BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Stadtgeschichten: Heimweh»
von Vicente G.
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Beim Anflug auf den Flughafen von Lisboa habe ich endlich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein, es ist die Freude des glücklich Zurückgekehrten, die Rührung des Heimkehrers. Lisboa bei Nacht leuchtet einen jeden an, der es unternimmt, sich der Stadt zu nähern; ob aus der Luft, vom Meer her, mit dem Auto oder dem Bus, das ist Lisboa gleich. Und Lisboa ist der eigentliche Grund, warum ich so gerne des Nachts mit dem Flugzeug unterwegs bin, denn Lisboa strahlt nicht einfach nur voller Wärme, nein, Lisboa leuchtet und schimmert, ein Willkommen verheißend.

Wie wundervoll beglückend ist es, wieder heimzukehren, heim an den Tejo und das Barrio Alto. Heim nach Lisboa. Die Intensität meiner Gefühle überrascht mich immer wieder, weil ich weder in Lisboa geboren bin, noch hier jemals länger als ein paar Tage oder Wochen gelebt habe. Was also ist Heimat, könnte ich mich fragen. Aber ich unterlasse das, denn es gibt Fragen, die einfach nur dumme Antworten nach sich ziehen. Man kann es schon an der Art der Frage erahnen. Die Frage nach der Heimat ist eine solche, ich ahne es.

Es ist etwas nach Mitternacht, als mein Flugzeug mit dem Landeanflug auf Lisboa beginnt. Der Freitag war zunächst sehr unerfreulich verlaufen, und entgegen meiner Vorsätze, an einem Freitag besser nicht zu fliegen – weil das meistens in einem Durcheinander an den Flughäfen endet – hatte ich noch einen späten Flug nach Lisboa genommen. Mit Umsteigen in Frankfurt am Main.

Der Freitag in der Buchhaltung hatte länger gedauert als erwartet. Eine der üblichen Besprechungen, für den frühen Nachmittag angesetzt und nur als «kurzer Informationsaustausch» angekündigt, hatte sich in die Länge gezogen. Nun gibt es nicht elenderes als Vorgesetzte, die banale Besprechungen – über die ein einigermaßen gebildeter Mensch kein Wort verlieren würde – zu einer monologischen Inszenierung aufbauschen und damit ‹ihre› Lohnabhängigen belästigen. Mein ‹Vorgesetzter› streckt den Pirouettentanz seiner geistigen Tiefflüge ins Wagnerianische. Natürlich sind die Mitarbeiter, die einem solchen Auftritt wohlwollend beizuwohnen geneigt sind, genauso unausstehlich.

Ich versuche mir bei solchen Besprechungen immer vorzustellen, was der Vorgesetzte am Abend zu Hause seiner Frau erzählt: Wie er es uns wieder einmal gezeigt hat, wie er sich wieder für die Firma aufgerieben hat, und ähnliches. Und dann ersteht vor meinem geistigen Auge dieser Typ von anteilnehmender Ehefrau, die ihn, denn tapfer leidenden Vorgesetzen-Ehemann, am Freitag abend tröstet, die ihm beisteht und ihn bestärkt, ihm das Bier vor den Fernseher stellt und ihm sagt, daß man ihm dankbar sein müsse und daß man in der Firma seinen Wert doch immer noch gar nicht richtig einzuschätzen wisse. Deswegen lasse ich es mir jeweils am Ende unserer Freitagsbesprechungen nie nehmen, meinem Vorgesetzten die besten Grüße an die Frau Gemahlin auszurichten. Das muß sein.

So aus der Luft betrachtet scheint mir, als seien solche Gespräche an einem Freitag in Lisboa tabu, ja besser noch, in diesem Teil des Universums gäbe es solche Besprechungen überhaupt nicht. Vielleicht gibt es in Lisboa nicht einmal Vorgesetzte? Ein Gedanke, der mich für einen kurzen Augenblick elektrisiert.

Mir fällt auf, das weit rechts von mir das Lichtermeer von einer großen schwarzen Fläche beendet wird. Das muß der Atlantik sein, unbarmherzig und unergründlich in der Nacht. Im Grunde sieht er tagsüber nicht viel freundlicher aus, sein dunkelblaugrün ist trügerisch, ja geradezu hinterhältig. Wer jemals unter eine seiner Wellen geraten ist, weiß das. Aber, ob blau, grün oder schwarz, wesenhaft ist seine über das ganze Jahr bleibende arge Kälte.

