht uns die Legende vom reflexiven ‹Ich›, daß wir alle – wenn wir uns denn auf diese großartige Ressource besönnen – mitkriegten, was wir tun oder nicht tun und aufmerksam auf die Konsequenzen unseres Verhaltens achteten, kurz, daß wir wohl überlegt, achtsam und bedachtsam mit uns, anderen Wesen und der Welt umgingen. Nun ja. Am allerbesten zusammengefaßt wurde dieser Mythos von unserem unvergeßlichen, ewigen Kanzler mit einem seiner grandiosesten One-Liner: «Erst planen wir, dann handeln wir!» LOL.

Schauen wir uns nun Kontexte und Gelegenheiten in sozialen Räumen an, in denen wir eine Selbstreflexivität, ja eine Achtsamkeit erwarten könnten. Wir möchten nur drei Bereiche unseres sozialen Lebens herausgreifen, mit denen wir uns beschäftigt, die wir untersucht haben, und mit Hilfe derer wir zeigen werden, was der Legende vom ‹reflexiven Ich› widerspricht. Der geneigte Leser und die geneigte Leserin werden nach der Lektüre dieses Traktätchens in ihren sozialen Räumen eine Fülle weiterer Beispiele finden.


Wirklichkeitsprüfung (1): Unerfreuliche Gespräche [3] Wir haben mit der sogenannten ‹Wirklichkeitsprüfung› eine sozial-konstruktivistische Forschungsperspektive für die Psychologie entworfen (boag.de, April 2000b).

Unsere Welt entsteht und wird aufrechterhalten in sozialen Räumen. Und das Soziale in den sozialen Räumen wird aufrechterhalten durch Gesten, die auf etwas zeigen sollen. Die beliebtesten Gesten lassen sich als ‹Sprechen› zusammenfassen. Zum Sprechen benutzen wir Wörter. Wörter sind Zeiger, die auf etwas zeigen sollen. Was liegt in sozialen Räumen also näher, als zur Konstruktion und Aufrechterhaltung unserer kleinen Welten diese Zeiger zu benutzen und zu sprechen? Was ist wünschenswerter, als sich mit Hilfe von Sprache mit anderen Menschen ‹auszutauschen›? Was ist schöner, als sich mit anderen in Gesprächen zu finden? Doch, warum sind wir so oft traurig, verstimmt und leer nach Gesprächen mit Mitmenschen, während sich unsere ‹Gesprächspartner› offensichtlich und ausgesprochen gut ‹unterhalten› haben? Was stimmt nicht an dem, was nicht stimmte? Gute Frage, und ziemlich leicht zu beantworten.

Schauen wir uns ‹Gespräche› an. Von wenigen – überaus erfreulichen – Ausnahmen abgesehen, sind wir im Alltag mit Gesprächen konfrontiert, die sich so benennen lassen: Schauen wir noch einmal hin: Da sprechen also zwei oder mehr Leute miteinander, aber sie sprechen eben nicht miteinander, denn einer dominiert mit einem nervigen Monologisieren, mit apodiktischen Urteilen oder sinnlosem, wahllosem, automatischen Widersprechen. Einer im sozialen Raum des Gespräches nimmt sich das für ihn wohl selbstverständlich erscheinende Recht, den Diskurs nach seinen Gewohnheiten gestalten zu dürfen – und der oder die anderen sind keine ‹Gesprächspartner›, nicht einmal ‹Gesprächsteilnehmer› oder ‹Gesprächssteilhaber›, nein, sie sind Staffage, Kulisse, sie werden nur als Claqueure geduldet. Wir könnten dies Verhalten auch ‹offensive Autopoiese› nennen. Doch wer einmal zum Beispiel einen Nachmittag mit einem Menschen verbracht hat, der in einer endlosen Redeflut alle Merkmale eines für uns unerfreulichen Gespräches vorführte und sich dabei offensichtlich sehr wohl fühlte, der wird für die Wortschöpfung ‹Apodiktische Autopoiese› dankbar sein! Ja! Jetzt haben wir wenigstens ein Wort für das, worunter wir leiden! [4] In unserem Arbeitspapier Nr. 5 (boag.de, April 2000a) haben wir zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsphase genau zweiundvierzig verschiedene Sprachfiguren, Skriptarten oder Skriptgattungen und damit so ungefähr alles in Diskussionen Sagbare gesammelt, zusammen gestellt und geordnet. Mögen auch etliche Sprachfiguren heute etwas antiquiert klingen, so ist die Logik des Diskutierens – des Widersprechens also – doch immer noch unverändert. Diskussionen, insbesondere im TV, sind fast nie ein ‹Meinungsaustausch› oder eine gemeinsame Suche nach Möglichkeiten, die Welt zu sehen, sondern fast immer ein Streitgespräch und Wortgefecht, in dem standardisierte Worthülsen von gut gekleideten Vertretern unter Anleitung einer ‹Sonnenhüterin› eindringlich vorgetragen werden. Das ist für eine ‹Gesellschaft des Spektakels› wichtig – die Sonne darf über dem finalen Kapitalismus niemals untergehen –, für uns aber uninteressant, denn in Diskussionen dieser Art geht es nicht um Wahrheit und Ethos, sondern um Macht, Sieg, Häme und Krieg. Wir können also mit dem Aphorismus von Michel de Montaigne «Die meisten Disputationen gehören - wie alle anderen Verbalinjurien - verboten und bestraft!» weiter gehen und uns um das kümmern, was wir hier untersuchen wollen.


