BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Keine andere»
von Lisa Blausonne
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Ich muss spülen. Draußen geht die Sonne unter und ich sehe es nur aus den Augenwinkeln. Flüchtig fällt mir ein, wann ich dieses Schauspiel das letzte Mal sah. Auf einem Felsen, draußen, in einem anderen Land, schwarzes Meer zu meinen Füßen, Campari in meinen Händen, ein jemand neben mir, den es nicht mehr gibt.

Tiergeräusche von draußen lassen jetzt den Frühling vermuten; Jazz-Klänge aus der Nebenwohnung sind leise genug, um sie zu überhören; laut genug, um zu wissen, dass ich in der Stadt bin. Ich rauche und stehe nun auf dem Balkon im fünften Stock. Es ist kalt. Blick auf Dächer und Grünwiesen. Ein bekanntes Bild.

Gestern. Du sprachst mit mir über Arvo Pärt. Eine Klaviermusik, sagtest Du, die durch einen Film Assoziationen mit Bildern erweckt, die Du nicht sehen willst, gegen die Du aber kaum etwas anderes tun kannst, als die Musik auszustellen. Wir reden nicht über gemeinsame Erfahrungen, sprechen nie darüber, wie wir unsere Tage füllen. Über kein Machen, nur über Gedanken; manchmal nur über Meinungen. Verhindern wir so eine gemeinsame Welt außerhalb unserer Treffen? Konstituiert sich Miteinander über Erfahrungen? Sind gemeinsame Gedanken keine Erfahrungen? Wir teilen keinen Kontext, außer manchmal die sechs Quadratmeter meines Balkons. Unsere Treffen sind ohne jede soziale Verbundenheit.

Wir kochen etwas gegen Mitternacht. Ein Omelett mit Zimt und dunklen Bananen. Wir wundern uns nicht, wo sie herkommen, wer sie gepflückt hat. Es scheint ‹in› zu sein, die Eier mit einer Hand aufschlagen zu können. Ich schaffe das nicht. Ich möchte auch nicht gefallen. Draußen sehe ich jetzt, heute, gegen den rostroten Himmel ein Flugzeug, das geräuschlos an den Nachbardächern entlang zu streifen scheint. Wollen wir fortgehen, weil wir woanders sein möchten oder weil wir das hier fliehen?

«Ich habe keine Ziele, nur eine Richtung.» Du redest von Dir, ich frage Dich und frage mich, ob ich eine Welt außerhalb überhaupt aushalten würde. Ich bin nicht Deine andere.

Es gibt den Moment, manchmal. Eine Hand, die mich nicht halten will. Ein Blick, der sich in meinem Gesicht verirrt. Es sind nicht diese Momente, die die Sehnsucht herstellen, sobald Du aus meiner Gewohnheit verschwindest. Bist Du fort, und ich weiß nicht, was Du zu tun hast, bleibt ein Fragezeichen zwischen meinen Wänden hängen. Und dann muss ich lachen. Es wird nicht wirklich warm heute.

Meine Augen trinken den Mondschein, hellsilbrig. Morgen ist ein freier Tag; ich will eigentlich nicht mehr in Parks 'rumhängen und Ingeborg Bachmann lesen, will nicht mehr milchkaffeetrinkend die Cafés bevölkern. Und sowieso nicht mehr rauchen. Aber mir fällt nichts anderes ein, außer mich dem Gefühl hinzugeben, in der falschen Welt kein richtiges Leben führen zu können. Ich frage mich, ob ich etwas verloren habe, was ich nie besessen hatte.



Kommentare:


14. Mai 2002

Liebe Lisa Blausonne,
ich bin bei dem mehrmaligen Lesen Deines Artikels immer wieder auf das gleiche Gefühl bei mir gestoßen. Das möchte ich Dir mitteilen, und mit Dir teilen. Melancholie. Traurigsein über diese Zerrissenheit, dieser Blick in den Abgrund, den wir alle spüren und den niemand auszusprechen wagt. Es ranken sich unzählige Romane um das Thema, was ich nicht nur mit Liebe und Sehnsucht betiteln möchte. Ich weiß nicht, warum Glück und Trauer, Illusion und Erkenntnis so nah beieinander sein müssen. Die Gewißheit des ewigen Alleinseins, des «Ich gehe meinen Weg sowieso allein!» und dann doch dieses Bachmannsche «Ich will dich sofort hierhaben!». Sich in dem anderen verlieren zu wollen, eine Verbindung herstellen zu wollen, die die Endlichkeit überwindet und negiert. Eine gemeinsame Welt aufzubauen und den anderen zu brauchen, wie die Luft zum atmen: Dieser Phantasie sich hinzugeben, das ist der Weg, den ich wähle, auch wenn ich «kein Ziel damit verfolge» – es mag auch nur eine Richtung sein, aber sie gibt mir das Gefühl, in dieser Welt etwas verloren zu haben.
Und nochmals Ingeborg Bachmann (aus Malina):
«Etwas Immenses ist durch ihn in mich gekommen und strahlt aus mir, immerzu bestrahle ich die Welt, die es nötig hat, von diesem einen Punkt aus, an dem nicht nur mein Leben sich zentriert, sondern mein Wille gut zu leben, um wieder brauchbar zu sein, denn ich möchte, daß er mich braucht, wie ich ihn brauche, und für das ganze Leben.»
Liebe Grüße
Lina Silberfaden



Erstellt: 7. April 2002 – letzte Überarbeitung: 14. Mai 2002
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