Mein Vorgesetzter begann diesmal seine Freitagslitanei mit einem allgemeinen Klagen über Krankheiten und Schicksalsfälle. Das ist so üblich. Eine Übung der Mächtigen, um von ihren Gemeinheiten abzulenken und Mitleid zu erheischen, eine einfache Geste, die nichts bedeutet. Im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich seine Rückenleiden so detailliert kennengelernt, daß mir mein eigener Körper darüber fast fremd geworden ist. Und manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich – statt Anteilnahme und Mitleid über seine Leiden vorzutäuschen – ein kleines Lächeln der Genugtuung unterdrücken muß.

Ich liebe Landeanflüge in der Nacht. Lisboas Lichter umschlingen mich mit unendlicher Zartheit. Fast hätte ich Lust, meine Sitznachbarin in den Arm zu nehmen und zu küssen. Eine Japanerin, die in Frankfurt zugestiegen war. Eigentlich hatte ich bis vor ein paar Minuten die ganze Sitzreihe für mich allein. Nun aber saß eine junge und sehr hübsche Japanerin neben mir – und war eingeschlafen. Sie hatte sich allerdings nicht freiwillig oder gar meinetwegen an meine Seite gesetzt, dafür bin ich zu unscheinbar. Ich bin der Mann, der übersehen wird.

Der Anlaß unserer Zusammenkunft war eher unangenehm. Ungefähr eine halbe Stunde nach dem auf diesem Flug servierten Essen – es muß etwa über dem Südwesten Spaniens gewesen sein, wo wir in ein paar banale Turbulenzen geraten waren – vernahm ich das unverwechselbare Geräusch eines Menschen, dem übel geworden ist. Vor dem Summen der Turbinen des Flugzeuges als Klangkulisse hob sich der Klangtupfer eines gequält verkrampften Gegurgels ab, verbunden mit einem Plätschern. Ich schaute mich neugierig um und konnte mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Denn das Geräusch kam von einem drei Reihen hinter mir sitzenden Fluggast vom Typ ‹dynamischer Jungmanager› mit eingebauter Nimmersattmotivation. Ich konnte mich kaum beherrschen. Ein Kotzen hinter mir und ein Lachen in mir. Ja, je erbarmenswerter die Geräusche des Jungmanagers, desto stärker wurde mein Drang zu lachen. Aber ich konnte mich beherrschen. Das kann ich immer. Leider.

Der Steward also setzte die Japanerin an meine Seite. Sie war wohl ihrerseits kurz davor, die Fassung zu verlieren, weil sie neben dem Jungmanager gesessen hatte. Ihr entglitt ein höflich gequältes Lächeln, als sie sich neben mir in den Sitz fallen ließ. «Das Fassungsvermögen des menschlichen Magens ist glücklicherweise begrenzt», versuchte ich meine neue Sitznachbarin zu trösten. Verstanden hat sie mich wohl nicht. Wie einfach es ist, einen erwachsenen Menschen auf das Niveau eines Dreijährigen zurückmutieren zu lassen, dachte ich bei mir. Ein paar kleine Turbulenzen in der Luft reichen schon aus, ‹gestandene Männer›, die, sobald sie festen Boden unter den Füßen haben, zu jeder Schändlichkeit bereit sind, in elende erbarmungsheischende Existenzen zu verwandeln. Von den Gesten höchster Macht zum blanken menschlichen Elend sind es scheinbar nur wenige Nervenschaltungen.

Wir überflogen den Tejo und setzten zu einer Linkskurve an. Das Flugzeug schaukelte ein wenig vor sich hin und einige Gäste preßten sich ängstlich in ihre Sitze. Auch die Japanerin neben mir. Das schwarze Band, welches Lisboa in der Nacht zerteilt, ist der Tejo, den wir jetzt von der anderen Seite, von Süden her überflogen. Die Lichter unter uns wurden größer, ich konnte Häuser und Straßen, die Stadtautobahn und eine Shell-Tankstelle erkennen. Schnell folgten die Landelichter des Flughafens und dann ein sanfter, geradezu unmerklicher Ruck. Ich war wieder in Lisboa.