Wirklichkeitsprüfung (2): Die Lehre vom Konkreten

Wenn wir uns Gespräche in der Jetztzeit anhören, dann entdecken wir etwas Faszinierendes, denn im Mittelpunkt der meisten sprachlichen Äußerungen stehen detailgenaue, konkrete Darstellungen, die ganz oft mit der Wiedergabe oder dem Nachspielen wörtlicher Reden angereichert werden. Ereignisse, Erlebnisse, soziale Besonderheiten können von den Insassen der Spätmoderne kaum mehr abstrakt zusammengefaßt, geordnet oder in Klassen eingeteilt werden. Was überwiegt, ist das Konkrete, das Bild, die Bilder, der Film.

Ganz junge Leute haben heute dafür einen eigenen Erzählstil entwickelt, der wie ein Dialog im Kino gestaltet ist und sich etwa so anhört (wohlgemerkt, es erzählt eine Person):
Nicht mehr ganz so junge Menschen neigen eher zu zusammenhängenden Suaden der Konkretion, in denen noch zusätzlich die Szenerie beschrieben wird:
Wichtig ist, sehr wichtig ist es, zu erwähnen, daß die meisten ‹Gesprächsbeiträge› unbedingt von einer Laien-Darstellung in Gestik, Mimik und Tonfall unterstützt werden. Alle wesentlichen Parameter werden in einer monologisierenden Narration getreulich vorgeführt. Die sich mitteilenden Personen spielen also das von ihnen Erlebte ganz konkret und Stück für Stück nach und vor. Lieber Leser, liebe Leserin, wir laden sie ein, diese faszinierende Beobachtung einer Kreuzvalidierung zuzuführen. Hören Sie sich um, lassen Sie sich von Ihren Mitmenschen irgendwelche Ereignisse erzählen. Vielleicht irgendetwas Lustiges aus dem letzten Urlaub.

Nachdem Sie nun Ihre persönliche Kreuzvalidierung vorgenommen haben und erstaunt sind, wie triftig unsere oben nur kurz und beispielhaft geschilderten Beobachtungen waren und sind, sollten wir – Sie, lieber Leser und liebe Leserin, und wir – gemeinsam zu der Erkenntnis kommen, daß im Jahr des Herrn 2010 vermutlich über 90 % aller Gesprächsteilnehmer ganz offensichtlich nicht in der Lage sind, umfängliche Ereignisse wie ein Gespräch beim Arzt, eine Interaktion mit einem Bekannten, einen Ehestreit, ein Urlaubserlebnis oder einen Einkauf abstrakt zusammenzufassen, zu etikettieren und unter einem wohlgefälligen Begriff zu verpacken. 90 % der Erzählungen bestehen aus dem Aufzählen konkreter Ereignisse oder aus dem Berichten über konkrete Operationen, mit den dazugehörigen nachgespielten Intonationskonturen und paralinguistischen Merkmalen. 90 % unserer Mitmenschen schaffen es also nicht, sich bei ihrem Bericht von konkreten Ereignissen zu lösen. 90 % der Kulturinsassen sind in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› auf der von Piaget beschriebenen ‹konkret-operationalen Phase›, also im geistigen Alter von etwa 7 bis 12 Jahren, stehen geblieben. Reflexion? Eine abwägende, einordnende, ja literarische Verlagerung des Geschehens in abstrahierende Begriffe? Durchaus nicht!

