BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Anathematisierung des Selbst»
von www.boag.de
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Dieser Text erschien zuerst in der ‹Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung› (28. Jahrgang/Heft 2/April 2010). Verleger und Herausgeber der Zeitschrift war Dieter Borgmann, die Schriftleitung hatte Cornelia Tsirigotis. Gastherausgeber des Heftes mit dem Thema: «Unterm Strich zähl ich!» waren Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda. Die Ausstellung des Textes auf unserer Website erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Verlages ‹Modernes Lernen›, Borgmann GmbH & Co. KG, in Dortmund, der auch der alleinige Inhaber des Copyrights ist.

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Zusammenfassung

Ein kulturphysiognomisches Phasenmodell veranschaulicht die ideologische Funktion des Selbst-Konzeptes. Darauf aufbauend wird die Rolle der Institution Film bei der Konstruktion des Selbst kritisch beleuchtet. Da der tradierte Begriff vom Selbst alternative Persönlichkeitsentwürfe blockiert, wird konkludierend die Emanzipation vom Selbst als ein grundsätzliches Ziel therapeutischer Intervention benannt.

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«ideologie und institutionen verdecken allzu oft
die wahren quellen unseres verhaltens,
die sozialen strukturen,
die unabhängig von unserem bewusstsein existieren.»
(Weibel 1974, S. 26)

Sie sind ihn auch leid, diesen infantilisierenden Diskurs über das Selbst und seine Befriedigungen? Widerwärtig, man traut sich ja nicht mehr vor die Tür. Entsprechend groß ist unsere Überraschung, dieses ohnehin viel zu aufgeblasene Selbst im systemischen Kontext als aktuelles Thema wieder zu finden. Muss das wirklich sein? War nicht schon alles gesagt, zur Ideologie des Selbst, wie auch zur Institution Film als seinem Lieblingsmedium? Perpetuieren wir mit noch einem Text über das Selbst nicht einfach nur einen ohnehin schon gesellschaftszersetzenden hegemonialen Diskurs? Klar, aber stillhalten wäre wohl noch schädlicher.

Wieso also ist die Rede vom Selbst und seinen Derivaten - dem Ich & dem Individualismus - noch immer eine der Lieblingsgeschichten der final-kapitalistischen Herren des Wörterbuchs (boag.de, Januar 2009)? Wir möchten zur Veranschaulichung ein streng kulturphysiognomisches Phasenmodell vorschlagen, und anschließend in aller gebotenen Kürze zumindest andeuten, welche Rolle die Institution Film bei der viralen Vervielfältigung dieser abendländischen Kernideologie spielt. Stellen wir uns dazu zunächst eine Runde angeheiterter Spin-Doktoren zu fortgeschrittener Stunde in dem gerade angesagten karibischen Restaurant in Mitte vor:

Phase I: Ideologisieren wir den Menschen doch ein Selbst mit ganz doll individuellen Bedürfnissen auf den blanken Leib. Die werden das ganz bestimmt verinnerlichen.

Phase II: Spitzenidee! Und dann nehmen wir Ihnen das angedichtete Selbst einfach wieder weg.

Phase III: Und jetzt schicken wir die harm- und heimatlosen einzigartigen Individuen hinaus in die weite Welt auf die ziellose Reise zur Selbstfindung.

So einfach geht das, mit der Entmündigung. Wir wären dann mal eben weg, um uns selbst zu verwirklichen. Keine Zeit heute für kritisches Bewusstsein, muss noch zum Yoga. Der entscheidende Kommunikationskanal für diese nicht-invasive Transformation des Fremdzwangs zum Selbstzwang ist spätestens seit der ikonischen Wende das bewegte Bild. Die Rolle des Films bei der Implantation der offiziellen Zentralrede in die wehrlosen Subjekte beschreibt Slavoj Žižek präzise in der filmischen Analyse A Pervert’s Guide to Cinema: ‹Kino ist die ultimative perverse Kunst. Es gibt dir nicht, was du begehrst. Es sagt dir, wie du begehren sollst› (Žižek, 2006). Und so irren wir mit unserem unstillbaren Begehren verloren umher, da draußen in der wunderbaren Welt der Amélie.