Ich beeilte mich, aus dem Flugzeug herauszukommen und holte schnell meinen Koffer vom Band. Hinaus aus dem Flughafen! Hinaus aus der Ankunftshalle! Der erste Schritt nach draußen. Selbst in der Nacht spielten alle Lichter in Lisboa in zartestem Pastell und verkündeten einen ersten Frühling. Meine Spannung löste sich. Warme Luft umspülte mich, zart nach Blumen duftend. Nein, ich war nicht nach Lisboa zurückgekehrt, ich war nie fort gewesen. Die letzten Monate waren nur ein bösartiger Traum, der nun allmählich von mir abfiel. Als ich ein Taxi herangewunken und auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, fiel mir ein, daß schlimme Träume erst dann zu Ende ist, wenn man in Lisboa die Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel überstanden hat. «Nach Belem bitte», sagt ich zum Fahrer, «Rua dos Jeronimos.» Er überlegte ein wenig, stutzte, und dann fiel es ihm ein: «Ahh, Rua dos Jeronimos!» Seine Aussprache klang deutlich anders, als die meine, weiß der Himmel, was er zunächst wohl verstanden haben mag.

Das Taxi setzte sich in Bewegung. Schon nach wenigen Momenten hatte dieses dieselgetriebene Auto aus Stuttgart die doppelte zulässige Geschwindigkeit für den Stadtverkehr erreicht, und als es die Stadtautobahn hinunter ging, fuhr mein Chauffeur noch schneller. Aber eigentlich gab es keinen Grund, unruhig zu werden. Die Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern funktionierte tadellos in der Nacht – denn der Fahrer blinkte permanent mit der Lichthupe. Scheinbar stellen sich in Lisboa auch alle anderen Verkehrsteilnehmer auf die erstaunliche Fahrweise der Taxis ein.

Wohlbehalten gelangten wir nach Belem. Als ich zu später Nachtstunde endlich das Licht der Eingangshalle meines Hotels erblickte und der alte grauhaarige Portier mich wieder einmal mit einem «Hello Mr. Guedes!» begrüßte und ein «Welcome back to Lisboa!» anfügte, war ich den Tränen nahe.

Mein Zimmer lag im 2. Stock, zur Hofseite hinaus. Dumpfe Luft von Eichenhölzern und schweren Vorhängen kam mir entgegen, als ich das Zimmer betrat. Hotelzimmer im Süden riechen genau so, leicht feucht und aromatisch, denn jede Jahreszeit hinterläßt ihre Spuren. Ich öffnete das Fenster zum Hof und schaute über Dächer und Palmen in den hellen Mond. Der Nachtduft von Lisboa strömte in mein Zimmer, ein wenig Feuchtigkeit vom Tejo, eine Spur von Meeresluft und eine große Portion erster duftender Frühlingsblumen vom Land her. Langsam und bewußt atmete ich die Nachtluft ein. Was wäre, wenn die Ewigkeit genau so beschaffen wäre, dachte ich still, wenn die Ewigkeit ein Frühling in Lisboa wäre?

Doch noch bedrängten mich Erinnerungsreste dieses Freitages, der eigentlich schon seit ein paar Stunden ein Samstagmorgen in Lisboa war. Das verspätete Flugzeug nach Frankfurt, das Warten vor dem Gateway. Ich stand fast eine Stunde in einer Schlange mit Geschäftsleuten, hunderte von Menschengesichtern, deren Wichtigkeit permanent in die Augen harmloser Betrachter emanierte. Gleich hinter mir unterhielten sich ein Mann und eine Frau angeregt über die Grund- und Immobilienbesitze ihrer Familien in Frankreich. Wo, wer und warum seit Ewigkeiten Urlaub an der Cote d`Azur macht und wie sich alles zum Schlechteren verändert habe. Die angebliche Angleichung oder Demokratisierung der Lebensverhältnisse ist natürlich ein Fluch, dachte ich bei mir, wo kommen wir hin, wenn man in seinem Reichtum ständig vom einfachen Volke angegafft wird?