Wundert uns das? Nein. Der ‹Iconic turn›, die Macht der bewegten Bilder, ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Erinnerungen lassen sich in unserem spätmodernen Gesprächsalltag kaum mehr abstrakt versprachlichen, sie können nicht mehr kodiert werden. Statt dessen müssen sie als eine nacherzählende und nachgespielte bildliche Aufführung, also als Film dargebracht werden. Toll.


Wirklichkeitsprüfung (3): Die Lehre vom Gegenteil

Im politischen Alltag sind wir es schon seit langer Zeit gewohnt, öffentlich daher gesagten Erklärungen nicht nur zu mißtrauen, sondern schlicht zu erwarten, daß mit deren Herbeizitieren sich in Bälde ein ‹Wesen der Dinge› eröffnen wird, das sich ‹in Wirklichkeit› als das direkte Gegenstück zu dem von diesen Worten her eigentlich zu Erwartenden erweist. Ein ‹Verbraucherschutzgesetz› und ein ‹Verbraucherinformationsgesetz› zum Beispiel dienen auf gar keinen Fall dazu, Verbraucher zu schützen oder zu informieren – um Gottes Willen, «das geht ja wohl gar nicht!» [5] Wir danken S.G.F. für die Übermittlung dieses aktuellen und angesagten Idioms!–, sondern sie schützen selbstredend das Kapital vor den Nachstellungen des Verbrauchers. In der Politik ist niemals wichtig, was geschieht, sondern wie darüber gesprochen wird. Also ist es wichtig, wie Gesetze heißen, nicht, was sie regeln. Denn im politischen Alltag geht es um Deutungsmacht (und Aufmerksamkeitsmanagement), und vielleicht ist das ‹Volk› im großen und ganzen so dumm oder so desinteressiert, daß es der Euphemismen und Umdeutungen geradezu bedarf, die wir aus George Orwells Roman ‹1984› kennen: «War is Peace» oder «Ignorance is Strength».

Seltsam, wie uns diese Formulierungen berühren, wie nahe sie uns kommen, wenn wir – nachdenklich gestimmt - einen Blick auf den derzeitigen Weltenlauf werfen. Die Lehre vom Gegenteil? Könnte sein. Ziemlich uninteressant im politischen Alltag ist nun, daß die sich in der Wortwahl offenbarende Unredlichkeit, Unehrlichkeit, Heuchelei, Scheinheiligkeit, Doppelzüngigkeit und Bigotterie oft noch als besondere politische Kunstfertigkeit der Akteure und Macher – sie tragen gerne so schöne Namen wie ‹Generalsekretär› – ausgegeben und bejubelt wird.

Was wir in diesem Traktat nun beschreiben möchten, hat zwar direkt nichts mit dem politischen Alltag und dem ewigen Deutungskampf zu tun, es ähnelt diesem jedoch in wesentlichen Punkten. Denn wir beobachten seit Jahren bei einer ziemlich großen Zahl von Mitmenschen ein außerordentlich interessantes psychologisches Phänomen, welches sich ebenfalls als eine ‹Lehre vom Gegenteil› erweisen könnte. Schauen wir uns zunächst einige Beispiele an, die zeigen, daß auch im Alltag ganz erstaunliche Widersprüchlichkeiten zwischen Gesprochenem und Verhalten, zwischen Ankündigung und Ergebnis, zwischen Schein und Sein zu erleben sind.


Einige Beobachtungen
Das mag genügen. Weitere Exempel sind überflüssig. Das Prinzip steht.