Wir müssen uns ganz sicher nicht einen James Bond anschauen, um den selbstbesessenen hedonistischen Ego-Express auf ideologischen Hochtouren laufen zu sehen. Bleiben wir trotzdem in Hollywood, mit seinen Hauptzielgruppen in der formativen Phase der Persönlichkeitsentwicklung. Vielleicht haben Sie auch den letzten Batman oder Spiderman geschaut? Klasse, wie da immer der Mensch durch die Maske hindurch schimmert und an seiner Nicht-Identität leidet. Ach ja, sind schon arm dran, diese Superhelden auf der Suche nach sich selbst. Denen geht es auch nicht besser als uns. Auf diesem Weg bekommen die Heranwachsenden über ihr empathisches Mitfühlen die volle Dröhnung offizielle Ideologie verpasst: Immer schön um euch selbst drehen, dann kommt ihr nicht auf komische Gedanken. So funktioniert das ungefähr mit der Ideologie und dem Film als seiner Trägerstruktur.

Bei all diesem um sich selbst Gedrehe täte, gerade aus systemischer therapeutischer Perspektive, wohl ein wenig mehr Selbstlosigkeit not. Das abschließende Ziel einer Thematisierung des Selbst hätte demnach die Verwindung eben dieses Selbst zu sein. Mit anderen Worten: Wir sollten alles dafür tun, uns irgendwie vom Selbst zu emanzipieren.

Dazu gilt es zunächst zu verstehen, dass das Selbst, um das letztlich unsere ganze Persönlichkeit kreist, eine ziemlich perfide Illusion ist. Sie wurde uns früher - als wir uns noch weniger wehren konnten - mit aller Macht eingetrichtert, um uns am Ring falschen Begehrens durch die gesellschaftliche Manege zu führen. So erfordert es letztlich nicht die Thematisierung, sondern vielmehr die Anathematisierung - die Bannung des Selbst. Sicher, unsere Selbstverliebtheit ist die protektive Illusion, die unser Ich stabil hält. Bevor wir aber mal wieder unser Leben ändern, weil wir mit uns selbst nicht klar kommen, sollten wir lieber versuchen, unser Selbst zu vergessen. Und anschließend schauen wir einfach mal, wie wir uns neu entwerfen könnten. Das geht! Integrität und Kohärenz sind nämlich auch im Wandel einer Person möglich. Auch wenn uns das Spätwerk von David Lynch mit seinen psychotischen Erzählstrukturen immer wieder das Gegenteil beweisen will (vgl. dazu die Erläuterungen von Anthony Vidler zum Unbehagen und der Funktion der psychogenen Fugue im Werk von David Lynch: Vidler 2007).

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Summary

Anathematization of the Self

The ideological function of the concept of a ‹self› is here illustrated by a culture-physiognomic phase model. The model serves as basis for a brief analysis of the function of motion pictures for the creation of selves with modern personalities. Once internalized, the traditional idea of self inhibits the development of alternative personality constructions. In conclusion, it is recommended that an emancipation from traditional concepts of self should be an essential goal of psychotherapeutic interventions.

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Literatur

boag.de (2009, 26. Januar). Die ‹Herren des Wörterbuchs› (1): Definitionen der Wirklichkeit. Verfügbar unter http://www.boag-online.de/sceptic-12055.html (17.12.2009)

boag.de (2009, 26. Januar). Die ‹Herren des Wörterbuchs› (2): Lektionen in Trialektik. Verfügbar unter http://www.boag-online.de/sceptic-12056.html (17.12.2009)

Vidler, A. (2007). The Architectural Uncanny. Einleitung zu ‚Lynch über Lynch’. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren.

Weibel, P. 1974). Was ist und was soll eine Subgeschichte des Films? In: H. Scheugl, H. & E. Schmidt jr. (Hrsg.). Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms (1. Band) (S. 12.27). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Žižek, S. (2006). A Pervert's Guide to Cinema (DVD). Frankfurt am Main: Zweitausendeins.


Zu den Autoren:

www.boag.de ist die Webseite der ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung›. Die Autoren und Autorinnen legen keinen Wert auf die Erwähnung ihrer Namen, da sie gemeinsam das kommunale System ‹Bochumer Arbeitsgruppe› bilden – und damit zufrieden sind.