Nicht nur, daß ich unfreiwillig eine Bestandsaufnahme der Immobilien- und Vermögensverhältnisse von mir unbekannten Menschen erdulden mußte, nun begannen die beiden noch über ihre Zweitwohnsitze in Paris zu dozieren. Der Mann berichtete, er suche eine größere Wohnung, aber es sei ja so schwer, etwas vernünftiges zu bekommen. Es gäbe nur noch 30 qm große Wohnungen und dies sei sehr enttäuschend. Sie entgegnete, sie seien schon vor ein paar Jahren in ein Haus außerhalb von Paris gezogen und überhaupt, alle die es sich leisten könnten – sie schien alle zu kennen, die es sich leisten können – wären mittlerweile aus Paris hinausgezogen. Er wiederum sagte, diesen Gedanken habe er auch schon in Betracht gezogen, doch wäre seine Frau dagegen, weil sie mit Paris das städtische Flair verbände. Seine Gesprächspartnerin tröstete ihn, man könne auch 4- oder 5-Zimmerwohnungen in Paris bekommen, wenn man in etwa 4.000¤ im Monat anlegen und sich nicht auf den 16. Bezirk festlegen würde.

Ich war etwas irritiert und versuchte herauszufinden, welche Art von Angestelltenverhältnis das wohl sein müsse, wenn man 4.000¤ im Monat für einen Zweitwohnsitz in Paris ausgeben kann und ansonsten vom französischen Immobilienmarkt an der Cote d`Azur gelangweilt ist. Noch immer rang ich um Fassung. 4.000¤ für einen Zweitwohnsitz in Paris, der dann und wann von der gelangweilten Ehefrau bewohnt wird, die wehmütig auf die Seine herunterschaut, während sie sich am Handy bei ihrer besten Freundin in Florida über das begrenzte Leistungsverhalten ihrer algerischen Putzfrau ausläßt. Die Flüge am Freitagabend nach Frankfurt haben es in sich, und ich habe um diese Abflugzeit zu Recht stets einen großen Bogen gemacht.

Nun begann noch mein Nachbar vor mir in der Warteschlange – ich habe weiter oben schon von ihm und seinen Flugleiden berichtet – mit seinem Handy zu telefonieren. Er sprach mit einem Freund und sagte, daß er wohl erst eine Stunde später als geplant zu der Party kommen könne, weil das Flugzeug Verspätung habe. Und dann klagte er über seinen Arbeitstag, wie anstrengend alles gewesen sei, aber das er die Dinge geregelt hätte, und das er vorher darauf hingewiesen worden wäre, der Gräfin gegenüber nicht den Namen Armani zu erwähnen, weil sie höchst erzürnt gewesen sei. Ein Freitagabend in der Warteschlange für einen verspäteten Flug nach Frankfurt. Bestimmt hätten sie mich nicht mitfliegen lassen, hätte jemand in Erfahrung gebracht, daß ich nur ein einfacher Buchhalter bin.

Und während ich eingeklemmt war zwischen der Gräfin und ihrem Zorn auf Armani vor mir und dem Unglück der Demokratisierung der französischen Gesellschaft für wohlhabende Immobilienbesitzer hinter mir, fand mein Blick einen der unausweichlichen Bildschirme mit den Bildern des amerikanischen Truppenaufmarsches am Golf, präsentiert von einem dieser unaufrichtigen Nachrichtensender, der tatsächlich fragte, ob es Krieg oder Frieden im Irak geben würde. Die Schlange setzte sich in Bewegung und wir bestiegen unser Flugzeug. Freitage enden erst jenseits von Frankfurt.

Der Mond schien in dieser Nacht über Lisboa und sein Licht nahm die anstrengenden Bilder dieses Freitags von mir fort. Ich legte mich unter die Bettdecke, schaute durch das Fenster auf die zarte Nacht von Lisboa und fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

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Ein stechender Schmerz in meinen Augen weckt mich kurz nach acht Uhr am Morgen. Es ist das Sonnenlicht, das in mein Zimmer dringt und die weiße Bettwäsche leuchten und duften läßt. Ich hatte schon ein wenig vergessen, welche Kraft einfaches Sonnenlicht entfalten kann. Nur schweren Herzens kann ich mich dazu überreden, aufzustehen und zum Frühstück zu gehen.