Die Lehre vom Gegenteil: Beschreibung

Beschreiben wir, was wir in den Beispielen sehen: Zunächst einmal sollten wir festhalten, daß es sich bei den oben skizzierten Lebensäußerungen nicht um Nachlässigkeiten, Flüchtigkeitsfehler oder allfällige Versprecher (‹slips of the tongue›) handelt, nein, hier wird etwas herzhaft und authentisch in großer momentaner Gegenwärtigkeit gesagt. Das Wort ‹momentan› ist wichtig, wie wir gleich sehen werden.

Auffällig ist nun unbedingt, daß sich eine Lebensäußerung der oben beschriebenen Art nicht auf das eigene Tun bezieht oder beziehen kann, denn dieses unterscheidet sich ja wesentlich vom Gesagten. Ja, das eigene Tun hat in ganz krasser, nicht zu übersehender Weise mit dem Sprechen darüber nichts zu tun, zwischen dem Verhalten und der Rede über das Verhalten besteht kein Zusammenhang. Wir sollten diese Konstellation jedoch nicht als Lüge bezeichnen. Das klingt so geplant, gewollt, so attributiv an einem mutmaßlichen ‹Charakter› orientiert. Das kann uns nicht interessieren.

Wir halten lieber als Beobachtung fest, daß die sich äußernden Personen in den obigen Beispielen ganz offensichtlich keinen ‹Zugang› zu ihrem eigenen Verhalten haben, daß ihnen – punktuell zumindest – keine angemessene Selbstwahrnehmung möglich ist. Wir möchten dieses Phänomen ein mangelhaftes ‹Selbst-Monitoring› nennen. Da gibt es Personen-Systeme, die sich in unübersehbarer Weise nicht selbst beobachten und somit keinen Zugang zu dem haben, was sie tun. Sie können nicht aus sich hinaussteigen, um sich von einer Metaebene aus zu betrachten. Reflexion? Ausgeschlossen!

Als letzte Beschreibung möchten wir noch festhalten, daß in den Lebensäußerungen der oben aufgeführten Art oft Formulierungen erscheinen wie ‹überhaupt nicht›, ‹niemals›, ‹völlig› oder ‹immer›. Diese adverbialen Maximalia sind in der Lehre vom Gegenteil von großer Bedeutung. Offensichtlich soll es hier keinen Zwischenbereich in der Bewertung geben, gewollt sind gleichsam nur Endpunkte einer Skala, und die mittleren Töne sind weggefallen. Das ist sehr interessant. Ist da so ein Schub, so eine Überzeugungs-Drängeligkeit, als wolle man über etwas dann doch zart Erahntes hinweg bügeln?


Die Lehre vom Gegenteil: Erklärung

Erklären wir, was wir in den Beispielen sehen: Nun, sobald es um ein ‹Drängeln› geht, womöglich noch in ganz und gar ‹unbewußter› Weise, liegt es nahe, das große und ehrwürdige Theorie-Gebäude der Psychoanalyse aufzusuchen, sich dort ein wenig umzusehen und dann nach Herzenslust zu spekulieren, welch geheime Quellen hier den Mund der Menschen bewegen. Naturgemäß tun wir das aber nicht. Wir ziehen auch, wie oben bereits angedeutet, keine defizitären Eigenschaften oder unlauteren Motive von Menschen heran. Nein, statt dessen, so denken wir, nähern wir uns einer möglichen Erklärung, indem wir uns das oben geschilderte erste Beispiel erneut betrachten und in Gedanken etwas verändern. Schauen Sie sich den Diskurs noch einmal an, liebe Leserin und lieber Leser. Ok? Gut, und nun stellen wir uns vor, das Gespräch wäre übereinstimmend in eine Richtung gegangen, die die Erfreulichkeit des Sparens und den übergeordneten Sinn des Geizes betont hätte. Wir würden um jeden Einsatz wetten, daß die oben Erwähnte unter diesen Umständen statt eines «Ich habe noch nie auf den Preis geachtet!» ein «Ich achte auch immer auf den Preis!» geäußert hätte. Und damit sind wir sehr nahe am Faszinosum der ‹Lehre vom Gegenteil›.

