BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Zusehen»
von Lisa Blausonne
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Sie scheint es eilig zu haben, huscht von einem Raum, den ich von hier, in etwa drei Metern Entfernung, besonders gut sehen kann, zum nächsten – und wieder zurück. Sie hantiert herum. Ich kann aus der Entfernung nicht genau erkennen, was sie so macht, zumal der eine Raum, der linke, in den ich nicht gut schauen kann, durch helle, gelbe Vorhänge verschlossen bleibt. Abenddämmerung. Es wird bereits dunkel in dieser Stadt, in der es so viele Menschen eilig haben. Ich habe es heute abend überhaupt nicht eilig, ja ich bin wundersam friedlich, mild und dem Leben zugeneigt. Und genieße das; diese Befindlichkeit, dieser Zustand ermöglicht mir ein staunendes Betrachten der regen Welt um mich herum. Ein seltenes Geschenk.

Sie ist etwas über 30 und mittelgroß. Sie hat einen klassischen Pagenkopf, blond, und trägt irgendein schwarzes Oberteil. Sie zeigt gerade nackte Beine. Ich kann von meinem sicheren Standpunkt einiges sehen: Die Wohnung ist großzügig geschnitten, Parkettboden. Ich kann förmlich die Klaviermusik hören, die in diese Szene passen würde. Ich sehe, wie sie den Kleiderschrank öffnet und später die Schubladen aus der Kommode neben dem Schrank herauszieht und durchwühlt. Dann schaut sie in ihre Spiegel und dreht sich ein wenig hin und her, wohl um sich genauer betrachten zu können. Ich sehe, daß sie sich schön findet und bin amüsiert darüber, nein, eher gerührt. Jetzt eilt sie in den anderen, linken Raum und ich sehe ihre Gestalt nur schemenhaft durch hellgelben Nebel wirken. Gut, daß sie Licht angemacht hat. Sie bindet sich, halbgebeugt, etwas an ihr Handgelenk. Eine Uhr oder Schmuck. Es ist wohl eine Uhr, da sie es links umbindet. Sie hetzt wieder nach rechts, ah, jetzt sehe ich klarer.

Ich stehe auf dem Balkon im dritten Stock, gegenüber von ihr. Sie wohnt im zweiten Stock; jetzt geht sie auf ihren großen Balkon, der zur Straße heraus, also in meinem Blickfeld liegt. Schon geht sie wieder ins Haus. Mich sieht sie nicht. Zu hoch die Gebäude hier, in Berlin. Und vielleicht zu viele grüne Pflanzen auf ihrem Balkon. Gedankenverloren streife ich mit meinem Handrücken über mein Gesicht, versunken in der Betrachtung. Dann denke ich, daß genau das bescheuert aussehen muß; aber mir fällt ein, daß ich diese Geste auch schon bei anderen Menschen gesehen habe. Ich blicke immer noch hinüber: Was macht sie? Wer liebt sie? Wen liebt sie? Ist sie, ich muß lächeln, glücklich?

Wabernde Großstadtgeräusche wehen von unten an mein Ohr, wie durch ein dunkles Baumwolltuch: Gedämpft, dumpf, weich, nichtssagend. Ich habe hier nicht wirklich etwas zu tun; ich bin nur zu Besuch bei Freunden, die gerade unterwegs sind. Ich warte, bis sie wiederkommen, um mit ihnen den Wein zu trinken, den ich eben kühl gestellt habe. Früher stand ich auf Balkonen herum, um zu rauchen. Jetzt rauche ich nicht mehr, habe also keinen erzählbaren Grund mehr, hier rumzustehen. Ich komme mir wie ein Spanner vor. Dabei ist es nur ein zäher Wunsch, in ein anderes Leben zu schauen, ohne selbst gesehen zu werden, ohne agieren zu müssen, ohne zu reden, ohne wirklich im blauen Schlamm des Gegenübers zu wühlen, wenn er seine Historie ausplaudert. Und ohne sich selbst dabei preiszugeben. Nur sehen, unverschämt schauen. Auch mich vergleichen und dabei sehen, welche Tragweite unsere Kultur hat. Sie alle, 1000 Menschen hinter 1000 Fenstern leben gar nicht anders als ich. Sie erzählen sich selbst wahrscheinlich nur andere Geschichten. Oder erzählen sie sich meine Geschichte!?

Jetzt zieht der Pagenkopf die rechte Fensterfront mit einem Ruck zu. Eine Hand schiebt ein schwarzes Oberteil durch die Vorhänge. Ein Kaschmirpulli. Jetzt hängt er an einer Stange zwischen den Fenstern und baumelt im lauen Abendwind; er lüftet aus, das ist sein Job im Moment. Schade. Die Vorstellung ist zu Ende. Wie leicht ist es, in eine fremde, in eine neue Identität hineinzuschlüpfen und sich eine neue Geschichte über sein Leben zu erzählen? Ich weiß es nicht. Aber schön ist es.



Erstellt: 8. Dezember 2000 – letzte Überarbeitung: 8. Dezember 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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