Nach einem kleinen aber sehr heißen Bad gehe ich hinunter. Ich scheine der letzte Gast zu sein, der zum Frühstück kommt. Ich genieße das sehr. Mir fällt es schwer, andere Menschen um mich herum zu ertragen, und gerade am Morgen wird eine solche Aufgabe für mich zu einer großen Unannehmlichkeit. Lisboa scheint mich heute von solchen Aufgaben befreien zu wollen.

Ein wundervoll würziger Kaffee mit heißer Milch erinnert mich an die Lebensgeister, die einst in mir wohnten, und eine Portion Rühreier gibt mir Kraft für die Abenteuer des Tages. Ein wenig wunderlich ist es schon, daß die Eier hier in Lisboa kräftiger schmecken als bei mir zu Hause. Sie sind auch von einer anderer Farbe. Gibt es Menschen, die schon an der Farbe ihres Rühreies erkennen können, in welchem Land sie sich gerade befinden, und, wenn sie hinreichend geübt sind, sogar in welchem Hotel?

Fast eine ganze Stunde vergeht für mein Frühstück, für drei große Tassen Kaffe mit heißer Milch, Rühreier und kleinen Brötchen mit Konfitüre. Keine Zeitung, kein Radio und kein Fernseher bestürmen mich, das ganze Frühstück wird zu einem Akt rituellen Friedens, in dem sich der Duft des Kaffees wie Weihrauch mit meiner Seele verbindet, Brötchen und Konfitüre von der Schönheit der Schöpfung künden und das in den Frühstücksraum hereinleuchtende Sonnenlicht einen Lichtkranz der Heiligkeit um alles legt. Welch ein Kontrast zu der kleinen Teeküche in der Firma, die frühmorgens schon rauchgeschwängert ist, wo businessgestylte Herren mit ihren Duftschwaden selbst nur mäßig kultivierten Zeitgenossen erste Brechreize entlocken und Gesprächsthemen zwischen der Fortsetzung von Talkshows im Privatfernsehen und offen praktizierten faschistischen Ritualen zur Steigerung des Teamgeistes mäandern. Ich glaube, man kann schon am Geruch eines Ortes erkennen, welchem Gott oder Dämon die Menschen dort einen Altar errichtet haben, und an den Gesprächsinhalten ersieht und erduldet man ihre Liturgie.

Das Sonnenlicht dieses Samstagvormittages jedoch wird mir zum Licht des Herrn und weist mir den Weg aus meinen trüben Gedanken, hinfort von den Altären des Bösen in den kleinen Park von Belem, direkt am Tejo, mit Blick auf den Torre de Belem und das Monasteiro Don Jeronimos. Mein Hotel liegt genau gegenüber der Kathedrale des Klosters Jeronimos und diese Kathedrale gibt in ihrem alten Grau einen deutlichen Kontrast zu dem leuchtenden Blau des Frühlingshimmels. Scheint die Sonne, bildet die Kathedrale einen wundersamen Gegenpol zum Himmel, ist der Tag grau und verhangen, bildet sie mit dem Grau des Himmels eine Einheit, ganz so, als wolle sie Trost spenden, indem sie den Himmel herab holt. So trete ich hinaus in diesen Frühlingssamstagvormittag in Lisboa, hinaus in das Licht Gottes, die Erhabenheit seiner Schöpfung und empfange die Gnade, empfinden zu dürfen.

Myriaden kleiner hellbeiger Pflastersteine bilden Gehwege durch Lisboa. Wenn die Pflastersteine in der Sonne funkeln, ist es so, als würde man über Licht wandeln, mit jedem Schritt dem Lichte Gottes folgen. Lisboa scheint überhaupt aus Licht zu bestehen, das Licht durchtränkt jedes Haus, jede Gasse, jeden Winkel und ein jedes menschliche Gemüt. Selbst der christliche Glaube erscheint mir hier lichthafter und leichter als in jedem anderen Teil Europas, darf es da verwundern, wenn der größte christliche Wallfahrtsort, nämlich Fatima, in Portugal zu finden ist?