Es scheint so, als ginge es bei diesen überraschenden Lebensäußerungen um die Zugehörigkeit zu einem sozialen Raum. Die dem eigenen Verhalten so arg widersprechende Äußerung ist keine Lüge, keine Drängelei aus dem ‹Unbewußten›, sondern eine schlichte Selbstwert-Herstellung in einem konkreten sozialen Raum. Ein sehr schöner Gedanke. Das ‹bevölkerte Selbst› (Gergen, 1996) hat sich ein ‹Volk› ausgesucht, zu dem es gehören möchte, dessen Meinung und Anerkennung ihm wichtig ist: Das Selbst möchte bewundert, geliebt, gelobt werden, es möchte dabei sein. Trägt diese so völlig einfache Erklärung? Wir denken: Ja. Nur nebenbei: Evident ist, daß sich dieser Effekt nicht ergibt, wenn jemand sich nicht zu einem sozialen Raum zählt, wie etwa der oben genannte Teflon-Mann.

Wir sehen, wie die ‹Lehre vom Gegenteil› mit dem theoretischen Modell des ‹Sozialen Konstruktivismus› recht gut erklärt werden kann. Unsere Vorstellung von sozialen Räumen und Kontexten, in denen wir leben und uns bewegen, könnte theoretisch tragen. Da wir Personen als Diskursprodukte, also als ‹Personentexte› sehen, erscheint es uns ganz plausibel, daß ‹Personentexte› sich in laufende Texte einklinken, die in dem sozialen Raum aufgesagt werden, in dem sich die ‹Personentexte› eben gerade aufhalten. Ohne ein Selbst-Monitoring, ohne eine Reflexion des Gesagten, schlüpft ein ‹Personentext› in einem bestimmten Kontext in eine Text-Anforderungsnische, in einen Sagbarkeits-Slot und sagt etwas, was in seinem nicht-sprachlichen Verhalten nicht zu finden ist. Und eine Minute später, wenn sich der Konnotations-Wind im sozialen Raum gedreht hat, schimpft das ‹Selbst› als ‹Personentext› auf etwas, was es soeben noch gut fand. Ist das erstaunlich? Nein. Denn das ‹Selbst› hält Schritt mit dem Ton des sozialen Raumes! Das ‹Selbst› hält sich also an die Devise: ‹Tun, was (ohnehin) geschieht!› Ein Bedürfnis, eine Notwendigkeit, ein Drang zum Selbst-Monitoring, ja gar zum planvollen Handeln, ist nicht zu erkennen. Das reflexive ‹Ich›? Ach, nein!


Finale

Und nun? Eine Legende und drei Wirklichkeitssammlungen. Genügt dies, um zu einem vorläufigen Schluß zu kommen? Ja. Deswegen fragen wir noch einmal: Und nun? Tja, wir sollten es aussprechen: Sich selbst thematisieren – kann jeder. Aus seinem vermeintlichen ‹Ich› heraus Ansprüche anmelden – kann jeder. Doch über sich selbst reflektieren, ein Monitorsystem für sich selbst etablieren, ja, auf sich selbst und andere Acht geben oder gar über sein ‹Ich› hinaus gehen – kann kaum einer. [6] Wir empfehlen: Joseph Goldstein (2009): Vipassana-Meditation – Die Praxis der Freiheit. Überrascht uns das, liebe systemische Therapeuten und Therapeutinnen? Nein.

Das Ergebnis der Subjektkonstruktion in der Spätmoderne läßt sich ziemlich gut beschreiben, denn unser Gesellschaftsmodell des finalen Kapitalismus produziert Menschen, die davon überzeugt sind, ein einzigartiges ‹Ich› zu haben und dies permanent thematisieren zu dürfen. Doch Selbstthematisierung setzt ein ‹Selbst› voraus. Die Frage ist also: Wer thematisiert? Das ‹Ich› oder die Gesellschaft? Das ‹Ich› oder die Zentralrede vom ‹Ich›? Das ‹Ich› oder der ‹Common-Sense›? Wir haben die Frage für uns beantwortet.