Dem Schweben nahe, gehe ich hinunter in den Park von Belem. Blumen und frisches Grün spielen mit den Spaziergängern, die Ölbäume stehen kurz vor der Blüte, Orangen hängen noch zwischen üppig dunkelgrünem Blattwerk und eine sanfte Brise vom Tejo verteilt alle Wohldüfte des Frühlings im Park. Ich beschließe mich auf eine Parkbank in die Sonne zu setzen, um all die Gerüche und Farben in Ruhe erfahren zu können. Gleich an der Parkbank steht ein Orangenbaum. Meine Neugier zwingt mich, durch seine Blätter zu streichen. Ein frischer, an Zitronen und Orangen gleichermaßen erinnernder Duft, entströmt seinen Blättern, fruchtig mit einer herber strohigen Note. Und jemand vergaß, diese Früchte zu ernten. Denn die Orangen sind immer noch in ihrem Grün zu finden.

Als ich mich hinsetze, bestürmt mich wieder eine Erinnerungswoge der letzten Freitagsbesprechung. Mein Vorgesetzter hatte in seinem Vortrag über Krankheiten und Schicksalsfälle auch von der Filialleiterin berichtet, die sich unter harten Entbehrungen nach oben gearbeitet hatte und nun an Krebs erkrankt war. Sie ist gerade mitte dreißig. Ich hatte davon schon etwas gehört. Das bemerkenswerte an ihrer Erkrankung war aber, daß es sich wohl um eine heilbare Erkrankung habe handeln sollen, und sie trotz ernster Anzeichen nicht zum Arzt gegangen sei, weil sie sich ihrer Arbeit so verpflichtet gefühlt habe. Letzte Woche sei sie dann wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, gezeichnet von den kriegstreibenden medizinischen Behandlungsmethoden, und man munkelt, dies wäre wohl ihr letztes Jahr.

Man könnte glauben, ihr Schicksal in einer Besprechung zu erwähnen, sei ein Akt der Anteilnahme oder Kollegialität. Weit gefehlt. Es ist das verräterische Funkeln der Augen, dieser kurze Anflug von Häme und Schadenfreude, dieses nur den Bruchteil einer Sekunde andauernde Lächeln, dieser kleinste Moment einer mimischen Inkontinenz, der die wahre Intention des Vortrages durchschimmern läßt: Der unverhoffte Triumph des ‹Schicksals› über eine verhaßte Konkurrentin.

Das warme Licht der Frühlingssonne ermuntert den Orangenbaum, immer mehr von seinem Duft ausströmen zu lassen, und der Tejo dient sich mit einer verschwenderischen feuchten Brise an, diesen Duft in der ganzen Stadt zu verteilen. So küßt der Frühling in Lisboa einen jeden mit tausend Küssen, und kein Kuß gleicht dem anderen.

Ich frage mich, wie ich wohl den Frühling verbringen würde, von dem ich annehmen müßte, es sei mein letzter? Würde ich so elend sterben wollen, wie zu leben ich gezwungen bin? Würde ich mich selber hinrichten auf den Altären nimmersatter Dämonen? Ließe ich mein letztes Zucken begleiten von geschulten Fachkräften? Nein, ich werde mich zum Sterben auf diese Bank in Lisboa setzen.

In den Duft des Orangenbaumes mischt sich eine schwebende würzige Note, die ich nicht zuordnen kann. Ich beschließe ein wenig weiter durch den Park zu wandeln und der Ursache dieses Duftes auf den Grund zu gehen. Für Blumen scheint mir dieser Duft zu schwer und zu holzig, und Pinien riechen anders, das hatte ich schon herausgefunden. Aber ich scheine nicht der einzige zu sein, der sich in der Frühlingssonne vergnügt. Dutzende Schmetterlinge spielen mit Licht und Blüten, scheinen ähnlich trunken von der Frühlingssonne zu sein wie die Menschen. Der würzige Duft wird intensiver und der Parkweg führt mich zwischen ein gutes Dutzend Ölbäume. Hier ist also der Duft des Südens zu finden: Ölbäume in der Sonne. So werden wir Menschen von den Göttern beschenkt, mit der Fülle eines Frühlingstages und tanzenden Schmetterlingen.

Ich spaziere langsam aus dem Park hinaus und gehe zu den Ufern des Tejo. Das rechte Tejo Ufer, an welchem Belem liegt, wird abwechselnd gesäumt von Yachtclubs und Denkmälern der portugiesischen Seefahrtsgeschichte. Auf der linken Seite des Tejos hingegen sieht man eine grüne Hügellandschaft, in der sich einige wenige Häuser verlieren. Der Blick aus dem Wohnzimmer eines Hauses, das auf dem linken Tejo-Ufer liegt, muß wundervoll sein: Am Tage liegt dem Betrachter eine Landschaft aus Pastell zu Füßen, am Abend verzaubert ihn ein sanftes Lichterspiel. In Paris wohnt man am schönsten über der Stadt, auf dem Montmartre oder an seinen Hängen, in Lisboa hingegen muß man am linken Ufer wohnen.

Obwohl es schon erster Frühling ist, hat das Grün der Hügel am linken Tejo-Ufer noch einen dunkelbraunen bis zuweilen schwärzlichen Unterton. Diese Farbschattierungen sind ein Hinweis, daß auch Lisboa einen Winter kennen muß, eine Jahreszeit, in der die Pflanzen bei milden Temperaturen eine Atempause einlegen, ein kurzes Ruhen nur, um der Kraft des Sommers gewachsen zu sein. Ein Winter, der mit dem Gemenge aus Matsch, Frost, Schnee und Dunkelheit, wie wir es von Oktober bis April erdulden müssen, nichts gemein hat. Südlich der Pyrenäen hat auch der Winter eine zivilisierte Note.

Die Sonne hat die Steinplatten an der Uferböschung angenehm erwärmt, und ich setzte mich am Ufer des Tejo nieder. Der Tejo ist sehr fischreich, und ab und wann zieht ein neugieriger Schwarm direkt vor mit unterhalb der Böschung vorüber. Ein Bambusstab dümpelt in den Wellen. Mir scheint, er kann sich nicht entscheiden, ob er hinaus in das weite Meer treiben möchte, oder am Ufer zur Ruhe kommen will. Die Wellen eines vorbeifahrenden Frachtschiffes treiben den Bambusstab ein wenig vom Ufer fort, die Entscheidung über das Schicksal des Bambusstabes ist vertagt.

Allmählich verspüre ich das Stechen der Sonne auf meinem Kopf, denn es ist Mittag geworden, während sich meine Gedanken im Tejo verloren. Ich beschließe, ein wenig am Ufer hinabzuspazieren und den Torre de Belem zu besichtigen. Der Torre ist eine alte Befestigungsanlage an der Einfahrt zur Mündungsbucht des Tejo, und er ist aus demselben weißgrauen Stein gebaut, wie alle Gebäude aus der manuelinischen Epoche hier in Lisboa. Man hat vom Torre ein wenig mehr Aussicht auf das Meer und den Tejo, aber bis es dazu kommt, muß man sich durch die engen Korridore und Treppenhäuser der alten Festungsanlage zwängen und viele alte Kanonen bestaunen. In einer kleinen Informationsbroschüre, die ich am Eingang zum Torre kaufe, lese ich, daß er früher einmal nicht nur Festung, sondern auch eine Art Zollstation war.

Ich blicke vom Torre lange über das Meer und den Tejo. Doch die Mittagssonne macht die Aussichtsplattformen des Torre zu einer sehr ungemütlichen Einrichtung, man kann sich kaum im Schatten verstecken und ist dem heißen und grellen Licht direkt ausgesetzt. Eigentlich sollte ich fort gehen, doch Touristen sind bekannt dafür, Naturgewalten mit dem Gleichmut von Opferlämmern zu ertragen – und manchmal erliegen sie den ihnen unvertrauten Naturkräften. Bin ich ein Tourist?

Ich gehe wieder hinunter. Als ich hinausgehe zwinkert mir die Studentin zu, die mir vorhin die Broschüre verkauft hat. Ich bin sehr überrascht. Habe ich mich in den wenigen Stunden, die ich in Lisboa weile, schon verändert? Unsinn.

Der Platz zwischen dem Torre und der Uferbefestigung ist mittlerweile vom Meer überspült, und ich muß über einen kleinen schmalen Steg gehen, um zum Eingang der Anlage am Ufer zurück zu gelangen. Ich grübele darüber nach, ob es sich bei dieser Überschwemmung nicht um die ersten Anzeichen einer Meerespiegelerhöhung handeln könnte. Oder ist es nur eine ganz harmlose Erscheinung, wie eine Uferabsenkung oder die Folgen eines vergangenen Erdbebens?