Schauen wir nun abschließend auf die Legende vom reflexiven ‹Ich›. Betrachten wir uns ein ‹Ich› in seinem sozialen Raum, am besten uns selbst: Wir bestehen aus einem Bündel komplexer Konditionierungen, das heißt, wir verfügen über allerlei Gewohnheitsmuster im Denken, ‹Fühlen› und Verhalten, die wir in unseren sozialen Makro- und Mikroräumen erworben haben. Und wenn wir nun in eine soziale Gelegenheit, in einen sozialen Kontext, in ein bestimmtes Aufforderungs- oder Angebotsgemenge hinein geraten, dann reagieren wir auf diese Affordanz, indem wir uns in eine der üblichen Sagbarkeiten und ‹ratternden Konversationsmaschinen› (Berger & Luckmann, 1980, S. 163) einklinken und zusätzlich die angebrachten ‹Gefühle› und Gesten abrufen. Erst planen wir, dann handeln wir? Wann denn?

Damit haben wir 99% unserer Verhaltensweisen abschließend erklärt. [7]  Warum nur 99%? Weil wir die Hoffnung nicht aufgeben möchten, daß wir in ganz seltenen Sternstunden ‹tatsächlich› einmal aus unserem vermeintlichen ‹Ich› heraus steigen, eine Beobachterebene zweiter Ordnung erklimmen und ‹wirklich› über unser Tun und Lassen reflektieren und meditieren können. Ach! Menschen tun etwas, wir tun etwas, das ist alles. Wir handeln nicht, wir tun etwas, wir verhalten uns in sozialen Räumen, die den notwendigen Kontext für unsere Gedanken und ‹Gefühle› bilden und in fast allen denkbaren Fällen schon längst im Vorhinein für uns festgelegt haben, was wir sagen oder tun, ja, wer wir sein werden. Erst im Nachhinein – falls uns jemand fragt und damit aus der Trance des sozial überdefinierten Verhaltens weckt und in einen Achtsamkeitsmodus stößt – erfinden wir irgendwelche passenden Gründe oder Motive für unser Verhalten, die dieses ausschmücken oder exkulpieren sollen. Das sollten wir peinlich finden.

Wir müssen aber noch etwas näher und genauer auf das reflexive ‹Ich› schauen und uns die Frage stellen, wie wir überhaupt auf die Idee kommen konnten, ein ‹Ich› habe einen privilegierten Zugang zu seinen psychischen Zuständen. Wieso muß eigentlich jeder selbst am besten wissen, was mit ihm los ist? Wieso denkt niemand diesen Gedanken zu Ende und entdeckt, was hier alles nicht stimmt? Ein reflexives ‹Ich› müßte doch – per definitionem – in großer Achtsamkeit und in einer schieren Regelmäßigkeit mitkriegen, was es mit seinem Verhalten bei sich und anderen anrichtet. Tut es das? Nein.

Und wir müssen weiter fragen: Woher weiß ein ‹Ich›, kann ein ‹Ich› überhaupt wissen, was mit ihm los ist? «Das Wissen ist ja sein eigener Seelenzustand.» (Wittgenstein (in Anscombe & von Wright, 1976)) [8] Die zitierte Stelle auf Zettel 408 etwas ausführlicher: «Er muß nämlich wissen, dass er weiß: das Wissen ist ja sein eigener Seelenzustand; er kann darüber - außer durch eine besondere Verblendung – nicht im Zweifel oder unrecht sein.» Innerhalb einer Person kann es so gar kein Kriterium für wahr oder falsch geben, denn diese Differenz existiert nur in der Welt der Tatsachen.

Steve de Shazer und Yvonne Dolan sagen es noch deutlicher: «(...) eine Aussage in der ersten Person Präsens ist kein Bericht über das, was das Individuum von sich weiß, sondern einfach eine Ausdrucksform, bei der sich das Individuum nicht irren kann. Da es sich hier nicht irren kann, kann es natürlich auch nicht recht haben.» (de Shazer & Dolan, 2008, S.205)

Ist es nicht überaus erstaunlich, daß die traditionelle Psychologie genau diese Sichtweise, daß «das Individuelle ein spezielles, unfehlbares Wissen von seinen inneren Zuständen und Kräften habe» (de Shazer & Dolan, 2008, S.204), zu ihrem Fundament gewählt hat?

Soziale Konstruktivistinnen halten sich lieber an das Alltagsleben, sie schauen, was Menschen so tun und was sie sprechen. Sie beschreiben gerne das Antlitz einer Kultur, spüren gesellschaftliche Mythen auf und lernen dabei alles über die spätmodernen ‹Ichs›. Auf die ganzen psychologischen Begriffe, die traditionelle Psychologie, Psychotherapie und insbesondere Psychiatrie in die Menschen hinein kippen und stapeln, können wir verzichten.

Noch eine abschließende Bemerkung zur Legende vom reflexiven ‹Ich›. Wir glauben, daß die Menschen in der Spätmoderne so von ihrem ‹Ich› überzeugt sind, daß sie es gar ablehnen, zu wachsen und sich zu entwickeln. Sie sehen nicht ein, warum sie wachsen sollten, warum sie wachsen müßten. Für wen denn? Eben.


Schmankerl

John Ford, der große John Ford, hat in seinem 1962 erschienenen Meisterwerk «The Man Who Shot Liberty Valance», einem seiner letzten Filme, den Raum zwischen Legende und ‹Wirklichkeit› ausgeleuchtet. Als ein Senator, der als der Mann gilt, der einst einen üblen Gewalttäter erschoß, einem Zeitungsredakteur in langen Rückblenden erzählt, wie es damals wirklich war, nimmt dieser am Ende des ausführlichen Berichtes die schriftlichen Notizen, die ein junger Journalist dabei macht, zerreißt und zerknüllt sie, steckt sie in einen Ofen und sagt: «This is the West, Sir. When the legend becomes fact, print the legend!» Da dieser wohl berühmteste Satz aus einem Film immer wieder ärgerlich schlecht übersetzt wird, folgt hier der Sinn: «Wenn die Wahrheit über eine Legende heraus kommt, sollten wir bei der Legende bleiben!»

Nun, liebe systemische Therapeuten und Therapeutinnen, was die Legende vom reflexiven ‹Ich› betrifft, sollten wir unbedingt von diesem Rat abweichen!

Finis.

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Summary

Among intellectuals, the idea of a ‹reflexive self› seems to be ever-present. The alleged psychological strengths of this everyday ‹I› will undergo a critical analysis in this article, and then its appearances in three distinct social realms will be investigated via social constructivist ‹reality testing›. The resulting suspicion towards this ‹self's› capability to have access to its inner states in addition to other implications will then be discussed.

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Literatur

Anscombe, G.E.M. & von Wright, G.H. (Hrsg.) (1976). Ludwig Wittgenstein: Zettel. Los Angeles: University of California Press.

Berger, P.L. 6 Luckmann, T. (1980). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.

boag.de (April 2000a). Diskussions-Skripte (Arbeitspapier Nr. 5). Verfügbar unter http://www.boag-online.de/pdf/boagap05.pdf (17.12.2009)

boag.de (April 2000b). Wirklichkeitsprüfung. Eine sozial-konstruktivistische Forschungsperspektive für die Psychologe (Arbeitspapier Nr. 10). Verfügbar unter http://www.boag-online.de/pdf/boagap10.pdf (17.12.2009)

boag.de (15.04.2002). Kleine Psychologie des Urteilens (1): Urteilen und Werten: Eine Annäherung. Verfügbar unter http://www.boag-online.de/sceptic-26003-01.html (17.12.2009)

boag.de (09.11.2002). Der ‹Dies-und-das-ist-so-und-so-Mann›. Verfügbar unter http://www.boag-online.de/sceptic-50008.html (17.12.2009)

boag.de (19.06.2009). ‹Der Teflon-Mann: Eine Fallstudie›. Verfügbar unter http://www.boag-online.de/sceptic-50004-01.html (17.12.2009)

de Shazer, S. & Dolan, Y. (2008). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.

Duden (2004). Universal- und Synonymwörterbuch (3. Auflage) Mannheim: Bibliographisches Institut.

Gergen, K. (1996). Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.

Goldstein, J. (2009). Vipassana-Meditation – Die Praxis der Freiheit. (3. Auflage). Freiamt: Arbor.


Zu den Autoren:

www.boag.de ist die Webseite der ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung›. Die Autoren und Autorinnen legen keinen Wert auf die Erwähnung ihrer Namen, da sie gemeinsam das kommunale System ‹Bochumer Arbeitsgruppe› bilden – und damit zufrieden sind.