In meinem Büro in der Buchhaltung bin ich vor der Gewalttätigkeit der Natur geschützt. Nur ein kleines Fenster zeigt hinaus in die Welt, in einen kleinen engen Innenhof, der von beige-vergrauten Häuserwänden umgrenzt wird, die stets die gleiche Dunkelheit aussenden. Ob heller Sonnenschein oder ein dämmeriger Regentag, nichts vom Lichte der Natur kann diesem Innenhof etwas anhaben. Die menschliche Schaffens- und Ingenieurkunst hat zumindest in meinem kleinen Innenhof über die Natur gesiegt.

Das Grau des Innenhofes legt sich schwer in die umliegenden Hoffenster und auf das Gemüt der Mitarbeiter, wenn sie den Fehler begehen, allzuoft von ihren Schreibtischen aufzublicken und in den Hof zu schauen. In unserer Firma sagt man im Allgemeinen, die Buchhaltung sei eine eher zurückhaltende und ruhige Abteilung, ja, fast schon ein wenig schwermütig. Vielleicht besteht hier ein Zusammenhang mit dem Innenhof und seinem immer gleichbleibenden Dunkel. Ich arbeite jeden Tag des Jahres bei künstlichem Licht und manchmal erschrecke ich mich im Sommer, wenn ich am späten Nachmittag die Firma verlasse und in die immer noch helle Sonne eines Augusttages trete.

Die Geräuschkulisse am Tejo-Ufer hat sich vom Vormittag zum Mittag hin deutlich verändert. Vor kurzer Zeit war es noch fast still, doch nun entwickelt sich eine Kakophonie aus dem Gekreische von Möwen, dem Tuten von Dampfern und dem Gelärme von Touristen, insbesondere den in der heißen Mittagssonne umher tobenden Kindern. Gelegentlich sind Soloauftritte von Eltern zu beobachten, die sich entweder mit ihren Ehepartnern streiten oder versuchen, ihren in der Hitze gänzlich außer Kontrolle geratenen Nachwuchs zu bändigen. Schokoriegel, verschwitzte und verklebte Kinder und der Duft von Erfrischungstüchern gehören mit zu den Warnsignalen, die mich zu einem baldigen Verlassen der Szene auffordern und mir nahelegen, mich in ein verschwiegenes Café zu flüchten.

Auf dem Weg vom Torre zurück am Ufer entlang sehe ich immer mehr Busse mit Touristen, die hier am Tejo anhalten und ihre Touristenfracht unkommentiert nach Belem entlassen. Viele der Reisebusse kommen aus der Gegend nördlich von Lisboa, aus dem Landesinneren. Unter den Bustouristen ist eine bemerkenswerte Mischung zu beobachten, ein großer Teil von ihnen besteht aus alten, ergrauten und von ihrer Lebenslast verkrümmten Reisenden, begleitet von bemühten Töchtern, die mittlerweile die Mitte ihrer dreißiger Lebensjahre erreicht und ihre eigene Familie mitgebracht haben. So sorgen sich die Töchter unermüdlich um ihre Eltern, ihren eigenen Nachwuchs und die etwas hilflos in der Szenerie verweilenden Ehemänner. Es scheint, daß sowohl Kinder als auch Ehemänner mit ihren Spielzeugen, in der Form von Süßkram oder Videokameras, vom eigentlichen Familiendrama abgelenkt werden.

Mich zieht es zum Tejo zurück, zu der Stelle, an der ich den Bambusstab im Wasser gesehen hatte. Ich bin überrascht und glücklich, denn der Bambusstab ist immer noch da. Etwas weiter flußabwärts, nur wenig entfernt von der Stelle, an der ich ihn verließ, treibt er ruhig in einem großen Kreis auf dem Wasser des Tejo. Ich schaue ihm eine Weile zu. Er hat sich offensichtlich immer noch nicht entschieden, wie es mit ihm weitergehen soll. Mal läßt er sich an das Ufer treiben, mal in die Richtung des offenen Meeres. Er scheint abzuwarten, was der nächste Moment, die nächste Welle, die nächste Strömung ihm bringen werden. Und jetzt ertönt weit über den Tejo hinweg das tiefe, schwere, rauhe Tuten eines voll beladenen Containerschiffes, das seinen Weg hinaus auf das offene Meer sucht.



Erstellt: 24. April 2003 – letzte Überarbeitung: 24. April 2003
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